Urteil Nr. B 1 KR 13/22 R des Bundessozialgericht, 2023-08-29
Judgment Date | 29 Agosto 2023 |
ECLI | DE:BSG:2023:290823UB1KR1322R0 |
Judgement Number | B 1 KR 13/22 R |
Court | Der Bundessozialgericht (Deutschland) |
Auf die Revision der Klägerin werden die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 24. Mai 2022 und des Sozialgerichts Speyer vom 25. Oktober 2021 sowie der Bescheid der Beklagten vom 1. Juli 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. August 2019 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 2518,72 Euro zu zahlen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Die Beteiligten streiten um die anteilige Erstattung der Kosten einer Kinderwunschbehandlung.
Die 1983 geborene Klägerin ist seit Mai 2019 bei der beklagten Krankenkasse (KK) krankenversichert. Ihr 1982 geborener Ehemann ist zu 50 vH beihilfeberechtigt und im Übrigen privat krankenversichert.
Die Klägerin beantragte am 3.6.2019 unter Vorlage eines Behandlungsplans und eines Kostenvoranschlags die Kostenübernahme für Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung mittels Intracytoplasmatischer Spermieninjektion (ICSI) wegen der Fertilitätsstörung ihres Ehemanns. Beide hatten bereits im März 2019 einen erfolglosen Versuch einer künstlichen Befruchtung unternommen.
Die damalige KK der Klägerin hatte am 4.2.2019 eine Kostenbeteiligung von 50 vH der der Klägerin zuzuordnenden Behandlungskosten im Rahmen der Kinderwunschbehandlung einschließlich Medikamentenkosten für drei Versuche bewilligt. Die private Krankenversicherung des Ehemannes der Klägerin hatte am 15.2.2019 die Kostenübernahme für drei Versuche zugesagt; die Beihilfestelle hatte eine Kostenübernahme abgelehnt, weil die Aufwendungen allein der Klägerin und nicht ihrem Ehemann zuzuordnen seien. Für den ersten Versuch erstattete die private Krankenversicherung des Ehemannes der Klägerin, abgesehen von der Beanstandung zweier Rechnungspositionen, die Hälfte der angefallenen Kosten.
Am 27.6.2019 ging ein korrigierter Behandlungsplan bei der beklagten KK ein, auf dem nunmehr die Anzahl der erfolgten Behandlungen mit "1" angegeben war. Diese lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 1.7.2019, Widerspruchsbescheid vom 21.8.2019). Die private Krankenversicherung des Ehepartners der Klägerin übernehme bereits 50 vH ihrer Behandlungskosten. Der Klägerin verbleibe der grundsätzliche hälftige Eigenanteil. Die Klägerin ließ die zweite Kinderwunschbehandlung in der Zeit von Juli bis September 2019 durchführen. Hierfür sind ihr und ihrem Ehemann Kosten in Höhe von insgesamt 5037,44 Euro in Rechnung gestellt worden. Die private Krankenversicherung des Ehemannes der Klägerin erstattete davon unter Kürzung eines tariflich vereinbarten Eigenanteils für Arzneimittel 2441,45 Euro.
Das SG hat die Klage auf Kostenerstattung für die zweite Kinderwunschbehandlung in Höhe von 2518,72 Euro abgewiesen (Urteil vom 25.10.2021). Über das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen nach § 27a SGB V bestehe zwischen den Beteiligten zu Recht kein Streit. Indem die private Krankenversicherung des Ehemannes der Klägerin jedoch die Hälfte der Gesamtkosten dem Grunde nach erstattet habe, habe sie Kosten in der Höhe des Freistellungsanspruchs der Klägerin gegenüber der beklagten KK übernommen. Dadurch sei deren Schuld erloschen bzw erstattungsfähige Aufwendungen lägen nicht mehr vor. Der gesetzlich vorgesehene verbleibende Eigenanteil der Klägerin an den Kosten für eine künstliche Befruchtung verletze sie auch nicht in ihren Grundrechten. Die Ehegatten stünden im Ergebnis nicht anders, als wären beide gesetzlich krankenversichert. Das LSG hat die Berufung unter Verweis auf die Entscheidungsgründe des SG gemäß § 153 Abs 2 SGG zurückgewiesen (Urteil vom 24.5.2022).
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der §§ 13 Abs 3 und 27a SGB V. Aus § 27a SGB V ergebe sich nicht, dass der Patient in jedem Falle 50 vH der Kosten selbst tragen müsse, vielmehr werde der Leistungsumfang der gesetzlichen KK unabhängig vom zusätzlichen Eintreten einer privaten Krankenversicherung auf 50 vH beziffert. Eine andere Beurteilung führte dazu, dass die Leistungen der privaten Krankenversicherung wirtschaftlich nicht den Ehegatten, sondern der Versichertengemeinschaft der gesetzlichen KKn dienten. Für eine derartige Auslegung finde sich weder im Wortlaut der Norm eine Stütze, noch sei ersichtlich, dass der Gesetzgeber bezweckt habe, dass eine private Krankenversicherung für die Schuld einer gesetzlichen KK einstehen solle. Die Entscheidung des BSG vom 17.6.2008 (B 1 KR 24/07 R) stütze dies nicht. Denn es sei nicht von zwei sich überschneidenden, sondern von sich ergänzenden Ansprüchen auszugehen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 24. Mai 2022 und das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 25. Oktober 2021 sowie den Bescheid der Beklagten vom 1. Juli 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. August 2019 aufzuheben und die Beklagte zur Zahlung von 2518,72 Euro zu verurteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
EntscheidungsgründeDie zulässige Revision der Klägerin ist begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Das LSG hat die Berufung der Klägerin gegen das klageabweisende Urteil des SG zu Unrecht zurückgewiesen.
Die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 4 SGG) ist begründet. Der Bescheid vom 1.7.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.8.2019, mit dem die Beklagte die unter Vorlage eines Behandlungsplans beantragte Kostenübernahme abgelehnt hat, ist rechtswidrig. Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Erstattung von 50 vH der geltend gemachten Kosten der Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft aus § 27a SGB V beim zweiten Befruchtungsversuch. Ihr Anspruch ist nicht durch die Übernahme von dem Grunde nach 50 vH ihrer Behandlungskosten durch die private Krankenversicherung ihres Ehemannes erloschen.
Rechtsgrundlage für die Erstattung der Kosten ist § 13 Abs 3 Satz 1 Fall 2 SGB V. Hat die KK danach eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der KK in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Dieser Kostenerstattungsanspruch reicht nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch; er setzt daher voraus, dass die selbstbeschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die KKn allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben (stRspr; vgl aus jüngerer Zeit etwa BSG vom 10.3.2022 - B 1 KR 2/21 R - juris RdNr 8; zu den Besonderheiten eines Sachleistungsanspruchs mit vorgelagertem Genehmigungserfordernis BSG vom 10.11.2022 - B 1 KR 9/22 R - juris RdNr 12). Die Klägerin erfüllt die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Leistungen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft nach § 27a SGB V in der am 1.1.2004 in Kraft getretenen Fassung des GKV-Modernisierungsgesetzes (GMG) vom 14.11.2003 (BGBl I 2190; dazu 1.) und der Anspruch besteht auch im geltend gemachten Umfang (dazu 2.).
1. Die Klägerin hat Anspruch auf Leistungen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft. § 27a SGB V setzt als Grund für einen Anspruch auf Leistungen der künstlichen Befruchtung nur die Unfruchtbarkeit des Ehepaares voraus. Welche Umstände die Infertilität verursachen und ob ihr eine Krankheit im krankenversicherungsrechtlichen Sinne zugrunde liegt, ist unerheblich. Nicht die Krankheit, sondern die Unfähigkeit des Paares, auf natürlichem Wege Kinder zu zeugen, und die daraus resultierende Notwendigkeit einer künstlichen Befruchtung bilden den Versicherungsfall (stRspr; vgl BSG vom 12.9.2015 - B 1 KR 15/14 R - SozR 4-2500 § 27 Nr 27 RdNr 13). Nach § 27a Abs 1 SGB V...
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