Urteil Nr. B 11 AL 16/18 R des Bundessozialgericht, 2019-12-10

Judgment Date10 Diciembre 2019
ECLIDE:BSG:2019:101219UB11AL41
Judgement NumberB 11 AL 16/18 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Sozialgerichtliches Verfahren - Verfahrensfehler im Berufungsverfahren - Zurückweisung durch Beschluss - vorherige Anhörung der Beteiligten - Änderung der Prozesslage - Erfordernis der erneuten Anhörung - objektive Betrachtung - formelle Rechtmäßigkeit eines Aufhebungsbescheides - absoluter Revisionsgrund
Leitsätze

Ob eine Änderung der Prozesslage eingetreten ist, die eine erneute Anhörung der Beteiligten zur beabsichtigten Zurückweisung der Berufung durch Beschluss erforderlich macht, beurteilt sich aus der objektiven Sicht eines Beteiligten.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird der Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 16. Januar 2018 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

Streitig ist die Aufhebung der Bewilligung von Alg wegen der Teilnahme an einem berufsbezogenen Sprachkurs.

Der Kläger ist aus Russland nach Deutschland übergesiedelt und war zuletzt als Bauhelfer versicherungspflichtig beschäftigt. Nach Bewilligung von Alg ab 1.2.2014 für 360 Kalendertage (Bescheid vom 4.3.2014) durch die Beklagte lehnte er die Teilnahme an einer Gruppenveranstaltung der Arbeitsverwaltung im November 2014 ab. Als Begründung hierfür gab er an, dass er an einem berufsbezogenen Sprachkurs "Bürokompetenz für kaufmännische Berufe - Neustart in den Beruf 9" (im Folgenden: Maßnahme) teilnehme. Die Maßnahme dauerte vom 1.8.2014 bis 28.2.2015; sie war mit Unterrichtszeiten von montags bis freitags jeweils von 9.00 Uhr bis 14.15 Uhr verbunden. Die Beklagte hob die Bewilligung von Alg rückwirkend ab August 2014 auf (Bescheid vom 26.11.2014; Widerspruchsbescheid vom 16.12.2014).

Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 26.9.2017). Im Berufungsverfahren hat die Beklagte an den Kläger und seinen Bevollmächtigten mehrere Schreiben gesandt, nach deren Inhalt das zu Unrecht unterlassene Verfahren der Anhörung zur Aufhebung der Alg-Bewilligung nachgeholt werden solle (Schreiben vom 29.11.2017; Abschlussmitteilung vom 3.1.2018). Hierzu hat der Kläger vorgetragen (Schreiben vom 17.1.2018). Zeitgleich hat ihn das LSG mit dem die Bewilligung von PKH ablehnenden Beschluss vom 29.11.2017 dazu angehört, die Berufung durch Beschluss zurückzuweisen. Sodann hat es die Berufung durch Beschluss der Berufsrichter ohne mündliche Verhandlung zurückgewiesen (Beschluss vom 16.1.2018). Das BSG habe bereits entschieden, dass die Teilnahme an einer ganztägigen beruflichen Weiterbildung in der Regel eine gleichzeitige Verfügbarkeit ausschließe (§ 139 Abs 3 SGB III). Auch habe die Beklagte einer Teilnahme an der Maßnahme, deren fehlende Eignung für den Kläger sie plausibel in Abrede gestellt habe, nicht zugestimmt. Unter Berücksichtigung seiner intellektuellen Möglichkeiten habe er wegen des Erhalts des Merkblatts 1 für Arbeitslose wissen oder bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt erkennen können, dass sein Anspruch auf Alg entfallen sei. Der Aufhebungsbescheid leide nicht an formalen Mängeln, weil die erforderliche Anhörung durch ein förmliches Verfahren jedenfalls im Berufungsverfahren nachgeholt worden sei.

Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör. Die Schreiben der Beklagten zur nachgeholten Anhörung seien erst am 10.1.2018 bei seinem Bevollmächtigten eingegangen. Er habe auf eine angemessene Stellungnahmefrist vertrauen dürfen. Das LSG sei verpflichtet gewesen, bei der gerichtlichen Entscheidung den Inhalt seines Schriftsatzes vom 17.1.2018 zu beachten, der dort am gleichen Tag eingegangen sei. Unter Berücksichtigung des hierin enthaltenen Beweisantrags habe es noch Zeugen vernehmen müssen. Es bestehe die Möglichkeit, dass er bei einer Sachentscheidung obsiege. Während des Besuchs der berufsbezogenen Sprachförderung sei er verfügbar gewesen.

Der Kläger beantragt,
den Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 16. Januar 2018 sowie das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 26. September 2017 und den Bescheid vom 26. November 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Dezember 2014 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Sie hat sich der Begründung des LSG angeschlossen. Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör liege nicht vor.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG), denn das LSG hätte nicht durch Beschluss nach § 153 Abs 4 SGG entscheiden dürfen.

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist - neben den Entscheidungen der Vorinstanzen - der Bescheid vom 26.11.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.12.2014, mit dem die Beklagte die Bewilligung von Alg ab 1.8.2014 aufgehoben hat. Der Kläger greift die Bescheide zu Recht mit der isolierten Anfechtungsklage an (§ 54 Abs 1 SGG). Wegen der bindenden Bewilligung von Alg für den hier streitbefangenen Zeitraum ab 1.8.2014 mit Bescheid vom 4.3.2014 bedurfte es keiner damit verbundenen Leistungsklage (vgl nur BSG vom 3.5.2018 - B 11 AL 2/17 R - BSGE 126, 25 = SozR 4-4300 § 159 Nr 6, RdNr 10).

Es liegt eine Verletzung des § 153 Abs 4 SGG vor. Nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG kann das LSG die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Nach § 153 Abs 4 Satz 2 SGG sind die Beteiligten vorher zu hören. Die Anhörungspflicht ist Ausdruck des verfassungsrechtlichen Gebots des rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG), das bei Anwendung des vereinfachten Verfahrens im Berufungsrechtszug nicht verkürzt werden darf (vgl BSG vom 17.9.1997 - 6 RKa 97/96 - SozR 3-1500 § 153 Nr 4 S 11 f mwN; BSG vom 21.6.2000 - B 4 RA...

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