Urteil Nr. B 11 AL 2/20 R des Bundessozialgericht, 2020-10-14

Judgment Date14 Octubre 2020
ECLIDE:BSG:2020:141020UB11AL220R0
Judgement NumberB 11 AL 2/20 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Förderung der Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben - Ausbildungsgeld - Anrechnung von Elterneinkommen - Anwendbarkeit der Härtefallregelung des § 25 Absatz 6 BAföG - außergewöhnliche Belastungen - Erhöhung des Einkommensfreibetrags - Ermessensausübung
Leitsätze

Die Härtefallklausel des Bundesausbildungsförderungsrechts bzgl der Berücksichtigung von Elterneinkommen ist auch bei der Entscheidung über die Gewährung von Ausbildungsgeld anwendbar.

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 11. Dezember 2019 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Revisionsverfahren.

Tatbestand

Streitig ist die Gewährung von Ausbildungsgeld nach dem SGB III.

Bei dem 1998 geborenen Kläger ist eine Schwerbehinderung anerkannt. Er lebt mit seiner Mutter und seinem Bruder zusammen sowie mit dem Ehemann der Mutter, der nicht der Vater des Klägers ist. Der 1990 geborene Bruder des Klägers und seine Mutter sind ebenfalls als Schwerbehinderte anerkannt. Am 3.8.2015 begann der Kläger eine Ausbildung zum "Fachinformatiker Systemintegration", die nach dem Berufsausbildungsvertrag vom 3.8.2015 am 2.8.2018 enden sollte. Der Kläger und die Ausbildungsstätte hoben den Ausbildungsvertrag in beiderseitigem Einvernehmen mit Wirkung zum 21.7.2017 auf.

Für diese Ausbildung beantragte der Kläger bei der Beklagten die Bewilligung von Ausbildungsgeld, was die Beklagte ablehnte (Bescheid vom 1.9.2015). Während des Vorverfahrens machte der Kläger insbesondere die Berücksichtigung von Steuerfreibeträgen geltend und verlangte einen Härtefreibetrag bzw die Anrechnung außergewöhnlicher Belastungen nach § 25 Abs 6 BAföG. Die Beklagte lehnte die Gewährung von Ausbildungsgeld nach erneuten Prüfungen wiederholt ab (Bescheide vom 20.10.2015, vom 6.4.2016 und vom 14.4.2016). Sodann wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 20.10.2015 zurück (Widerspruchsbescheid vom 18.4.2016). Das zu berücksichtigende Einkommen der Mutter übersteige den Bedarf des Klägers. Die Freibeträge seien in § 126 Abs 2 Nr 2 SGB III abschließend geregelt und schlössen die Härtefallregelung des § 25 Abs 6 BAföG aus. Die Beklagte wies auch den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 6.4.2016 zurück (Widerspruchsbescheid vom 25.8.2016).

Im Klageverfahren hat der Kläger zunächst beantragt, ihm für die Zeit vom 3.8.2015 bis 31.1.2017 Ausbildungsgeld zu zahlen; zuletzt hat er nur eine Verurteilung zur Neubescheidung beantragt. Das SG hat die Beklagte unter Abänderung der angegriffenen Bescheide verurteilt, über den Antrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden (Urteil vom 19.2.2019). Nach § 122 Abs 2 SGB III iVm § 67 Abs 2 Satz 1 SGB III iVm § 25 Abs 6 BAföG könne zur Vermeidung unbilliger Härten auf besonderen Antrag, der vor dem Ende des Bewilligungszeitraums zu stellen sei, ein weiterer Teil des Einkommens der Eltern und des Ehegatten anrechnungsfrei bleiben. Einen entsprechenden Antrag habe der Kläger gestellt, so dass die Bewilligung eines weiteren anrechnungsfreien Betrages im Ermessen der Beklagten stehe.

Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 11.12.2019). Die Beklagte habe zu Unrecht keine Ermessensentscheidung über die Erbringung von Leistungen im Hinblick auf einen Härtefall iS des § 25 Abs 6 BAföG getroffen.

Hiergegen richtet sich die vom LSG zugelassene Revision der Beklagten. § 126 Abs 2 Nr 2 SGB III sei eine abschließende Regelung, die den behinderungsbedingten Besonderheiten Rechnung trage, und stehe der Anwendung der Härtefallklausel des § 25 Abs 6 BAföG entgegen. Das Ausbildungsgeld sei keine Entgeltersatzleistung. Es diene nicht der Abgeltung eines behinderungsbedingten Mehrbedarfs, sondern ausschließlich der (ausbildungsbedingten) Bedarfsdeckung. Dies habe den Gesetzgeber dazu bewogen, auf das Ausbildungsgeld das eigene Einkommen und das der Eltern und Ehegatten oberhalb fester Freibeträge anzurechnen.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 11. Dezember 2019 und das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 19. Februar 2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Der Kläger verteidigt die angegriffene Entscheidung.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Das LSG hat die Berufung der Beklagten zu Recht zurückgewiesen, nachdem das SG die Beklagte unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide zur Neubescheidung verpflichtet hatte.

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Bescheid vom 1.9.2015 in der Fassung der gemäß § 86 Halbsatz 1 SGG in das Vorverfahren einbezogenen Bescheide vom 20.10.2015, vom 6.4.2016 und vom 14.4.2016, mit denen jeweils die Gewährung von Ausbildungsgeld (erneut) abgelehnt worden ist, diese wiederum in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.4.2016. Der Widerspruchsbescheid vom 25.8.2016 hätte nicht erlassen werden dürfen, da der Bescheid vom 6.4.2016 bereits Gegenstand des Vorverfahrens gegen den Bescheid vom 1.9.2015 geworden war. Eine zusätzliche Beschwer des Klägers ist damit aber nicht verbunden.

In zeitlicher Hinsicht streitgegenständlich ist die Zeit vom 3.8.2015 bis zum 31.1.2017, da sich die Klage nur auf diesen Zeitraum erstreckt hat. Ob neue Anträge auf Gewährung von Ausbildungsgeld während eines noch laufenden Verwaltungs- oder Vorverfahrens ebenso wie im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende (vgl insofern nur BSG vom 28.10.2009 - B 14 AS 62/08 R - juris RdNr 17) eine Zäsur bilden und den Streitgegenstand in zeitlicher Hinsicht begrenzen, kann hier dahinstehen. Denn die vom Kläger während des Vorverfahrens übermittelten Schreiben zielten ersichtlich nicht auf eine neue Antragstellung, sondern auf die Änderung der ursprünglichen Verwaltungsentscheidung von Anfang an, die die Beklagte nach jeweils erneuter Sachprüfung abgelehnt hat.

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nicht, ob der Kläger einen Anspruch auf Ausbildungsgeld hat, sondern nur, ob er einen Anspruch gegen die Beklagte auf Neubescheidung seines Antrags hat. Nur dies war Gegenstand des Antrags des Klägers vor dem SG in der mündlichen Verhandlung; das SG hat auch nur hierüber entschieden.

2. Der Kläger hat einen Anspruch auf Neubescheidung seines Antrags.

a) Gemäß § 122 Abs 1 Nr 1 SGB III haben behinderte Menschen Anspruch auf Ausbildungsgeld unter anderem während einer Berufsausbildung. Das Ausbildungsgeld dient der Sicherung des Lebensunterhaltes während der Teilnahme an Ausbildungsmaßnahmen (Jenak in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB III, 2. Aufl 2019, § 122 RdNr 13 mwN; Siefert in Hauck/Noftz, SGB III, § 122 RdNr 2, Stand Dezember 2019; vgl auch BSG vom 23.3.2010 - B 8 SO 17/09 R - BSGE 106, 62 = SozR 4-3500 § 82 Nr 6, RdNr 24 ff). Nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG war der Kläger dem Grunde nach leistungsberechtigt. Insbesondere absolvierte er in der Zeit vom 3.8.2015 bis 21.7.2017 eine Berufsausbildung; auch war bei ihm ein GdB von 70 anerkannt.

b) Im Ergebnis zutreffend haben die Vorinstanzen entschieden, dass auch bei der Gewährung von Ausbildungsgeld die Härtefallklausel des § 25 Abs 6 Satz 1 BAföG Anwendung finden kann. Nach dieser Norm kann zur Vermeidung unbilliger Härten auf besonderen Antrag, der vor dem Ende des Bewilligungszeitraums zu stellen ist, abweichend von den vorstehenden Vorschriften ein weiterer Teil des Einkommens anrechnungsfrei bleiben.

Die Anwendbarkeit des § 25 Abs 6 BAföG folgt allerdings nicht schon daraus, dass diese Norm einen "allgemeinen Rechtsgrundsatz" enthielte. Grundsatznormen sind Normen, die - etwa als Einweisungsvorschriften - insbesondere den Gesetzeszweck beschreiben und denen interpretationsleitende Bedeutung für die Auslegung anderer Normen zukommen kann (so etwa §§ 1 bis 11 SGB III; vgl etwa für § 2 Abs 2 SGB II BSG vom 19.3.2020 - B 4 AS 1/20 R - juris RdNr 28; vgl zu dieser Kategorie auch Höger, Die Bedeutung von Zweckbestimmungen in der Gesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland, 1976; Schneider, Gesetzgebung, 3. Aufl 2002, § 11 RdNr 327 f) oder die für Ausübung behördlichen Ermessens relevant sein können (so etwa § 7 SGB III), die aber selbst keine unmittelbare Rechtsfolge herbeiführen. Um eine solche Grundsatznorm handelt es sich bei § 25 Abs 6 BAföG nicht, sondern vielmehr um eine Regelungsnorm, also eine an Tatbestandsvoraussetzungen anknüpfende Rechtsfolgenanordnung. Einer Verallgemeinerung solcher bereichsspezifischen Regelungen steht der Vorbehalt des Gesetzes entgegen...

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