Urteil Nr. B 11 AL 12/21 R des Bundessozialgericht, 2022-11-29

Judgment Date29 Noviembre 2022
ECLIDE:BSG:2022:291122UB11AL1221R0
Judgement NumberB 11 AL 12/21 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. März 2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand

Im Streit ist die Auszahlung von Arbeitslosengeld (Alg) für die Zeit vom 11.6. bis 30.6.2015, das die Beklagte wegen eines Erstattungsanspruchs des beigeladenen Jobcenters einbehalten hat.

Der 1989 geborene Kläger bezog vom Beigeladenen während seiner bis zum 10.6.2015 dauernden Ausbildung bis Mai 2015 aufstockend Arbeitslosengeld II (Alg II) iHv monatlich 378,39 Euro (Bescheid vom 18.12.2014). Für Juni 2015 bewilligte ihm der Beigeladene Alg II iHv insgesamt 555,35 Euro (Bescheid vom 10.7.2015).

Der Kläger meldete sich bei der Beklagten bereits am 3.9.2013 arbeitsuchend und am 27.4.2015 arbeitslos mit Wirkung zum 11.6.2015. Diese bewilligte ihm Alg auf Grundlage einer fiktiven Bemessung für die Dauer von 300 Tagen ab dem 11.6.2015 (Bescheid vom 1.7.2015). Den täglichen Leistungsbetrag setzte sie für die Zeit vom 11.6. bis 31.7.2015 unter Hinweis auf einen vorläufigen Erstattungsanspruch eines Leistungsträgers auf Null Euro, für die Zeit ab dem 1.8.2015 auf 26,38 Euro fest. Den vom Beigeladenen geltend gemachten Erstattungsanspruch iHv 527,60 Euro für Juni 2015 (Schreiben vom 10.7.2015) erkannte die Beklagte an (Schreiben an Beigeladenen vom 16.7.2015) und teilte dem Kläger mit, dass er für die Zeit vom 11.6. bis 30.6.2015 wegen der Zahlung des Alg II und des Erstattungsanspruchs eines anderen Leistungsträgers keinen Anspruch auf Alg habe (Bescheid vom 16.7.2015). Gleichzeitig setzte sie den täglichen Leistungsbetrag bereits ab dem 11.6.2015 auf 26,38 Euro fest und führte aus, für die Zeit vom 11.6. bis 30.6.2015 seien dem "Berechtigten" 527,60 Euro ausgezahlt worden (Änderungsbescheid vom 16.7.2015). Die vom Kläger erhobenen Widersprüche gegen die beiden Bescheide blieben erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 13.10.2015).

Das SG hat die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung von Alg iHv 26,38 Euro pro Tag für die Zeit vom 11.6. bis 30.6.2015 verurteilt (Urteil vom 7.3.2017). Der Ausschlusstatbestand des § 104 Abs 1 Satz 3 SGB X greife ein. Es fehle an einem Rangverhältnis, weil eine eigene Leistungspflicht des "nachrangig" verpflichteten Trägers neben der des "vorrangig" verpflichteten Trägers bestehe.

Das LSG hat nach Zulassung der Berufung der Beklagten das Jobcenter beigeladen und die Klage unter Aufhebung des Urteils des SG abgewiesen (Urteil vom 11.3.2021). Der Anspruch des Klägers sei wegen der Erfüllungsfiktion nach § 107 Abs 1 SGB X erloschen. § 104 Abs 1 Satz 3 SGB X habe dem Erstattungsanspruch des Beigeladenen nicht entgegengestanden, da die Alg II-Leistung nachrangig sei. Der Erstattungsanspruch sei nicht auf den Betrag beschränkt, den der Beigeladene für die Zeit vom 11.6. bis 30.6.2015 geleistet habe (370,23 Euro), denn Zweck von § 104 SGB X sei es, den nachrangig verpflichteten Leistungsträger so zu stellen, als wenn der vorrangig verpflichtete Leistungsträger rechtzeitig geleistet habe.

Mit seiner vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger, die vom LSG vorgenommene Auslegung und Anwendung von § 104 SGB X verletze - auch im Kontext mit der Verweisung in § 40a SGB II - materielles Recht. Das LSG übersehe, dass es sich um einen "Aufzahlungsfall" handele und hinsichtlich dieser "Aufzahlung" keine nachrangige Leistung vorliege. Es fehle an einem Vorrang-/Nachrangverhältnis. Hilfsweise macht der Kläger geltend, der Erstattungsanspruch sei - wenn er bestanden habe - nach einer kalendertäglichen Übereinstimmung für die Zeit vom 11.6. bis 30.6.2015 zu ermitteln und betrage daher lediglich 370,23 Euro, sodass er jedenfalls noch einen Auszahlungsanspruch iHv 157,37 Euro habe. Der Umfang des Erstattungsanspruchs richte sich nach den Vorschriften des SGB III, und Alg werde gemäß § 154 Satz 1 SGB III nach Kalendertagen berechnet und geleistet. Auch § 41 Abs 1 Satz 1 SGB II sehe vor, dass Leistungen anteilig zu erbringen seien, wenn diese nicht für einen vollen Monat zustünden.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. März 2021 aufzuheben und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Sie verweist auf den Zweck der gesetzlichen Regelung der Erstattungsansprüche, wonach der nachrangig verpflichtete Leistungsträger so zu stellen sei, als wenn der vorrangig verpflichtete Leistungsträger rechtzeitig von Anfang an geleistet hätte.

Der Beigeladene stellt keinen Antrag und verweist auf die Ausführungen des LSG.

Entscheidungsgründe

Die vom LSG zugelassene und auch im Übrigen zulässige Revision des Klägers ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Das LSG hat zutreffend entschieden, dass dem Kläger kein Anspruch auf Auszahlung von Alg für die Zeit vom 11.6. bis 30.6.2015 zusteht, denn der Anspruch gilt aufgrund eines Erstattungsanspruchs des Beigeladenen als erfüllt.

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind neben der vorinstanzlichen Entscheidung die Bescheide der Beklagten vom 16.7.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.10.2015, mit denen die Beklagte es abgelehnt hat, dem Kläger das für die Zeit vom 11.6. bis 30.6.2015 bewilligte Alg auszuzahlen. Wie das LSG zu Recht ausgeführt hat, ist der Alg-Anspruch dem Grunde und der Höhe nach nicht angefochten und damit nicht Streitgegenstand (vgl BSG vom 12.5.2011 - B 11 AL 24/10 R - SozR 4-1300 § 107 Nr 4 RdNr 12).

Zutreffende Klageart ist die - vom Kläger auch erhobene - kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 und Abs 4 SGG), gerichtet auf die Aufhebung des Bescheids vom 16.7.2015, die Abänderung des Änderungsbescheids vom 16.7.2015 - beide in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.10.2015 - und die Verurteilung der Beklagten zur Auszahlung des ihm für den streitigen Zeitraum bewilligten Alg iHv 26,38 Euro pro Tag, zumindest aber iHv insgesamt 157,37 Euro.

Die Bescheide vom 16.7.2015 ersetzen den ersten Bewilligungsbescheid vom 1.7.2015, durch den für Juni und Juli 2015 zunächst nur ein täglicher Leistungsbetrag von Null Euro unter Hinweis auf einen vorläufigen Erstattungsanspruch festgesetzt war. Mit dem Änderungsbescheid vom 16.7.2015 sind dem Kläger Alg-Leistungen auch für Juni und Juli 2015 bewilligt worden, gleichzeitig hat die Beklagte sowohl im Änderungsbescheid als auch im Bescheid vom 16.7.2015 einen Auszahlungsanspruch des Klägers für den streitigen Zeitraum vom 11.6. bis 30.6.2015 verneint, unter Hinweis auf die vom Kläger bezogenen Alg II-Leistungen und den Erstattungsanspruch des Beigeladenen. Den beiden aufeinander bezogenen Bescheiden vom 16.7.2015 ist zu entnehmen, dass die Beklagte eine (belastende) rechtsverbindliche Feststellung mit Regelungscharakter zu dem aus ihrer Sicht nicht bestehenden Auszahlungsanspruch mit Ablehnung der Auszahlung getroffen hat (vgl zuletzt BSG vom 7.4.2022 - B 5 R 24/21 R - RdNr 11 ff - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen; BSG vom 24.10.2013 - B 13 R 31/12 R - juris RdNr 16).

Mit seinen Widersprüchen hat sich der Kläger sowohl gegen die Erstattung an sich als auch gegen die Erstattungshöhe gewandt. Zu Recht sind SG und LSG davon ausgegangen, dass sich der Widerspruchsbescheid inhaltlich auf beide Widersprüche bezieht - und nicht etwa nur auf den mit Geschäftszeichen aufgeführten Widerspruch gegen den Bescheid vom 16.7.2015. Das folgt insbesondere aus der Bezeichnung im Rubrum des Widerspruchsbescheids "gegen die Bescheide vom 16. Juli 2015" sowie aus den Ausführungen zu der Höhe der Erstattung, die sich allein aus dem Änderungsbescheid ergibt.

2. Die angefochtenen Bescheide vom 16.7.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.10.2015 sind formell rechtmäßig. Insbesondere durfte die Beklagte durch Verwaltungsakt feststellen, dass der ihr gegenüber bestehende Alg-Anspruch des Klägers für die Zeit vom 11.6. bis 30.6.2015 erloschen war. Diese Befugnis ergibt sich aus der Systematik des Gesetzes und der Eigenart des Rechtsverhältnisses (siehe BSG vom 7.4.2022 - B 5 R 24/21 R - RdNr 23 mwN - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Die Erfüllungsfiktion in § 107 Abs 1 SGB X tritt kraft Gesetzes ein und verklammert rechtssystematisch die Erstattungsansprüche der §§ 102 bis 105 SGB X mit dem Anspruch des Leistungsberechtigten. Soweit in diesem Dreiecksverhältnis ein Erstattungsanspruch besteht, gilt der Anspruch des Leistungsberechtigten gegen den zur Leistung verpflichteten Leistungsträger...

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