Urteil Nr. B 12 KR 21/19 R des Bundessozialgericht, 2019-09-19

Judgment Date19 Septiembre 2019
ECLIDE:BSG:2019:190919UB12KR2119R0
Judgement NumberB 12 KR 21/19 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Versicherungspflicht beziehungsweise -freiheit - Geschäftsführer von Familiengesellschaften - Abgrenzung der abhängigen Beschäftigung von der selbstständigen Tätigkeit - Minderheitsgesellschafter - schuldrechtliche Stimmrechtsvereinbarungen - kein Vertrauensschutz in die sogenannte "Kopf-und-Seele"-Rechtsprechung - Verjährung von Ansprüchen auf Gesamtsozialversicherungsbeiträge nur auf Einrede
Leitsätze

1. Im Hinblick auf die Versicherungspflicht der Geschäftsführer von Familiengesellschaften besteht kein Vertrauensschutz in die sogenannte Kopf-und-Seele-Rechtsprechung.

2. Die Verjährung von Ansprüchen auf Gesamtsozialversicherungsbeiträge ist nur auf Einrede zu berücksichtigen.

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen den Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 25. April 2018 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt auch die Kosten des Revisionsverfahrens mit Ausnahme der Kosten der Beigeladenen.

Der Streitwert wird für das Revisionsverfahren auf 49 788,91 Euro festgesetzt.

Tatbestand

Die klagende GmbH wendet sich gegen eine Beitragsnachforderung der beklagten DRV Bund über 49 788,91 Euro für den Zeitraum 1.1.2009 bis 31.12.2012 wegen Versicherungspflicht ihres zu 1. beigeladenen GmbH-Geschäftsführers in der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) und nach dem Recht der Arbeitsförderung.

Der Vater des Beigeladenen zu 1. war ursprünglich Inhaber eines Einzelunternehmens für Haustechnik und entschloss sich zum Jahreswechsel 2007/2008 zur Aufspaltung der damaligen Einzelfirma. Als Betriebsunternehmen wurde die klagende GmbH gegründet. Die Betriebsmittel blieben im Eigentum des Vaters als Einzelunternehmer, der seinerseits die Anlagegegenstände an die GmbH vermietete. Gründungsgesellschafter der klagenden GmbH waren der Beigeladene zu 1. und sein Vater. Von dem Stammkapital der Klägerin in Höhe von 25 000 Euro übernahm der Vater einen Anteil von 60 vH und der Beigeladene zu 1. einen Anteil von 40 vH (Gesellschaftsvertrag vom 21.12.2007). Beide Gesellschafter wurden zu alleinvertretungsberechtigten Geschäftsführern bestellt. Gesellschafterbeschlüsse waren nach dem Gesellschaftsvertrag mit einfacher Stimmenmehrheit zu treffen. Aufgrund einer am 1.2.2008 privatschriftlich abgeschlossenen Stimmrechtsvereinbarung sollte jeder Gesellschafter über die Hälfte der Stimmrechte verfügen.

Für seine Tätigkeit als Geschäftsführer erhielt der Beigeladene zu 1. ein monatliches Festgehalt von 3700 Euro brutto, das auch im Falle einer vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit fortgezahlt wurde.

Aufgrund einer Betriebsprüfung für den Zeitraum vom 1.1.2009 bis 31.12.2012 setzte die Beklagte eine Beitragsnachforderung zur GRV und nach dem Recht der Arbeitsförderung in einer Gesamthöhe von 49 788,91 Euro fest; der Beigeladene zu 1. sei bei der klagenden GmbH beschäftigt (Bescheid vom 10.2.2015, Widerspruchsbescheid vom 12.5.2015).

Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben (Urteil des SG vom 6.12.2017; Beschluss des LSG vom 25.4.2018). Das LSG hat zur Begründung ausgeführt, der Beigeladene zu 1. halte nur eine Minderheit der Gesellschaftsanteile und verfüge über keine Sperrminorität. Die privatschriftlich vereinbarte isolierte Übertragung von Stimmrechten im Umfang von 10 vH vom Vater auf den Beigeladenen zu 1. sei auch im Falle gesellschaftsrechtlicher Unbedenklichkeit nicht geeignet, bei einem Minderheitsgesellschafter-Geschäftsführer den sozialversicherungsrechtlichen Status als Selbstständiger zu begründen. Die sog "Kopf und Seele"-Rechtsprechung könne für die Beurteilung des sozialversicherungsrechtlichen Status nach § 7 Abs 1 SGB IV nicht zu Gunsten der Klägerin herangezogen werden. Jedenfalls der für Statusentscheidungen zuständige 12. Senat des BSG orientiere sich nicht mehr an dieser Rechtsprechung. Der Hauptgesellschafter habe im Übrigen gerade davon Abstand genommen, dem Beigeladenen zu 1. umfassend "freie Hand" zu lassen, auch wenn dieser im Tagesgeschäft über erhebliche Entscheidungsfreiräume verfügt haben möge. Der Beigeladene zu 1. habe in seiner maßgeblichen Eigenschaft als Geschäftsführer auch kein relevantes unternehmerisches Risiko getragen. Ihm sei die vereinbarte monatliche Festvergütung gewiss gewesen. Da ein Verfahren nach § 7a SGB IV nicht eingeleitet worden sei, fehle eine tragfähige Grundlage für eine Inanspruchnahme von Vertrauensschutz.

Die klagende GmbH rügt mit ihrer Revision eine Verletzung von § 7 Abs 1 SGB IV iVm Art 20 Abs 3 GG. Der Beigeladene zu 1. sei nach der bis 29.8.2012 vorliegenden einhelligen Rechtsprechung und der Erlasslage der Beklagten eindeutig als selbstständig anzusehen gewesen und könne sich insoweit auf Vertrauensschutz berufen. Diese Rechtsprechung sei nicht auf das Leistungsrecht begrenzt gewesen, wobei der Beschäftigtenbegriff im Leistungs- und Beitragsrecht auch nicht unterschiedlich sei. Darüber hinaus sei das Gebot eines fairen Verfahrens und das Recht auf Gehör verletzt, da das LSG ohne Einverständnis der Klägerin ohne mündliche Verhandlung entschieden habe.

Die Klägerin beantragt,
den Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 25. April 2018 und das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 6. Dezember 2017 sowie den Bescheid der Beklagten vom 10. Februar 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12. Mai 2015 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

Sie verteidigt die angefochtene Entscheidung.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist nicht begründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).

I. Der angefochtene Beschluss ist nicht wegen eines Verfahrensfehlers aufzuheben. Der von der Klägerin gerügte Verstoß gegen § 153 Abs 4 SGG liegt nicht vor. Nach § 153 Abs 4 SGG kann das LSG außer im Falle einer erstinstanzlichen Entscheidung durch Gerichtsbescheid die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher zu hören. Hier ist die Klägerin ordnungsgemäß angehört worden. Eine Zustimmung der Verfahrensbeteiligten ist nicht erforderlich (Fock in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl 2014, § 153 RdNr 23). Auch bestehen keine Anhaltspunkte, dass das LSG sein Ermessen fehlerhaft ausgeübt hätte. Seiner Entscheidung, nach § 153 Abs 4 SGG vorzugehen, lagen weder sachfremde Erwägungen noch eine grobe Fehleinschätzung zugrunde (vgl BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 1 S 4; BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 13 S 38; BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 7 RdNr 27; BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 14 RdNr 9). Die rechtskundig vertretene Klägerin hatte im erstinstanzlichen Verfahren in der mündlichen Verhandlung ausreichend Gelegenheit, ihren Standpunkt durch ihren Prozessbevollmächtigten sowie ihren - seinerzeit anwesenden - Mehrheitsgesellschafter und Geschäftsführer darzulegen. Im Berufungsverfahren mussten weitere Tatsachenfragen in einer mündlichen Verhandlung nicht mehr geklärt werden. Im Wesentlichen wurde im Berufungsverfahren der erstinstanzliche Vortrag schriftsätzlich wiederholt und präzisiert. Auch ist nach dem Rechtsstandpunkt des LSG nicht von besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten auszugehen. Es hat seine Entscheidung vielmehr unter anderem tragend darauf gestützt, dass ohne Durchführung eines Anfrageverfahrens nach § 7a SGB IV keine tragfähige Grundlage für Vertrauensschutz bestehe, und konsequenterweise auch die Revision nicht zugelassen (dazu, dass in diesem Fall von tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten auszugehen wäre, BSG Urteil vom 19.10.2016 - B 14 AS 33/15 R - juris; Sommer in Roos/Wahrendorf, SGG, 1. Aufl 2014, § 153 RdNr 31).

II. Das LSG hat die Berufung gegen das klageabweisende Urteil des SG auch in der Sache zu Recht zurückgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 10.2.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.5.2015 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 54 Abs 1 Satz 2 SGG). Der Beigeladene zu 1. unterlag im Streitzeitraum (1.1.2009 bis 31.12.2012) in seiner Tätigkeit bei der Klägerin der Versicherungspflicht in der GRV und nach dem Recht der Arbeitsförderung und die Beklagte hat deshalb zu Recht eine Beitragsnachforderung gegen die Klägerin festgesetzt.

Der Beigeladene zu 1. war im Streitzeitraum als Geschäftsführer bei der Klägerin beschäftigt und damit versicherungspflichtig in der GRV und nach dem Recht der Arbeitsförderung (dazu 1.). Die Klägerin kann sich auch nicht auf schutzwürdiges Vertrauen in eine anderslautende Rechtsprechung des BSG oder eine entgegenstehende Verwaltungspraxis der Beklagten berufen (dazu 2. und 3.). Da weder nach den Feststellungen des LSG noch den von diesem in Bezug genommenen Verwaltungsakten Anhaltspunkte bestehen, dass die Klägerin vor dem streitgegenständlichen Prüfzeitraum Betriebsprüfungen unterzogen wurde, kann sie sich insoweit auch von vornherein nicht auf einen dahingehenden Bestands- oder Vertrauensschutz berufen (dazu 4.). Offenbleiben kann, ob die Beitragsnachforderung teilweise verjährt war, da Verjährung nach § 25 Abs 1 Satz 1 SGB IV nur auf Einrede beachtlich ist und die Klägerin eine solche Einrede nicht erhoben hat (dazu 5.).

1. Im streitigen Zeitraum unterlagen Personen, die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt waren, der Versicherungspflicht in der GRV und nach dem Recht der Arbeitsförderung (vgl § 1 Satz 1 Nr 1 SGB VI, § 25 Abs 1 Satz 1 SGB III). Der Beigeladene zu 1. war in seiner Tätigkeit als Geschäftsführer der Klägerin beschäftigt.

a) Beschäftigung ist gemäß § 7 Abs 1 SGB IV die nichtselbstständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis (Satz 1). Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers (Satz 2). Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG setzt eine abhängige Beschäftigung voraus, dass der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber persönlich abhängig ist. Die hierfür vom Senat entwickelten Abgrenzungsmaßstäbe (vgl zuletzt BSG Urteil vom 4.6.2019 - B 12 R 11/18 R - , zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen)...

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