Urteil Nr. B 14 AS 13/18 R des Bundessozialgericht, 2019-05-08

Judgment Date08 Mayo 2019
ECLIDE:BSG:2019:080519UB14AS1318R1
Judgement NumberB 14 AS 13/18 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Grundsicherung für Arbeitsuchende - Bildung und Teilhabe - Kosten für Schulbücher - kein persönlicher Schulbedarf - Regelbedarfsanteil übersteigende Kosten - fehlende Lernmittelfreiheit - Mehrbedarf wegen unabweisbarem laufendem besonderem Bedarf - verfassungskonforme Auslegung
Leitsätze

Kosten für Schulbücher, die Schüler mangels Lernmittelfreiheit selbst kaufen müssen, sind durch das Jobcenter als Härtefallmehrbedarf zu übernehmen.

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 11. Dezember 2017 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Tatbestand

Im Streit ist der Anspruch der Klägerin im September 2013 auf zuschussweise Leistungen nach dem SGB II zur Übernahme von Kosten für Schulbücher.

Die 1997 geborene Klägerin lebte zusammen mit ihrer Mutter und bezog mit dieser im streitigen Monat vom beklagten Jobcenter Alg II (Bescheid vom 18.4.2013, Änderungsbescheide vom 13.9.2013 und 1.4.2014). Der Beklagte leistete ihr für die Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf 70 Euro zum 1.8.2013 und 30 Euro zum 1.2.2014. Die Klägerin besuchte ab dem Schuljahr 2013/2014 die 11. Klasse eines Gymnasiums (Oberstufe). Sie beantragte die Übernahme der Kosten für die im September und November 2013 erfolgte Beschaffung von Schulbüchern, die sie selbst habe kaufen müssen, da ab der 11. Klasse in ihrem Gymnasium eine Ausleihe von Schulbüchern nicht mehr möglich sei. Der Beklagte lehnte den Antrag ab, weil Schulbücher vom Regelbedarf umfasst seien; ein grundsätzlich mögliches Darlehen nach § 24 Abs 1 SGB II werde nicht begehrt (Bescheid vom 5.12.2013; Widerspruchsbescheid vom 26.3.2014).

Das SG hat den Beklagten verurteilt, der Klägerin insgesamt 214,40 Euro für Schulbücher zu zahlen und die Berufung zugelassen (Urteil vom 4.9.2015). Das LSG hat das Urteil des SG geändert und die Berufung des Beklagten gegen seine Verurteilung zur Zahlung von 202,90 Euro für September 2013 zurückgewiesen; im Übrigen - hinsichtlich 11,50 Euro für November 2013 - hat es auf die Berufung des Beklagten die Klage mangels Hilfebedürftigkeit der Klägerin abgewiesen (Urteil vom 11.12.2017): Diese habe Anspruch auf die begehrten Leistungen im September 2013, weil der Regelbedarf zwar den Bedarf für Schulbücher umfasse, die mangels Lernmittelfreiheit in Niedersachsen anfallenden Kosten aber nicht abdecke. Die so entstehende evidente Bedarfsunterdeckung sei wegen der gebotenen verfassungskonformen Auslegung des SGB II durch eine analoge Anwendung des Härtefallmehrbedarfs nach § 21 Abs 6 SGB II zu beheben.

Mit seiner vom LSG zugelassenen Revision rügt der Beklagte eine Verletzung von § 21 Abs 6 SGB II. Dessen Voraussetzungen lägen nicht vor und eine analoge Anwendung scheide mangels planwidriger Regelungslücke aus. Vorrang habe vielmehr ein Darlehen nach § 24 Abs 1 SGB II.

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 11. Dezember 2017 zu ändern und das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 4. September 2015 aufzuheben sowie die Klage insgesamt abzuweisen.

Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Beklagten ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Zu Recht hat das LSG der Klägerin einen Anspruch auf Übernahme der streitigen Kosten für Schulbücher auf der Grundlage des Härtefallmehrbedarfs nach § 21 Abs 6 SGB II zugesprochen, der hier entgegen der Auffassung des LSG unmittelbar zur Anwendung kommt.

1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Bescheid des Beklagten vom 5.12.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.3.2014, durch den der Anspruch der Klägerin auf weitere zuschussweise Leistungen für Schulbücher im September 2013 und damit auf höhere Leistungen nach dem SGB II abgelehnt worden ist, als ihr für diesen Monat - zunächst durch Bescheid vom 18.4.2013 und Änderungsbescheid vom 13.9.2013, zuletzt durch Bescheid vom 1.4.2014, der in der Sache an der zuvor getroffenen ablehnenden Regelung festhält - bewilligt worden sind (vgl zur prozessualen Lage BSG vom 12.9.2018 - B 4 AS 33/17 R - SozR 4-4200 § 20 Nr 24 RdNr 10). Streitig sind Kosten für angeschaffte Schulbücher von 202,90 Euro aufgrund der Verurteilung des Beklagten durch das LSG zu deren Zahlung und der Revision nur des Beklagten, der die vollständige Abweisung der Klage auf höhere Leistungen erstrebt.

Nicht Gegenstand des Verfahrens ist eine darlehensweise Leistungsgewährung (vgl § 24 Abs 1 SGB II), weil das Begehren der Klägerin sich ausschließlich auf eine zuschussweise Übernahme der Schulbuchkosten richtet, im Übrigen hat der Beklagte über ein solches Darlehen nicht entschieden (vgl zum Darlehen als aliud zur zuschussweisen Leistungsgewährung Kemper in Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl 2017, § 42a RdNr 49).

2. Verfahrensrechtliche Hindernisse stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen. Insbesondere war die Berufung zulässig, nachdem das SG sie in seinem Urteil zugelassen hat (vgl § 144 SGG). Die Klägerin verfolgt ihr Leistungsbegehren zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG).

3. Rechtsgrundlage für den Anspruch der Klägerin auf höhere Leistungen ist §§ 19 ff iVm §§ 7 ff SGB II in der Fassung, die das SGB II für den streitbefangenen Zeitraum zuletzt durch das Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 7.5.2013 (BGBl I 1167) erhalten hat, denn in Rechtsstreitigkeiten über abgeschlossene Bewilligungszeiträume ist das zum damaligen Zeitpunkt geltende Recht anzuwenden (Geltungszeitraumprinzip; vgl BSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 53/15 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 78 RdNr 14 f), und hierbei ausgehend vom Leistungsbegehren der Klägerin der Härtefallmehrbedarf nach § 21 Abs 6 SGB II.

4. Die Klägerin erfüllte nach den Feststellungen des LSG im September 2013 die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II; ein Ausschlusstatbestand lag nicht vor.

Zusätzlich zu dem ihr für diesen Monat bewilligten Regelbedarf nach § 20 Abs 2 Satz 2 Nr 1 SGB II und dem Kopfteil an den Bedarfen für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II hat sie Anspruch auf Übernahme der Kosten für Schulbücher auf der Grundlage des Härtefallmehrbedarfs nach § 21 Abs 6 SGB II, dessen Leistungsvoraussetzungen bei deren verfassungskonformer Auslegung erfüllt sind (dazu 5.). Anderes folgt nicht aus der Kultushoheit der Länder (dazu 6.).

5. Kosten für Schulbücher, die Schüler mangels...

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