Urteil Nr. B 14 AS 41/18 R des Bundessozialgericht, 2019-01-30

Judgment Date30 Enero 2019
ECLIDE:BSG:2019:300119UB14AS4118R0
Judgement NumberB 14 AS 41/18 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 15. Dezember 2017 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

Umstritten ist die Höhe des anzuerkennenden Bedarfs für die Unterkunft von März bis August 2013, insbesondere im Hinblick auf die abstrakte Angemessenheit.

Die 1951 geborene Klägerin bewohnt allein eine Zweizimmerwohnung in Bad Segeberg, für die monatlich zu zahlen waren 340 Euro Nettokaltmiete, 47,50 Euro Betriebskostenvorauszahlung und 62,50 Euro Heizkostenvorauszahlung, insgesamt 450 Euro. Das beklagte Jobcenter wies die Klägerin auf die Unangemessenheit ihrer Kosten hin, angemessen seien als Kosten der Unterkunft 339 Euro (Schreiben vom 28.3.2012). Für März bis August 2013 bewilligte der Beklagte der Klägerin Alg II nur noch unter Anerkennung dieses Betrags als Bedarf für die Unterkunft sowie der tatsächlichen Heizkosten (Bescheid vom 25.2.2013; Widerspruchsbescheid vom 8.3.2013), änderte diese Bewilligung jedoch wegen eines Absetzbetrags ab (Bescheid vom 22.3.2013).

Das SG hat den Beklagten unter Änderung des Bescheids vom 25.2.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8.3.2013 verurteilt, der Klägerin Alg II unter Berücksichtigung der tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung zu gewähren (Urteil vom 23.10.2013), weil die Festlegung von Wohnungsmarkttypen die Anforderungen an ein schlüssiges Konzept nicht erfülle. Auf die vom SG zugelassene Berufung des Beklagten hat das LSG nach weiteren Ermittlungen das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 15.12.2017). Es sei nicht zu beanstanden, dass der Beklagte das gesamte Kreisgebiet als einheitlichen Vergleichsraum zugrunde gelegt, aber in fünf Wohnungsmarkttypen mit unterschiedlichen Angemessenheitswerten untergliedert habe, um einer Differenzierung der Preisstruktur innerhalb des Vergleichsraums Rechnung zu tragen.

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin eine Verletzung von § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II, weil das LSG zu Unrecht die Vorgehensweise des Beklagten gebilligt habe, den Kreis Segeberg als einen Vergleichsraum zu bestimmen und innerhalb dessen Wohnungsmarkttypen zu bilden. Die Übertragung der zu Großstädten entwickelten Rechtsprechung des BSG zum Vergleichsraum auf Flächenlandkreise sei problematisch. Die an Hamburg grenzende Stadt Norderstedt habe keinerlei Bezug zu dem eher ländlich und dörflich orientierten nordöstlichen Teil des Kreises.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 15. Dezember 2017 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 23. Oktober 2013 zurückzuweisen.

Der Beklagte verteidigt das Urteil des LSG und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Ggf als notwendig angesehene Nachermittlungen zur Vergleichsraumbildung und Erstellung eines schlüssigen Konzepts seien möglich.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Auf der Grundlage der Feststellungen des LSG kann der Senat nicht darüber entscheiden, ob bei der Klägerin ein höherer Bedarf für die Unterkunft anzuerkennen ist.

1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Bescheid des Beklagten vom 22.3.2013, der den vorangegangenen Bescheid vom 25.2.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8.3.2013 ersetzt hat (zur Anwendbarkeit des § 96 SGG auf nach Erlass des Widerspruchsbescheids, jedoch vor Klageerhebung ergangene Bescheide vgl B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 96 RdNr 3a), sowie die Höhe der Leistungen für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs 1 SGB II für März bis August 2013 (zur Zulässigkeit einer solchen Beschränkung: BSG vom 4.6.2014 - B 14 AS 42/13 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 78 RdNr 10).

2. Verfahrensrechtliche Hindernisse stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen. Insbesondere ist die Berufung zulässig, weil sie vom SG zugelassen worden ist. Die Klägerin verfolgt ihr Begehren zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG), zulässigerweise gerichtet auf den Erlass eines Grundurteils (§ 130 Abs 1 Satz 1 SGG).

Ein solches Grundurteil im Höhenstreit ist auch hinsichtlich der zwischen den Beteiligten allein strittigen Höhe des anzuerkennenden Bedarfs für die Unterkunft zulässig. Voraussetzung für die Zulässigkeit eines Grundurteils im Höhenstreit in Abgrenzung zu einer unzulässigen Elementfeststellungsklage ist eine so umfassende Aufklärung zu Grund und Höhe des Anspruchs, dass mit Wahrscheinlichkeit von einer höheren Leistung ausgegangen werden kann, wenn der Begründung der Klage gefolgt wird (vgl nur BSG vom 16.4.2013 - B 14 AS 81/12 R - SozR 4-4225 § 1 Nr 2 RdNr 10 mwN; zur Abgrenzung bei Verfahren nach § 44 SGB X: BSG vom 24.5.2017 - B 14 AS 32/16 R - BSGE 123, 199 = SozR 4-4200 § 11 Nr 80, RdNr 17 ff). Diese Voraussetzung ist vorliegend erfüllt, weil der Beklagte der Klägerin Alg II bewilligt hat und die Klägerin Anspruch auf höheres Alg II hat, wenn ihrem Vorbringen zur Höhe des anzuerkennenden Bedarfs für die Unterkunft gefolgt wird.

3. Rechtsgrundlage eines Anspruchs der Klägerin auf höhere Leistungen für die Unterkunft und Heizung für März bis August 2013 gegen das beklagte Jobcenter sind §§ 19, 22 SGB II in der ab 1.4.2011 geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 13.5.2011 (BGBl I 850; zuletzt geändert durch Gesetz vom 7.5.2013, BGBl I 1167). Denn in Rechtsstreitigkeiten über schon abgeschlossene Bewilligungszeiträume ist das damals geltende Recht anzuwenden (Geltungszeitraumprinzip, vgl BSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 53/15 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 78 RdNr 14 f).

4. Die Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden im Rahmen der Bewilligung von Alg II in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind (§ 22 Abs 1 Satz 1 SGB II). Die Prüfung der Angemessenheit des Bedarfs für die Unterkunft und der des Bedarfs für die Heizung haben grundsätzlich getrennt voneinander zu erfolgen (vgl nur BSG vom 2.7.2009 - B 14 AS 36/08 R - BSGE 104, 41 = SozR 4-4200 § 22 Nr 23, RdNr 18 mwN), unbeschadet der Wirtschaftlichkeitsprüfung bei Kostensenkungsaufforderungen (§ 22 Abs 1 Satz 4 SGB II) und der zwischenzeitlich eingeführten Gesamtangemessenheitsgrenze nach § 22 Abs 10 SGB II in der Fassung des Gesetzes vom 26.7.2016 (BGBl I 1824).

Zur Bestimmung des anzuerkennenden Bedarfs für die Unterkunft ist von den tatsächlichen Aufwendungen auszugehen (BSG vom 22.9.2009 - B 4 AS 8/09 R - BSGE 104, 179 = SozR 4-4200 § 22 Nr 24 , RdNr 15 ff). Will das Jobcenter nicht die tatsächlichen Aufwendungen als Bedarf anerkennen, weil es sie für unangemessen hoch hält, muss es grundsätzlich ein Kostensenkungsverfahren durchführen und der leistungsberechtigten Person den der Besonderheit des Einzelfalls angemessenen Umfang der Aufwendungen mitteilen (§ 22 Abs 1 Satz 3 SGB II; so schon BSG vom 7.11.2006 - B 7b AS 10/06 R - BSGE 97, 231 = SozR 4-4200 § 22 Nr 2, RdNr 29; letztens BSG vom 15.6.2016 - B 4 AS 36/15 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 90).

5. Bei dem entscheidenden gesetzlichen Tatbestandsmerkmal "Angemessenheit" handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff (stRspr: vgl BSG vom 19.2.2009 - B 4 AS 30/08 R - BSGE 102, 263 = SozR 4-4200 § 22 Nr 19 , RdNr 12; letztens BSG vom 12.12.2017 - B 4 AS 33/16 R - BSGE 125, 29 = SozR 4-4200 § 22 Nr 93 , RdNr 14).

Gegen die Verwendung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs bestehen keine durchgreifenden Bedenken, zumal zur Konkretisierung des Tatbestandsmerkmals der Angemessenheit des § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II auch die Regelungen der §§ 22a bis 22c SGB II zu berücksichtigen sind (BVerfG vom 6.10.2017 - 1 BvL 2/15, 1 BvL 5/15 - RdNr 17; BSG vom 12.12.2017 - B 4 AS 33/16 R - BSGE 125, 29 = SozR 4-4200 § 22 Nr 93 , RdNr 17 f).

Die Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe durch die Verwaltung ist grundsätzlich gerichtlich voll überprüfbar (vgl nur Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl 2018, § 40 RdNr 147 ff, § 46 RdNr 63 ff, jeweils mwN; Littmann in Hauck/Noftz, SGB X, K § 31 RdNr 100, Stand der Einzelkommentierung 12/2011) und die Angemessenheit nach § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II ebenfalls. Eine Rechtsgrundlage oder dogmatische Herleitung für die von Jobcentern in diesem Zusammenhang zum Teil beanspruchte "nicht justiziable Einschätzungsprärogative" oder "gerichtlich nicht überprüfbare politische Entscheidung" sind im Lichte von Art 19 Abs 4 GG nicht ersichtlich (vgl zur vollen gerichtlichen Überprüfbarkeit die einhellige Auffassung der Literatur zu § 22 SGB II: Berlit in LPK-SGB II, 6. Aufl 2017, § 22 RdNr 61; Krauß in Hauck/Noftz, SGB II, K § 22 RdNr 71, Stand der Einzelkommentierung 10/2012; Lauterbach in Gagel, SGB II/SGB III, § 22 SGB II RdNr 33, Stand der Einzelkommentierung 10/2016; Luik in Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl 2017, § 22 RdNr 73, 91; Piepenstock in jurisPK-SGB II, 4. Aufl 2015, § 22 RdNr 83; Wieland in Estelmann, SGB II, § 22 RdNr 71, Stand der Einzelkommentierung 10/2017).

6. Die Ermittlung...

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