Urteil Nr. B 14 AS 28/17 R des Bundessozialgericht, 2018-06-14
Judgment Date | 14 Junio 2018 |
ECLI | DE:BSG:2018:140618UB14AS2817R0 |
Judgement Number | B 14 AS 28/17 R |
Court | Der Bundessozialgericht (Deutschland) |
Weder die Richtlinie 2004/83/EG (juris: EGRL 83/2004) noch das Grundgesetz steht dem Ausschluss von Familienangehörigen anerkannter Flüchtlinge, die selbst nur über eine Duldung verfügen und deshalb Leistungsberechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (juris: AsylbLG) sind, von Leistungen nach dem SGB II entgegen.
TenorDie Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 30. März 2017 wird zurückgewiesen.
Kosten sind für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Umstritten ist der Anspruch der Klägerin auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II statt Leistungen nach dem AsylbLG für November 2010.
Die 1996 geborene Klägerin reiste 2002 zusammen mit ihrer Mutter und fünf Geschwistern, alle irakische Staatsangehörige, in die Bundesrepublik Deutschland ein. Der Vater der Klägerin und Ehemann ihrer Mutter, ebenfalls irakischer Staatsangehöriger, hielt sich bereits seit 1999 in Deutschland auf und wurde hier im selben Jahr als Flüchtling anerkannt (§ 51 AuslG aF). Zwei weitere Geschwister irakischer Staatsangehörigkeit sind als Flüchtlinge anerkannt. Die Asylanträge der Klägerin, ihrer Mutter und der mit ihr eingereisten Geschwister wurden rechtskräftig abgelehnt; seit 2004 sind sie im Besitz einer Duldung (§ 60a AufenthG).
Die Klägerin bezog zusammen mit ihrer Mutter und den mit ihr eingereisten Geschwistern zunächst Grundleistungen nach § 3 AsylbLG und sodann Analogleistungen nach § 2 AsylbLG von der beigeladenen Stadt. Für November 2010 bewilligte das beklagte Jobcenter dem Vater der Klägerin sowie ihren als Flüchtlingen anerkannten Geschwistern Leistungen nach dem SGB II (Bescheid vom 15.10.2010). Den Widerspruch der Klägerin, ihrer Mutter und der mit ihr eingereisten Geschwister hiergegen, mit dem auch sie einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II geltend machten, wies der Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 10.3.2011).
Auf die hiergegen erhobenen Klagen hat das SG nach Beiladung der Stadt Köln als Träger der Leistungen nach dem AsylbLG den Beklagten unter Abänderung des Bescheids vom 15.10.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.3.2011 verurteilt, der Klägerin, ihrer Mutter und den mit ihr eingereisten Geschwistern Leistungen nach dem SGB II für November 2010 zu gewähren (Urteil vom 11.3.2013). Deren Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II folge aus der gegenüber dem Leistungsausschluss nach dem SGB II für Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG höherrangigen Richtlinie 2004/83/EG. Auf die Berufung des Beklagten hat das LSG das Urteil des SG geändert und die Klagen abgewiesen, soweit der Beklagte zur Gewährung von Leistungen nach dem SGB II verurteilt worden war, sowie die Beigeladene verurteilt, den damaligen Klägern Analogleistungen nach § 2 AsylbLG für November 2010 zu gewähren (Urteil vom 30.3.2017). Deren Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II stehe der Leistungsausschluss für Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG entgegen. Aus der Richtlinie 2004/83/EG folge kein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II. Doch bestehe (auch) für November 2010 ein Anspruch auf Analogleistungen nach § 2 AsylbLG.
Mit der vom LSG zugelassenen und nur von der Klägerin eingelegten Revision macht diese geltend, dass ihr als Familienangehörige eines anerkannten Flüchtlings ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II aus dem gegenüber dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB II höherrangigen Recht der Richtlinie 2004/83/EG zustehe.
Nachdem die Beteiligten durch einen Teilvergleich im Termin vor dem Senat den streitigen Zeitraum auf November 2010 beschränkt haben, beantragt die Klägerin,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 30. März 2017 zu ändern und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 11. März 2013 zurückzuweisen, soweit dieses hinsichtlich ihrer Person für November 2010 geändert wurde und ihr statt Leistungen nach dem SGB II nur Leistungen nach dem AsylbLG zugesprochen wurden.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beigeladene stellt keinen Antrag.
EntscheidungsgründetiDie zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Das LSG hat auf die Berufung des Beklagten zu Recht das Urteil des SG insoweit geändert und die Klage abgewiesen, als der Beklagte zur Gewährung von Leistungen nach dem SGB II verurteilt worden war.
1. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind die vorinstanzlichen Entscheidungen und der Bescheid vom 15.10.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.3.2011, mit dem der Beklagte ua gegenüber der Klägerin die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II abgelehnt hatte. Mit ihrer zulässig auf den Erlass eines Grundurteils (§ 130 Abs 1 Satz 1 SGG) gerichteten kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG) begehrt die Klägerin Leistungen nach dem SGB II statt der ihr zuletzt vom LSG zugesprochenen Analogleistungen nach § 2 AsylbLG. Streitiger Zeitraum ist nach dem Teilvergleich der Beteiligten vor dem Senat nur noch November 2010.
2. Verfahrensrechtliche Hindernisse stehen einer Sachentscheidung nicht entgegen. Auch wenn die Klägerin für November 2010 Analogleistungen nach § 2 AsylbLG zugesprochen erhalten hat, die im Wesentlichen gleich wie die begehrten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgestaltet sind, besteht nach wie vor ein Rechtsschutzbedürfnis, denn sie hat ein rechtlich schützenswertes Interesse an der Klärung, welche Leistungen ihr zugestanden haben (vgl BSG vom 12.11.2015 - B 14 AS 6/15 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 45 RdNr 10).
3. Rechtsgrundlage für den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II für November 2010 ist mit Blick auf den Zugang zu diesen Leistungen § 7 SGB II (in der ab 1.1.2008 geltenden Fassung des 22. BAföGÄndG vom 23.12.2007, BGBl I 3254; Geltungszeitraumprinzip, vgl BSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 53/15 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 78 RdNr 14 f) und § 28 SGB II (in der ab 6.3.2009 geltenden Fassung des Gesetzes zur Sicherung von Beschäftigung und Stabilität in Deutschland vom 2.3.2009, BGBl I 416 = aF).
4. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II. Zwar erfüllte sie die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs 2 Satz 1 und § 28 Abs 1 Satz 1 SGB II aF (dazu 5.), unterlag jedoch dem Leistungsausschluss vom SGB II nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB II (dazu 6.). Diesem stehen weder EU-Recht (dazu 7.) noch das GG (dazu 8.) entgegen.
5. Die Klägerin erfüllte nach den Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) die Voraussetzungen des § 7 Abs 2 Satz 1 SGB II, wonach Leistungen auch Personen erhalten, die mit erwerbsfähigen Hilfebedürftigen (heute: Leistungsberechtigten) in einer Bedarfsgemeinschaft leben. Der Vater der im November 2010 unter 15 Jahre alten Klägerin war ein erwerbsfähiger Hilfebedürftiger (§ 7 Abs 1 Satz 1 SGB II) und sie lebte mit ihm - und weiteren Familienmitgliedern - aufgrund ihrer Hilfebedürftigkeit in einer Bedarfsgemeinschaft (§ 7 Abs 3 Nr 4 SGB II). Sie erfüllte auch die Voraussetzungen nach § 28 Abs 1 Satz 1 SGB II aF, wonach nicht erwerbsfähige Angehörige, die mit erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in Bedarfsgemeinschaft leben, Sozialgeld erhalten, soweit sie keinen Anspruch auf Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII haben. Die Klägerin war als unter 15-Jährige nicht erwerbsfähig (vgl BSG vom 28.10.2014 - B 14 AS 65/13 R - BSGE 117, 186 = SozR 4-4200 § 7 Nr 39, RdNr 16) und ohne Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung.
6. Die Klägerin war indes nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen.
a) Nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB II sind "ausgenommen" - also keine leistungsberechtigten Personen iS des § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II und ohne Leistungsberechtigung nach dem SGB II - Leistungsberechtigte nach § 1 AsylbLG. Dieser Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB II findet ungeachtet seines Regelungsstandorts Anwendung nicht nur auf die von § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II, sondern auch auf die von § 7 Abs 2 Satz 1 SGB II erfassten Personen. Der Senat hat bereits entschieden, dass der Ausschluss von Leistungen nach dem SGB II für Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG auch gilt für nicht erwerbsfähige Hilfebedürftige, die mit einem Leistungsempfänger nach dem SGB II in Bedarfsgemeinschaft leben (BSG vom 21.12.2009 - B 14 AS 66/08 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 14). Hieran ist festzuhalten.
Anderes folgt entgegen der Auffassung der Revision nicht aus später ergangener Rechtsprechung des BVerfG (Hinweis auf BVerfG vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10 ua - BVerfGE 132, 134 = SozR 4-3520 § 3 Nr 2). Denn dieser ist nicht zu entnehmen, dass eine Differenzierung zwischen Personen bei der Zuordnung zu verschiedenen existenzsichernden Leistungssystemen schlechterdings verfassungsrechtlich unzulässig ist. Entscheidend ist vielmehr, dass das nach Art 1 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 GG zu gewährleistende Existenzminimum für jede individuelle hilfebedürftige Person ausreichend bemessen ist (BVerfG vom 27.7.2016 - 1 BvR 371/11 - BVerfGE 142, 353 = SozR 4-4200 § 9 Nr 15, RdNr 43). Eine unterschiedliche Ausgestaltung existenzsichernder Leistungen in verschiedenen Leistungssystemen ist indes am Maßstab des Art 3 Abs 1 GG zu prüfen (BVerfG vom 27.7.2016 - 1 BvR 371/11 - BVerfGE...
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