Urteil Nr. B 14 AS 51/18 R des Bundessozialgericht, 2019-07-11

Judgment Date11 Julio 2019
ECLIDE:BSG:2019:110719UB14AS5118R0
Judgement NumberB 14 AS 51/18 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Grundsicherung für Arbeitsuchende - Antragserfordernis - Antrags per E-Mail - Zeitpunkt des Zugangs des elektronischen Antrags - Beweislast)
Leitsätze

Ein Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ist dem Jobcenter zugegangen, wenn er in dessen Macht- oder Willensbereich gelangt, ohne dass es auf die üblichen Dienstzeiten ankommt.

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. September 2017 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Tatbestand

Umstritten ist die Bewilligung von Alg II für Januar 2015.

Im Januar 2015 überwies der Arbeitgeber des nicht im Leistungsbezug stehenden Klägers das Arbeitsentgelt für diesen Monat nicht wie vertraglich vereinbart am Monatsende, sondern erst im Verlauf des Februar. Der Kläger sandte deswegen am Freitagabend, den 30.1.2015, um kurz nach 20 Uhr - ohne Anforderung einer Eingangs- oder Lesebestätigung - eine E-Mail an das beklagte Jobcenter, mit der er Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für seine Bedarfsgemeinschaft beantragte.

Eine Reaktion des Beklagten erfolgte zunächst nicht. Der Kläger erinnerte ihn per E-Mail am 4.3.2015 an seine E-Mail aus Januar. E-Mails an den Beklagten werden auf einem Server der Bundesagentur für Arbeit 6 Monate lang aufbewahrt und zum Abruf bzw zur Kontrolle des Eingangs bereitgestellt. Nach Ablauf dieses Zeitraums ohne Zugriff werden die Daten gelöscht. Der Beklagte nahm in dem Zeitraum vor Löschung der Daten keine Überprüfung des Eingangs der E-Mail vom 30.1.2015 vor.

Der Beklagte bewilligte dem Kläger und den übrigen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft auf den "Antrag vom 04.03.2015" Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum März bis August 2015 (Bescheid vom 16.6.2015). Hiergegen erhob der Kläger erfolglos Widerspruch, mit dem er neben der Zahlung für Januar zunächst auch höhere Leistungen für die Folgemonate geltend machte (Widerspruchsbescheid vom 7.10.2015).

Im gerichtlichen Verfahren hat sich der allein klagende Kläger auf Leistungen für Januar 2015 beschränkt. Das SG hat den Beklagten unter teilweiser Aufhebung des Widerspruchsbescheids vom 7.10.2015 dem Grunde nach verurteilt, an den Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für Januar 2015 zu erbringen. Im Hinblick auf diesen Monat sei eine erstmalige Sachentscheidung erst mit dem Widerspruchsbescheid erfolgt (Urteil vom 17.1.2017). Das LSG hat die vom SG zugelassene Berufung des Beklagten mit der Maßgabe zurückgewiesen, der Beklagte werde unter Abänderung des Bescheids vom 16.6.2015 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 7.10.2015 verurteilt, an den Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für Januar 2015 zu erbringen (Urteil vom 14.9.2017). Der Bescheid vom 16.6.2015 sei ebenfalls in das Verfahren einbezogen, weil mit der Bewilligung von Leistungen (erst) ab März zugleich Leistungen für Januar und Februar 2015 abgelehnt worden seien. Der Kläger habe mit seiner E-Mail vom 30.1.2015 wirksam Leistungen für den Monat Januar 2015 beantragt. Der Antrag wirke auf den 1.1.2015 zurück. Für das Bewirken des Zugangs des Antrags genüge es, dass die Erklärung in den Machtbereich der Behörde gelangt sei. Der Kläger habe den Nachweis für den Zugang des Antrags erbracht.

Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision rügt der Beklagte eine Verletzung des § 37 SGB II. Das LSG habe verkannt, dass der Zugang einer Willenserklärung nach allgemeinen Grundsätzen die Möglichkeit der Kenntnisnahme voraussetze, die hier erst am nächsten Tag der Dienstbereitschaft bestanden habe. Dies gelte auch für einen Antrag nach dem SGB II. Hilfsweise wird eine Verletzung der prozessualen Grundsätze der Beweis- und Darlegungslast sowie des § 20 SGB X gerügt.

Der Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. September 2017 und des Sozialgerichts Köln vom 17. Januar 2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger verteidigt das angegriffene Urteil und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Beklagten ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Der Kläger hat für Januar 2015 einen Anspruch auf Alg II. Er hat am 30.1.2015 einen auf den Ersten des Monats zurückwirkenden Antrag nach dem SGB II gestellt, wie das LSG zutreffend entschieden hat.

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind neben den vorinstanzlichen Urteilen der Bescheid vom 16.6.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7.10.2015, soweit dieser eine Leistungsbewilligung für Januar 2015 ablehnt, sowie die Zahlung von Alg II für diesen Monat. Nach dem im Berufungsurteil festgestellten tatsächlichen Geschehensablauf enthält der Bescheid vom 16.6.2015 zugleich eine Ablehnung von Leistungen für Januar. Der Beklagte hat seine insoweit zunächst erhobenen Verfahrensrügen zuletzt nicht mehr aufrechterhalten.

2. Der Sachentscheidung entgegenstehende prozessuale Hindernisse bestehen nicht. Die von dem Kläger erhobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG) ist statthaft. Die Berufung ist vom SG zugelassen worden (vgl § 144 SGG).

3. Rechtsgrundlage des geltend gemachten Leistungsanspruchs sind §§ 19 ff und §§ 7 ff SGB II in der Fassung, die das SGB II für den streitbefangenen Monat zuletzt durch das Gesetz zur weiteren Entlastung von Ländern und Kommunen ab 2015 und zum quantitativen und qualitativen Ausbau der Kindertagesbetreuung sowie zur Änderung des Lastenausgleichsgesetzes vom 22.12.2014 (BGBl I 2411) erhalten hat (Geltungszeitraumprinzip, vgl BSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 53/15 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 78 RdNr 14 f).

4. Der Kläger war leistungsberechtigt nach § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II und ein Ausschlusstatbestand lag nicht vor, wie sich aus dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG ergibt. Er war aufgrund der ausgebliebenen Gehaltszahlung im Januar 2015 hilfebedürftig iS des § 9 Abs 1 SGB II, weil nach dem das SGB II prägenden Monatsprinzip laufende Einnahmen für den Monat zu berücksichtigen sind, in dem sie zufließen (stRspr, vgl nur BSG vom 30.3.2017 - B 14 AS 18/16 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 81 RdNr 18). Eine Rechtsgrundlage dafür, dem Kläger im Hinblick auf das im Februar 2015 nachgezahlte Erwerbseinkommen Alg II für Januar nur als Darlehen zu gewähren, besteht nicht. § 24 Abs 4 Satz 1 SGB II bestimmt, dass Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts als Darlehen erbracht werden können, soweit in dem Monat, für den die Leistungen erbracht werden, voraussichtlich Einnahmen anfallen.

5. Der Kläger hat am 30.1.2015 per E-Mail einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II gestellt, der auf den 1.1.2015 zurückwirkte. Die Notwendigkeit einer Antragstellung ergibt sich aus § 37 SGB II. Nach § 37 Abs 1 Satz 1 SGB II werden Leistungen nach dem SGB II nur auf Antrag und nach § 37 Abs 2 Satz 1 SGB II nicht für Zeiten vor der Antragstellung erbracht. § 37 Abs 2 Satz 2 SGB II (idF des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch - RBEG/SGB II/SGB XII-ÄndG - vom 24.3.2011, BGBl I 453) bestimmt zudem, dass der Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts auf den Ersten des Monats zurückwirkt.

Ein Antrag auf Leistungen nach dem SGB II kann auch per E-Mail gestellt werden (a). Der Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ist dem Jobcenter bereits dann zugegangen, wenn er in dessen Macht- oder Willensbereich gelangt, ohne dass es auf die üblichen Dienstzeiten ankommt (b). Der Antrag des Klägers konnte auf den 1.1.2015 zurückwirken, weil er dem Beklagten nach den im Berufungsurteil getroffenen und nicht mit erfolgreichen Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen noch in den Abendstunden des 30.1.2015 zuging (c).

a) Einer wirksamen Antragstellung steht nicht entgegen, dass der Kläger den Antrag per E-Mail versandt hat. Der Antrag auf Leistungen der Grundsicherung nach § 37 SGB II ist grundsätzlich an keine Form gebunden, weil insofern der (allgemeine) Grundsatz der Nichtförmlichkeit des Verwaltungsverfahrens gilt (vgl § 9 SGB X; BSG vom 28.10.2009 - B 14 AS 56/08 R - SozR 4-4200 § 37 Nr 1 RdNr 14 mwN). § 37 SGB II verlangt weder - iS des § 126 Abs 1 BGB - die schriftliche Form...

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