Urteil Nr. B 14 AS 44/18 R des Bundessozialgericht, 2019-07-11

Judgment Date11 July 2019
ECLIDE:BSG:2019:110719UB14AS4418R0
Judgement NumberB 14 AS 44/18 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Grundsicherung für Arbeitsuchende - abschließende Entscheidung über zunächst vorläufig beschiedene Leistungsansprüche - Bildung eines Durchschnittseinkommens
Leitsätze

Die Bildung eines monatlichen Durchschnittseinkommens bei der abschließenden Entscheidung erfolgt unabhängig vom Grund der Vorläufigkeit, erfasst alle Einkommensarten und alle Monate des Bewilligungszeitraums.

Tenor

Auf die Revision des Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 20. September 2018 und des Sozialgerichts Berlin vom 16. Oktober 2017 geändert, soweit der Beklagte unter Änderung des Bescheids vom 16. Februar 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31. März 2017 verurteilt worden ist, der Klägerin für Mai 2016 weiteres Arbeitslosengeld II von mehr als 96,67 Euro zu zahlen.

Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin drei Viertel der Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Tatbestand

Im Streit ist der Anspruch der Klägerin im Mai 2016 auf höheres Alg II, insbesondere ihr bei der abschließenden Entscheidung zugrunde zu legendes Einkommen.

Die 1996 geborene Klägerin lebte mit ihrer Mutter und weiteren Familienangehörigen in einer Wohnung und bezog als Mitglied der nach ihrer Mutter gebildeten Bedarfsgemeinschaft Alg II. Anfang 2016 war auch der neue Ehemann der Mutter in die Wohnung gezogen. Für die Klägerin bezog ihre Mutter 190 Euro monatliches Kindergeld. Das beklagte Jobcenter bewilligte der Klägerin für die Zeit von Mai bis Oktober 2016 Alg II zunächst vorläufig aufgrund fehlender Unterlagen zur Haushaltsgemeinschaft sowie zum Ehemann der Mutter in Höhe von monatlich 285,36 Euro (Bescheid vom 6.4.2016). Ab Juli 2016 ging die Klägerin einer Beschäftigung nach, für die ihr ein monatliches Entgelt jeweils im Folgemonat ausgezahlt wurde (im August 2016 für Juli 2016 42,50 brutto = netto, ab September 2016 jeweils 85 Euro brutto = netto). Die Familienkasse hob die Bewilligung von Kindergeld für die Klägerin ab Juli 2016 auf (Bescheid vom 10.6.2016). Nachdem zunächst von Juli bis Oktober 2016 kein Kindergeld ausgezahlt worden war, erfolgte im November 2016 eine Nachzahlung für diese Monate sowie die Wiederaufnahme der laufenden Zahlung von Kindergeld.

Im Rahmen der abschließenden Entscheidung für die Zeit von Mai bis Oktober 2016 bewilligte der Beklagte der Klägerin für Mai und Juni 2016 Alg II wie zuvor in Höhe von monatlich 285,36 Euro (Bescheid vom 16.2.2017). Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin Widerspruch, "insoweit der Monat Mai 2016 geregelt wird"; sie habe Anspruch auf höhere Leistungen, weil der Beklagte es versäumt habe, das Durchschnittseinkommen im Bewilligungszeitraum zu bilden. Der Beklagte wies den Widerspruch als unbegründet zurück (Widerspruchsbescheid vom 31.3.2017).

Mit ihrer Klage hiergegen begehrte die Klägerin höhere Leistungen für Mai und Juni 2016. Das SG hat den Beklagten verurteilt, der Klägerin weiteres Alg II in Höhe von monatlich 126,67 Euro für Mai und Juni 2016 zu gewähren (Urteil vom 16.10.2017). Das LSG hat auf die vom SG zugelassene Berufung des Beklagten das Urteil des SG geändert und den Beklagten verurteilt, der Klägerin weiteres Alg II in Höhe von 126,67 Euro nur für Mai 2016 zu bewilligen (Urteil vom 20.9.2018). Für Juni 2016 sei die Berufung begründet, weil die Klage unzulässig sei, denn der Widerspruch sei auf den Mai 2016 beschränkt gewesen. Für Mai 2016 seien der Klägerin zu geringe Leistungen bewilligt worden, da entgegen der rechtlich eindeutigen Vorgabe des § 41a Abs 4 SGB II bei der abschließenden Entscheidung nicht ein monatliches Durchschnittseinkommen zugrunde gelegt worden sei. Nach Abzug der Versicherungspauschale vom Durchschnittseinkommen aus Kindergeld stehe der Klägerin für Mai 2016 noch ein weiterer Leistungsanspruch in Höhe von 126,67 Euro zu.

Mit seiner vom LSG zugelassenen Revision rügt der Beklagte eine Verletzung von § 41a Abs 4 SGB II. Dieser sei einschränkend dahin auszulegen, dass ein Durchschnittseinkommen bei der abschließenden Entscheidung nur zugrunde zu legen sei, wenn Grund für die vorläufige Entscheidung schwankendes Einkommen gewesen sei.

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 20. September 2018 zu ändern und das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. Oktober 2017 aufzuheben sowie die Klage insgesamt abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Beklagten ist nur teilweise begründet (§ 170 Abs 1 Satz 1, Abs 2 Satz 1 SGG). Zu Recht hat das LSG den Beklagten zu höheren Leistungen für Mai 2016 verurteilt, weil ein monatliches Durchschnittseinkommen auch vom Kindergeld zu bilden ist; der Anspruch der Klägerin beträgt indes nur 96,67 Euro, weil vorliegend keine Versicherungspauschale gesondert abzusetzen ist.

1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Bescheid vom 16.2.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31.3.2017, durch den der Beklagte abschließend über den Leistungsanspruch der Bedarfsgemeinschaft der Klägerin für die Zeit von Mai bis Oktober 2016 entschieden hat; die vorläufige Bewilligung durch Bescheid vom 6.4.2016 erledigte sich hierdurch (§ 39 Abs 2 SGB X; vgl letztens etwa BSG vom 30.3.2017 - B 14 AS 18/16 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 81 RdNr 10). Streitig ist allein die Höhe des individuellen Leistungsanspruchs der Klägerin, nachdem nur diese Klage gegen den Bescheid erhoben hat, und streitig ist nur noch der Mai 2016, nachdem der Beklagte für diesen Monat vom LSG zu weiteren Leistungen in Höhe von 126,67 Euro verurteilt worden ist und nur er Revision gegen das Urteil des LSG eingelegt hat.

2. Verfahrensrechtliche Hindernisse stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen. Insbesondere war die Berufung zulässig, nachdem das SG sie in seinem Urteil zugelassen hat (vgl § 144 SGG). Die Klägerin verfolgt ihr Begehren - weitere Zahlungen über die vorläufig erbrachten Leistungen hinaus - zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG; vglBSG vom 12.9.2018 - B 4 AS 39/17 R - vorgesehen für BSGE und SozR 4-4200 § 41a Nr 1, RdNr 11), die sie auf höhere Leistungen nur für sich und nur (noch) für einen Monat beschränken konnte, obwohl der angefochtene Bescheid weitere Bedarfsgemeinschaftsmitglieder und weitere Monate regelte. Dies folgt aus dem Individualanspruch jedes Mitglieds einer Bedarfsgemeinschaft (vgl grundlegend BSG vom 7.11.2006 - B 7b AS 8/06 R - BSGE 97, 217 = SozR 4-4200 § 22 Nr 1, RdNr 12 ff) und dem Monatsprinzip im SGB II (vgl insoweit im vorliegenden Zusammenhang nur BSG vom 30.3.2017 - B 14 AS 18/16 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 81 RdNr 11).

In der Sache begehrt die Klägerin nicht nur ein Grundurteil im Höhenstreit (§ 130 Abs 1 SGG), weil sie die Zahlung eines bezifferten Betrags geltend macht (vgl zur Abgrenzung BSG vom 16.4.2013 - B 14 AS 81/12 R - SozR 4-4225 § 1 Nr 2 RdNr 10). Trotz des Tenors des LSG, weitere Leistungen in Höhe von 126,67 Euro "zu bewilligen", handelt es sich nicht um einen hinter dem Leistungsantrag der Klägerin zurückbleibenden Verpflichtungstenor, weil das LSG ausweislich seiner Entscheidungsgründe den Beklagten nicht nur zum Erlass eines entsprechenden Verwaltungsakts, sondern zu einer höheren Leistung verurteilen wollte (vglBSG, ebenda, RdNr 12).

3. Rechtsgrundlage für den Anspruch der Klägerin auf höheres Alg II ist §§ 19 ffiVm §§ 7 ffSGB II in der Fassung, die das SGB II für den streitbefangenen Zeitraum zuletzt durch Gesetz vom 24.6.2015 (BGBl I 974) erhalten hat, denn in Rechtsstreitigkeiten über abgeschlossene Bewilligungszeiträume ist das zum damaligen Zeitpunkt geltende Recht anzuwenden (Geltungszeitraumprinzip; vglBSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 53/15 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 78 RdNr 14 f).

4. Die Klägerin erfüllte nach den Feststellungen des LSG im Mai 2016 die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II; ein Ausschlusstatbestand lag nicht vor.

Als ihren Bedarf in diesem Monat hat das LSG den Regelbedarf nach § 20 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB II in Höhe von 324 Euro und den Kopfteil an den Bedarfen für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II in Höhe von 121,36 Euro festgestellt. Als der Klägerin im Mai 2016 zuzurechnendes Einkommen hat das LSG das für sie an ihre Mutter gezahlte Kindergeld in Höhe von 190 Euro festgestellt (§ 11 Abs 1 Satz 4, 3 SGB II).

5. Indes hat der Beklagte durch den Bescheid vom 16.2.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 31.3.2017 abschließend über den Leistungsanspruch (auch) der Klägerin (ua) im Mai 2016 entschieden, nachdem er zuvor durch Bescheid vom 6.4.2016 den zugrunde liegenden Leistungsantrag zunächst nur vorläufig beschieden hatte. Neben den genannten gesetzlichen Vorgaben für den Leistungsanspruch sind daher die des § 41a SGB II auf die getroffene abschließende Entscheidung anzuwenden (dazu 6.). Bei dieser ist nach § 41a Abs 4 SGB II als Einkommen ein monatliches Durchschnittseinkommen zugrunde...

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