Urteil Nr. B 14 AS 41/19 R des Bundessozialgericht, 2020-09-03

Judgment Date03 Septiembre 2020
ECLIDE:BSG:2020:030920UB14AS4119R0
Judgement NumberB 14 AS 41/19 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Grundsicherung für Arbeitsuchende - Leistungsausschluss bei längerer stationärer Unterbringung - Aufenthalt zur Entwöhnungsbehandlung in einem Adaptionshaus - Gesamtverantwortung für die alltägliche Lebensführung - Einflussnahme des Einrichtungsträgers nach dem Therapiekonzept
Leitsätze

Eine Leistungen nach dem SGB II ausschließende Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung und Integration einer hilfebedürftigen Person hat der Träger einer Einrichtung, wenn ihm nach dem der Maßnahme zu deren Beginn zugrunde gelegten Therapiekonzept bis zu deren Abschluss ein bestimmender Einfluss auf die alltägliche Lebensführung der hilfebedürftigen Person zukommt.

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 26. Februar 2019 wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand

Im Streit steht die Gewährung existenzsichernder Leistungen nach dem SGB II während einer Adaptionsmaßnahme bei Suchterkrankung von November 2015 bis März 2016.

Die 1994 geborene Klägerin befand sich im Anschluss an eine halbjährige stationäre Suchtbehandlung von September 2015 bis März 2016 in einem Adaptionshaus, um die neu erlernten Verhaltensmechanismen unter alltagsrealistischen Bedingungen zu erproben. Sie bewohnte ein Apartment mit gesondertem Eingang und war für tägliche Aufgaben selbst zuständig. Die Teilnahme an Arbeitstrainings und Therapien war verpflichtend. Bei fehlender Motivation und Mitarbeit, unentschuldigten Fehlzeiten im Praktikum sowie nach Disziplinarverstößen war eine vorzeitige Entlassung möglich. Von einem für Therapien reservierten Werktag und einer Stunde Gruppengespräche wöchentlich abgesehen stand die Zeit von 6 bis 18 Uhr nach dem für alle Patienten einheitlichen Therapieplan zur Arbeitserprobung zur Verfügung. Bis 22 Uhr hatte eine Rückkehr ins Haus zu erfolgen. Ausgänge waren im Ausgangsbuch zu dokumentieren. Heimfahrten oder Ausgänge konnten untersagt oder verkürzt werden. Alkohol- und Urinuntersuchungen durften jederzeit durchgeführt und auswärtige Termine mussten mit den Betreuern abgestimmt werden.

Der Klägerin wurde Eingliederungshilfe für den Aufenthalt im Adaptionshaus und ein monatlicher Barbetrag nach § 27b Abs 2 SGB XII gewährt. Den Antrag auf existenzsichernde Leistungen nach dem SGB II lehnte das beklagte Jobcenter unter Verweis auf die stationäre Unterbringung im Adaptionshaus ab (Bescheid vom 2.12.2015; Widerspruchsbescheid vom 4.2.2016).

Das SG hat den Beklagten verpflichtet, der Klägerin für November 2015 bis März 2016 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II in Höhe von etwa 150 Euro monatlich zu gewähren; die Klägerin sei im Adaptionshaus nicht leistungsausschließend untergebracht gewesen, weil dessen Hilfekonzept mit einer Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes im Umfang von mindestens drei Stunden täglich vereinbar gewesen sei (Gerichtsbescheid vom 28.10.2016). Das LSG hat den Gerichtsbescheid auf die Berufung des Beklagten aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 26.2.2019): Die Klägerin sei von Leistungen ausgeschlossen, da das Adaptionshaus die Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung der Klägerin gehabt und damit eine Unterbringung vorgelegen habe. Die Rückausnahme nach § 7 Abs 4 Satz 3 Nr 2 SGB II greife mangels Erwerbstätigkeit im Umfang von mindestens drei Stunden täglich nicht.

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin als Verfahrensfehler eine unzureichende Sachaufklärung und einen Verstoß gegen Hinweispflichten. Materiell sei § 7 Abs 4 SGB II verletzt. Eine Unterbringung liege nicht vor. Das Therapiekonzept der Einrichtung stelle auf Eigenverantwortung ab und die Bewohner seien Selbstversorger, die ihre Tagesgestaltung weitgehend selbst beeinflussten. Die Hausordnung trage die Schlüsse des LSG nicht, weil die dort geforderte Abstinenz die Voraussetzung der Entwöhnungsbehandlung sei und das Adaptionshaus keine Gewähr für die Einhaltung der Regeln übernehme. Die Mitarbeiter könnten Ausgänge aufgrund ihrer Arbeits- und Anwesenheitszeiten nicht kontrollieren.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 26. Februar 2019 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Schwerin vom 28. Oktober 2016 zurückzuweisen.

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Zutreffend hat das LSG entschieden, dass die Klägerin in einer stationären Einrichtung untergebracht und deswegen von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen war.

1. Streitgegenstand ist neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Bescheid vom 2.12.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4.2.2016, durch den der Beklagte den Antrag der Klägerin auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II abgelehnt hat; entsprechend der mit der Revision erstrebten Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung beschränkt auf den Zeitraum von November 2015 bis März 2016 und auf Alg II zur Deckung des Regelbedarfs.

2. Prozessuale Hindernisse stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen. Insbesondere ist der Sozialhilfeträger nicht nach § 75 Abs 2 Alt 1 SGG notwendig beizuladen, weil er bereits Leistungen erbracht hat (BSG vom 12.11.2015 - B 14 AS 6/15 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 45 RdNr 11).

3. Rechtsgrundlage des geltend gemachten Leistungsanspruchs ist § 19 iVm §§ 7 ff und § 20 SGB II in der Fassung, die das SGB II für die streitbefangenen Monate zuletzt durch das Gesetz vom 24.6.2015 (BGBl I 974) erhalten hat (Geltungszeitraumprinzip, vgl BSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 53/15 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 78 RdNr 14 f). Danach war die 1994 geborene und zu Beginn des Streitzeitraums 21 Jahre alte Klägerin nach den Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) zwar leistungsberechtigt nach § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II, insbesondere erwerbsfähig (§ 7 Abs 1 Satz 1 Nr 2, § 8 SGB II) und hilfebedürftig (§ 7 Abs 1 Satz 1 Nr 3, § 9 Abs 1 SGB II). Jedoch war sie im Adaptionshaus nach § 7 Abs 4 Satz 1 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Leistungen nach dem SGB II erhält hiernach nicht, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, Rente wegen Alters oder Knappschaftsausgleichsleistung oder ähnliche Leistungen öffentlich-rechtlicher Art bezieht. Ausgenommen hiervon ist abgesehen von Krankenhausaufenthalten von voraussichtlich weniger als sechs Monaten (§ 7 Abs 4 Satz 3 Nr 1 SGB II) nur, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht und unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 15 Stunden wöchentlich erwerbstätig ist (§ 7 Abs 4 Satz 3 Nr 2 SGB II). Hiernach ist eine stationär versorgte erwerbsfähige hilfebedürftige Person dem Existenzsicherungssystem des SGB II nicht schon dann zugeordnet, wenn das Therapiekonzept der Einrichtung die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes im Umfang von mindestens 15 Stunden wöchentlich erlaubt, wie vom SG angenommen. Ist die Zuordnung nach § 7 Abs 4 Satz 1 SGB II nicht durch eine tatsächliche Erwerbstätigkeit in zumindest diesem Umfang widerlegt, ist die hilfebedürftige Person von Leistungen nach dem SGB II vielmehr ausgeschlossen, solange dem Träger der Einrichtung nach Maßgabe seines Konzeptes die Gesamtverantwortung für ihre tägliche Lebensführung und Integration zukommt (dazu 4. und 5.). Das hat das LSG hier zutreffend angenommen (dazu 6.).

4. Übernimmt der Träger einer Einrichtung nach § 7 Abs 4 SGB II die Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung und die Integration einer hilfebedürftigen Person, eröffnet die in seinem Therapiekonzept angelegte Möglichkeit einer Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in einem Umfang von mindestens 15 Stunden wöchentlich den Zugang zu existenzsichernden Leistungen nach dem SGB II nur, wenn eine Erwerbstätigkeit mindestens in diesem Umfang tatsächlich ausgeübt wird.

a) Bis zur aktuellen, durch das Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.7.2006 (BGBl I 1706; im Folgenden GSiFoG) begründeten Fassung von § 7 Abs 4 Satz 1 SGB II erhielt Leistungen nach dem SGB II nicht, wer für länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht war oder Rente wegen Alters bezog (§ 7 A...

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