Urteil Nr. B 14 AS 55/19 R des Bundessozialgericht, 2020-09-03

Judgment Date03 Septiembre 2020
ECLIDE:BSG:2020:030920UB14AS5519R1
Judgement NumberB 14 AS 55/19 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Grundsicherung für Arbeitsuchende - Hilfebedürftigkeit - Zusammenleben mit Verwandten in Haushaltsgemeinschaft - Vermutung von Unterstützungsleistungen - Einkommens- und Vermögensberücksichtigung - sozialgerichtliches Verfahren - Einbeziehung neuer Verwaltungsakte nach Klageerhebung
Leitsätze

1. Bei den in einer Haushaltsgemeinschaft vermuteten Unterstützungsleistungen handelt es sich (stets) um Einnahmen des - ansonsten - hilfebedürftigen Angehörigen.

2. Eine wechselseitige Vermögensberücksichtigung findet in einer Haushaltsgemeinschaft nicht statt.

3. Im Streit um die Höhe der zu bewilligenden Leistungen wird ein nach Klageerhebung ergehender Aufhebungs- und Erstattungsbescheid kraft Gesetzes Gegenstand des Klageverfahrens.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. November 2018 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

Streitig sind die vollständige Rücknahme der Leistungsbewilligungen für den Zeitraum 2.4. bis 30.9.2013 sowie die Festsetzung einer entsprechenden Erstattungsforderung durch das beklagte Jobcenter gegenüber der Klägerin.

Die Klägerin lebte zusammen mit ihrem Ehemann und zwei gemeinsamen Kindern. Ihr Ehemann stellte im Januar 2013 einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II. Dabei verneinte er Fragen danach, ob Wertpapiere oder Bausparverträge bei den Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft vorhanden seien. Er verstarb Ende März/Anfang April 2013; das genaue Todesdatum ist nicht bekannt. Der Beklagte bewilligte Leistungen ua für die Monate April bis September 2013, ohne in diesem Zeitraum Vermögen zu berücksichtigen (zuletzt mit Bescheiden vom 23.4.2013; Widerspruchsbescheid vom 10.6.2013).

Während des zunächst auf höhere Leistungen gerichteten Klageverfahrens vor dem SG hat der Beklagte durch einen Datenabgleich von einem im gesamten streitgegenständlichen Zeitraum vorhandenen Bausparvermögen der Tochter in Höhe von 5293,45 Euro sowie weiterem Vermögen der Klägerin erfahren. Nach dem Inhalt des Datenabgleichs unterhielt die Klägerin zudem ein Aktiendepot, von dem streitig ist, ob es dem Vermögen ihres Vaters zuzurechnen ist. Nach erfolgter Anhörung hat der Beklagte die Bewilligung von Leistungen für den Zeitraum 2.4. bis 30.9.2013 vollständig zurückgenommen und verlangt von der Klägerin eine Erstattung in Höhe von 3814,83 Euro (Bescheid vom 14.5.2014). Das SG hat die auf höhere Leistungen und auf Aufhebung des Bescheids vom 14.5.2014 gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 10.1.2017). Das LSG hat die zuletzt allein gegen die Rücknahme und Festsetzung der Erstattungsforderung gerichtete Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 14.11.2018). Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 14.5.2014 sei nach § 96 SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden. Die Klägerin sei nicht hilfebedürftig gewesen. Es könne offenbleiben, ob die Klägerin selbst über Vermögen, insbesondere in Form von Aktienvermögen, verfügt habe. Denn das Vermögen der Tochter übersteige die Freibeträge und sei der Klägerin über die Vermutungsregelung nach § 9 Abs 5 SGB II zuzurechnen. Die Klägerin habe mit ihrer Tochter in einer Haushaltsgemeinschaft gelebt. Die Erbringung von Unterhaltsleistungen könne erwartet werden. Soweit das Bausparguthaben nicht geschützt sei, könne aus ihm der Bedarf der Tochter und der Klägerin gedeckt werden. Tatsachen, die geeignet seien, Zweifel an der Richtigkeit der Vermutung zu begründen, seien von der Klägerin nicht dargetan und auch sonst aus den Akten nicht ersichtlich. Die Klägerin könne sich nicht auf Vertrauensschutz berufen, weil sie sich die wissentlich falschen Angaben ihres verstorbenen Ehemannes zurechnen lassen müsse.

Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung von § 9 Abs 5 und § 12 SGB II. Sie habe das Vermögen der Tochter nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts nicht für den eigenen Unterhalt verwerten dürfen. Im Übrigen sei eine Verwertung nicht erfolgt.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. November 2018 aufzuheben, das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 10. Januar 2017 zu ändern sowie den Bescheid des Beklagten vom 14. Mai 2014 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Auf der Grundlage der Feststellungen des LSG kann der Senat nicht abschließend darüber entscheiden, ob die Klägerin einen Anspruch auf Alg II hatte und der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid deshalb rechtswidrig ist.

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Bescheid vom 14.5.2014. Streitbefangen ist der Zeitraum 2.4. bis 30.9.2013, weil die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG nur die Aufhebung des diesen Zeitraum regelnden Bescheids vom 14.5.2014 beantragt hat. Die Klägerin verfolgt ihr Begehren zutreffend mit der reinen Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 Var 1 SGG).

2. Prozessuale Hindernisse stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen. Der nach Klageerhebung ergangene Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 14.5.2014 ist kraft Gesetzes Gegenstand des Klageverfahrens geworden, weil er die ursprünglich streitgegenständlichen Bescheide vom 23.4.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.6.2013 ersetzt hat (§ 96 SGG). Eine ggf unzutreffend erfolgte Einbeziehung eines Verwaltungsakts nach § 96 SGG ist im Revisionsverfahren von Amts wegen zu berücksichtigen (BSG vom 9.12.2003 - B 2 U 54/02 R - BSGE 91, 287 RdNr 6 = SozR 4-2700 § 160 Nr 1 RdNr 17; Estelmann in Zeihe/Hauck, SGG, § 96 RdNr 5a, Stand März 2019).

a) Nach § 96 Abs 1 SGG (idF des SGG / ArbGGÄndG vom 26.3.2008, BGBl I 444) wird ein neuer Verwaltungsakt nur dann Gegenstand des Klageverfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheids ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Die Vorschrift verfolgt die Ziele, eine schnelle, erschöpfende Entscheidung über das gesamte Streitverhältnis in einem Verfahren zu ermöglichen, divergierende Entscheidungen zu vermeiden und den Kläger vor Rechtsnachteilen zu schützen, die ihm daraus erwachsen, dass er im Vertrauen auf den eingelegten Rechtsbehelf bezüglich weiterer Verwaltungsakte rechtliche Schritte unterlässt (BT-Drucks 16/7716 S 18 f; zum Gesetzeszweck BSG vom 7.11.2017 - B 1 KR 24/17 R - BSGE 124, 251 = SozR 4-2500 § 13 Nr 39, RdNr 12). Durch die im Jahr 2008 erfolgte Neuregelung ("nur dann") trat der Gesetzgeber einer extensiven Auslegung entgegen. Neue Verwaltungsakte sollen nicht schon deswegen in das Verfahren einbezogen werden, weil der neue Verwaltungsakt mit dem anhängigen Streitgegenstand in irgendeinem tatsächlichen oder rechtlichen Zusammenhang steht (BT-Drucks 16/7716 S 18 f).

Voraussetzung für die Anwendung des § 96 Abs 1 SGG ist danach eine zumindest teilweise Identität der Regelungsgegenstände beider Verwaltungsakte, die ähnlich wie der Streitgegenstand durch einen Vergleich beider Verfügungssätze sowie des zugrunde liegenden Sachverhaltes zu ermitteln sind; ein bloßer Sachzusammenhang genügt nicht (vgl nur BSG vom 28.10.2014 - B 14 AS 39/13 R - SozR 4-1300 § 44 Nr 31 RdNr 11 mwN).

b) Danach hat der Bescheid vom 14.5.2014, soweit er die (vollständige) Aufhebung der ursprünglichen Bewilligung von Leistungen verfügt hat, diese Bewilligungsentscheidungen ersetzt. Ein Bescheid, der eine angegriffene Leistungsbewilligung aufhebt, ersetzt diese iS des § 96 Abs 1 SGG und wird deshalb Gegenstand des Klageverfahrens (vgl nur BSG vom 17.12.2015 - B 8 SO 14/14 R - RdNr 11; Klein in jurisPK-SGG, 2017, § 96 RdNr 30; Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 96 RdNr 5). Die Bewilligungsentscheidung enthält nicht nur die Regelung, dass der Beklagte zur Zahlung verpflichtet ist. Vielmehr enthält jede endgültige Bewilligung (in Abgrenzung zur vorläufigen Entscheidung nunmehr nach § 41a SGB II) zugleich die Regelung, dass der Leistungsempfänger die erhaltenen Zahlungen auch behalten darf. In diesem Sinne bildet die Bewilligungsentscheidung den von der materiellen Rechtslage unabhängigen Rechtsgrund für das Behaltendürfen der Leistung (vgl nur Stelkens in...

Um weiterzulesen

FORDERN SIE IHR PROBEABO AN

VLEX uses login cookies to provide you with a better browsing experience. If you click on 'Accept' or continue browsing this site we consider that you accept our cookie policy. ACCEPT