Urteil Nr. B 14 AS 42/19 R des Bundessozialgericht, 2021-01-27

Judgment Date27 Enero 2021
ECLIDE:BSG:2021:270121UB14AS4219R0
Judgement NumberB 14 AS 42/19 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Tenor

Auf die Revisionen der Kläger wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 14. Juni 2018 aufgehoben und die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bremen vom 4. Oktober 2016 zurückgewiesen.

Der Beklagte hat den Klägern die Kosten auch für das Berufungs- und das Revisionsverfahren zu erstatten.

Tatbestand

Im Streit stehen existenzsichernde Leistungen von April bis Juli 2013.

Der Kläger zu 1 und die Klägerin zu 2 sind verheiratet und die Eltern der 2006 geborenen Klägerin zu 3. Sie sind bulgarische Staatsangehörige. Der Kläger zu 1 war ab 2010 mit Unterbrechungen als Helfer in einem Elektrobetrieb in Teilzeit beschäftigt, zuletzt von etwa Mitte Juli bis Mitte September 2012. Die Klägerin zu 3 besuchte seit August 2012 die Schule. Das beklagte Jobcenter bewilligte den Klägern zuletzt Leistungen bis März 2013. Der Folgeantrag auf Leistungen ab April 2013 wurde zunächst nicht beschieden. Auf einen Eilantrag hin verpflichtete das SG den Beklagten, den Klägern vorläufig Leistungen ab April 2013 längstens bis September 2013 in gesetzlicher Höhe zu gewähren (Beschluss vom 24.4.2013 - S 28 AS 629/13 ER), was der Beklagte auch umsetzte. Später lehnte der Beklagte den Leistungsantrag unter Berufung auf den Leistungsausschluss für nur zur Arbeitsuche aufenthaltsberechtigte Unionsbürger ab (Bescheid vom 5.6.2013; Widerspruchsbescheid vom 9.7.2013).

Das SG hat den Beklagten verurteilt, den Klägern Leistungen für den Streitzeitraum in gesetzlicher Höhe zu gewähren (Gerichtsbescheid vom 4.10.2016). Die Kläger seien wegen der zuletzt ausgeübten Beschäftigung und dem Schulbesuch der Klägerin zu 3 nach Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 aufenthaltsberechtigt und nicht nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen. Auf die Berufung des Beklagten hat das LSG den Gerichtsbescheid aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 14.6.2018). Die Kläger seien von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, weil sich ein Aufenthaltsrecht nur aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe. Ein Aufenthaltsrecht aus Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 bestehe nicht, weil die Kläger zu 1 und 2 seit Einschulung der Klägerin zu 3 bis zum Ende des streitigen Zeitraums keine Arbeitnehmer gewesen seien. Die zuletzt von Mitte Juli bis Mitte September 2012 ausgeübte Tätigkeit des Klägers zu 1 sei von vornherein nur für einen kurzen Zeitraum und für eine untergeordnete Helfertätigkeit geplant gewesen.

Mit ihren Revisionen rügen die Kläger eine Verletzung des Art 10 VO (EU) Nr 492/2011. Der Kläger zu 1 sei von Mitte Juli bis Mitte September 2012 Arbeitnehmer gewesen. Das Aufenthaltsrecht aus Art 10 der Verordnung schließe die Anwendung von § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II aus.

Die Kläger beantragen,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 14. Juni 2018 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bremen vom 4. Oktober 2016 zurückzuweisen.

Der Beklagte beantragt,
die Revisionen zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die zulässigen Revisionen sind begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Die Kläger haben dem Grunde nach einen Anspruch auf Alg II/Sozialgeld, weil sie sich auf ein Aufenthaltsrecht nach Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 berufen können und deswegen nicht von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind.

1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Bescheid vom 5.6.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9.7.2013, worin der Beklagte den Antrag auf Alg II/Sozialgeld ablehnte. Streitig ist der Zeitraum von April bis Juli 2013, für den das SG den Beklagten zur Leistung verurteilt hat und wogegen nur der Beklagte Berufung eingelegt hat.

2. Verfahrenshindernisse stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen. Zutreffende Klageart ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG).

3. Rechtsgrundlage für den Anspruch auf Alg II/Sozialgeld sind die Vorschriften der §§ 7 ff, 19 ff SGB II in der Fassung, die das SGB II vor Beginn der jeweils streitbefangenen Monate zuletzt durch das Gesetz zur Stärkung der beruflichen Aus- und Weiterbildung in der Altenpflege vom 13.3.2013 (BGBl I 446) erhalten hat (im Folgenden "SGB II aF"; Geltungszeitraumprinzip - vgl BSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 53/15 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 78 RdNr 14 f). Insbesondere lässt sich dem Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch vom 22.12.2016 (BGBl I 3155, nachfolgend: Gesetz vom 22.12.2016) nicht entnehmen, dass es sich Geltung für die Zeit vor seinem Inkrafttreten am 29.12.2016 beimisst (letztens BSG vom 12.9.2018 - B 14 AS 18/17 R - RdNr 14 mwN).

Die Kläger erfüllten die allgemeinen Leistungsvoraussetzungen nach dem SGB II (dazu 4.). Ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II aF lag nicht vor, insbesondere konnten sich die Kläger auf ein Aufenthaltsrecht aus Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 (dazu 5.) berufen. Der Kläger zu 1 war nach europarechtlichen Maßstäben Arbeitnehmer (dazu 6.). Die weiteren Voraussetzungen für ein Aufenthaltsrecht aus Art 10 VO (EU) Nr 492/2011 lagen ebenfalls vor (dazu 7.).

4. Die Kläger zu 1 und 2 sind nach § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II leistungsberechtigt. Sie hatten das 15. Lebensjahr vollendet, die Altersgrenze des § 7a SGB II noch nicht, waren hilfebedürftig und hatten ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Von ihrer Erwerbsfähigkeit gemäß § 8 SGB II ist auszugehen (vgl zu § 8 Abs 2 SGB II BSG vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R - BSGE 113, 60 = SozR 4-4200 § 7 Nr 34, RdNr 14 ff). Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass sie ihre Bedarfe vollständig aus eigenem Einkommen und...

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