Urteil Nr. B 14 AS 19/20 R des Bundessozialgericht, 2021-05-19

Judgment Date19 Mayo 2021
ECLIDE:BSG:2021:190521UB14AS1920R0
Judgement NumberB 14 AS 19/20 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Arbeitslosengeld II - Unterkunft und Heizung - nachträgliche Gebührenforderung für die Nutzung von Wohnraum in einer Aufnahmeeinrichtung in der Zeit nach Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft bis zum Umzug in eine neue Unterkunft mit vorheriger Zusicherung des Grundsicherungsträgers - aktueller Unterkunftsbedarf im Fälligkeitsmonat - sozialgerichtliches Verfahren - Ersetzungsbescheid als alleiniger Streitgegenstand
Leitsätze

Nachträglich für die Nutzung von Wohnraum in Aufnahmeeinrichtungen erhobene Gebühren sind bei späterer Fälligkeit keine dem Zeitpunkt der tatsächlichen Nutzung zuzuordnende Bedarfe, sondern im Monat ihrer Fälligkeit beim Arbeitslosengeld II zu berücksichtigen.

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 9. Oktober 2019 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

Umstritten sind Leistungen für Unterkunft und Heizung wegen Gebühren, die für die Nutzung einer Aufnahmeeinrichtung entstanden und später fällig geworden sind.

Der 1961 geborene Kläger und die 1968 geborene Klägerin zu 2 sind die Eltern der 1993 bzw 2000 geborenen Klägerinnen zu 3 und 4. Die Kläger sind syrische Staatsangehörige. Sie hielten sich seit Mitte 2015 im Landkreis A auf, in dem das beklagte Jobcenter die Aufgaben der Träger nach dem SGB II wahrnimmt. Sie wohnten in einer Aufnahmeeinrichtung und erhielten Leistungen nach dem AsylbLG, dabei die Unterkunft als Sachleistung. Nachdem die Flüchtlingseigenschaft der Kläger anerkannt worden war, stellte der Landkreis die Leistungen nach dem AsylbLG zum Ende des Februar 2016 ein. Die Kläger blieben zunächst in der Aufnahmeeinrichtung wohnen. Der Beklagte bewilligte Regelbedarfe für März bis August 2016. Nachdem die Kläger die Zusicherung zu einem Umzug in den örtlichen Zuständigkeitsbereich des beigeladenen Jobcenters beantragt hatten, bestätigte der Beigeladene die Angemessenheit der von den Klägern dort angemieteten Wohnung. Wegen des Umzugs der Kläger zum 1.8.2016 hob der Beklagte seine Bewilligung von Alg II zum Ende des Juli 2016 auf. Der Beigeladene gewährte ab August 2016 Alg II unter Berücksichtigung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung der nunmehr bewohnten Wohnung.

Im April 2017 erließ die Regierung von U als "zentrale Gebührenabrechnungsstelle" an die Kläger gerichtete Gebührenbescheide wegen des Aufenthalts in der Aufnahmeeinrichtung von März bis Juli 2016. Darin setzte sie monatliche Gebühren für die Nutzung der Unterkunft gegen den Kläger in Höhe von 185 Euro und - ausgenommen März 2016 für die Klägerin zu 2 - für die Klägerinnen in Höhe von jeweils 65 Euro fest. Die Gebührenforderungen wurden im Mai 2017 fällig.

Der Beklagte verwies wegen des Ausgleichs der Gebühren auf den Beigeladenen (Schreiben vom 9.5.2017). Den Widerspruch hiergegen mit Schreiben vom 30.6.2017 verwarf er als unzulässig, weil das Schreiben kein Verwaltungsakt sei (Widerspruchsbescheid vom 27.9.2017). Nach Erhebung der Klage beschied der Beklagte das Schreiben vom 30.6.2017 sowie einen Antrag der Kläger vom 26.9.2017 auf Rücknahme seiner Bescheide für März bis Juli 2016 (Bescheid vom 7.11.2017). Er werde keine Unterkunftskosten auf den Gebührenbescheid gewähren, weil er nach dem Umzug nicht zuständig sei. Der Bescheid ersetze das Schreiben vom 9.5.2017 und werde Gegenstand des Klageverfahrens. Den Widerspruch gegen den Bescheid vom 7.11.2017 wies der Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 8.2.2018), dieser sei wegen § 96 SGG unzulässig und in der Sache unbegründet. Gegen den Bescheid vom 7.11.2017 und den Widerspruchsbescheid vom 8.2.2018 haben die Kläger ebenfalls Klage erhoben (S 35 AS 964/18). Auch der Beigeladene lehnte die Übernahme der Gebühren ab, weil er nicht zuständig sei. Hierzu ist ein weiteres Klageverfahren anhängig (S 35 AS 1368/18).

Das SG hat die Klagen gegen den Bescheid vom 9.5.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.9.2017 abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 25.5.2018). Das LSG hat diese Bescheide und den Gerichtsbescheid geändert. Es hat den Beklagten verurteilt, den Klägern für jeden der Monate März bis Juli 2016 Leistungen für die Bedarfe für Unterkunft und Heizung zu bewilligen, und zwar dem Kläger jeweils 185 Euro und den Klägerinnen jeweils 65 Euro (Urteil vom 9.10.2019). Der Beklagte müsse zahlen, weil die Gebührenforderungen als Bedarfe den Monaten zuzuordnen seien, in denen die Kläger in der Aufnahmeeinrichtung gelebt hätten. Daran ändere § 26 Abs 2 Satz 1 der bayrischen Verordnung zur Durchführung des Asylverfahrensgesetzes, des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Aufnahmegesetzes vom 4.6.2002 in der Fassung der Änderungsverordnung vom 13.4.2004 (DVAsyl 2002/2004), wonach die Fälligkeit mit der Bekanntgabe des Gebührenbescheids eintrete, nichts. Die Kosten seien den Monaten der Bedarfsentstehung durch den faktischen Bedarf für eine Wohnung zuzuordnen. Eine Zuordnung nach einem disponiblen, auch durch Dritte bestimmten Fälligkeitszeitpunkt ermögliche Manipulationen. Der Beklagte sei auch wegen der Gebühren für die Klägerin zu 2 im März 2016 zu verurteilen, weil deren Festsetzung in Aussicht gestellt worden sei.

Der Beklagte rügt mit seiner Revision eine Verletzung des § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II. Das LSG habe offengelassen, nach welcher Vorschrift die Bewilligungen für März bis Juli 2016 abgeändert werden sollten und das Monatsprinzip verkannt. Der Bedarf bestehe nur in den zu leistenden Geldbeträgen. Laufende wie einmalige Aufwendungen seien dem Fälligkeitsmonat zuzuordnen.

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 9. Oktober 2019 aufzuheben und die Berufungen der Kläger gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Duisburg vom 25. Mai 2018 zurückzuweisen.

Die Kläger verteidigen das angefochtene Urteil und beantragen,
die Revision zurückzuweisen.

Der Beigeladene beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das Urteil des LSG verletzt § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II. Der Beklagte hat den Klägern keine Leistungen für Unterkunft und Heizung zu zahlen. Die Sache ist zurückzuverweisen, weil der Senat nicht abschließend darüber entscheiden kann, ob und in welchem Umfang der Beigeladene zu verurteilen ist.

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind neben den vorinstanzlichen Entscheidungen nur noch der Bescheid des Beklagten vom 7.11.2017 und der Widerspruchsbescheid vom 8.2.2018 (zu letzterem siehe 6.). Der Bescheid vom 7.11.2017 hat den Bescheid vom 9.5.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.9.2017 erledigt (§ 39 Abs 2 SGB X) und ist als ersetzender Bescheid alleiniger Gegenstand des Verfahrens geworden (§ 96 Abs 1 SGG; vgl BSG vom 16.6.2015 - B 4 AS 37/14 R - SozR 4-4200 § 27 Nr 2 RdNr 13), was vom Revisionsgericht als Prozessvoraussetzung von Amts wegen zu beachten ist (vgl BSG vom 29.4.2015 - B 14 AS 8/14 R - BSGE 119, 7 = SozR 4-4200 § 21 Nr 22, RdNr 10 mwN). Das Schreiben vom 9.5.2017 war ein Verwaltungsakt iS von § 31 Satz 1 SGB X, weshalb die Wirkungen des § 96 Abs 1 SGG eintreten konnten. Dies ergibt sich nach Auslegung anhand des objektiven Empfängerhorizonts, zu der das BSG als Revisionsgericht berufen ist (dazu eingehend BSG vom 25.10.2017 - B 14 AS 9/17 R - SozR 4-1300 § 45 Nr 19 RdNr 24). Ausgehend hiervon lassen die vor dem Bekanntwerden der Gebührenbescheide beim Beklagten durch diesen erlassenen Bescheide über das Alg II den Schluss nicht zu, in ihnen seien auch Regelungen zu Leistungen für Unterkunft und Heizung verfügt (vgl zur Eigenständigkeit von Leistungen und...

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