Urteil Nr. B 2 U 35/17 R des Bundessozialgericht, 2019-08-20
Judgment Date | 20 Agosto 2019 |
ECLI | DE:BSG:2019:200819UB2U3517R0 |
Judgement Number | B 2 U 35/17 R |
Court | Der Bundessozialgericht (Deutschland) |
1. Unabhängig von jagdrechtlichen Regelungen liegt im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung ein einheitliches "Unternehmen" vor, wenn materielle und immaterielle Mittel in einer organisatorischen, äußerlich abgrenzbaren Einheit planvoll für eine gewisse Dauer zusammengefasst werden, die unter einheitlicher Führung stehen und ihrerseits einen bestimmten Zweck verfolgen.
2. Zum gestuften Beitragsverfahren in der gesetzlichen Unfallversicherung.
TenorDie Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 19. Oktober 2017 wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte für die beiden Jagdreviere, die der Kläger in seiner Eigenschaft als Hauptgeschäftsführer des Bayerischen Jagdverbands eV (BJV) gepachtet hat, Grundbeiträge iHv jeweils 75,00 Euro für das Umlagejahr 2012 festsetzen durfte.
Der BJV nutzt die benachbarten Jagdreviere als Lehrreviere und setzt dafür Arbeitskräfte und Betriebsmittel wechselseitig ein. Pächter und Leiter beider Jagdreviere ist der Kläger, der damit zugleich Pflichten aus seinem Dienstvertrag mit dem BJV erfüllt. Die Rechtsvorgängerin der Beklagten richtete ihren Aufnahmebescheid vom 4.12.2003 an den Kläger, bezeichnete die Jagdreviere jeweils als "Unternehmen" und ordnete ihnen verschiedene Unternehmensnummern zu. Ferner setzte sie jeweils getrennte Veranlagungswerte fest und erläuterte, der Bescheid wirke "sich erst zukünftig beitragsmäßig aus" und gebe darüber Aufschluss, welche Unternehmen erfasst seien. In den Folgejahren erhob sie für beide Jagdreviere - neben den jeweiligen Umlagebeiträgen - nur einen Grundbeitrag.
Erstmals für das Jahr 2012 setzte die Beklagte davon abweichend die Umlage nicht in einem gemeinsamen Bescheid für beide Jagdreviere, sondern mit zwei getrennten Bescheiden fest und berücksichtigte dabei Grundbeiträge iHv jeweils 75,00 Euro für jedes Jagdrevier gesondert (Bescheide vom 29.1.2013 und Widerspruchsbescheid vom 18.6.2013). Das SG hat die Klage - unter Zulassung der Berufung - abgewiesen (Urteil vom 30.6.2014), weil die beiden Jagdreviere zwei selbständige (Haupt-)Unternehmen seien, wie aus dem Bundesjagdgesetz (BJagdG) folge. Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 19.10.2017): Beide Jagdreviere seien selbständige (Jagd-)Unternehmen des Klägers iS des § 123 Abs 1 Nr 5 SGB VII. Dies ergebe sich zwar noch nicht unmittelbar aus dem Aufnahmebescheid vom 4.12.2003, der beide Jagdreviere als getrennte Unternehmen aufführe, sondern folge aus dem BJagdG und dem Bayerischen Jagdgesetz, die das Recht zur Jagdausübung an behördlich festgelegte Jagdbezirke (Jagdreviere) koppelten. Deshalb sei die Beklagte befugt gewesen, den Grundbeitrag iHv 75,00 Euro für jedes (Jagd-)Unternehmen gesondert zu erheben, zumal die Jagdreviere nicht im Verhältnis von Haupt- und Nebenunternehmen zueinander stünden. Keinesfalls knüpfe die Beklagte sachwidrig an die Jagdbezirke an, die ihr die Jagdbehörden mit unterschiedlichen Reviernummern meldeten. Eine verfassungswidrige Ungleichbehandlung der Jagdunternehmen gegenüber sonstigen landwirtschaftlichen Unternehmen sei nicht erkennbar.
Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 123 Abs 1 Nr 5 iVm § 121 Abs 1 SGB VII. Beide Jagdreviere seien Teile eines einheitlichen Unternehmens, weil sie unter einer Leitung stünden und zwischen ihnen ein wirtschaftlicher und betriebstechnischer Zusammenhang bestehe. Die Zahl der Jagdbezirke dürfe nicht mit der Zahl der versicherten Jagdunternehmen gleichgesetzt werden. Soweit sich die Beklagte auf die Bindungswirkung des Aufnahmebescheids ihrer Rechtsvorgängerin berufe, sei dies angesichts der jahrelangen, abweichenden Verwaltungspraxis rechtsmissbräuchlich und nicht vorhersehbar gewesen.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 19. Oktober 2017 und des Sozialgerichts München vom 30. Juni 2014 sowie die Bescheide der Beklagten vom 29. Januar 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18. Juni 2013 aufzuheben.
Die Beklagte, die dem angefochtenen Urteil beipflichtet, beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Revision des Klägers ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 S 1 SGG). Zu Recht hat das LSG die kraft Zulassung (§ 144 Abs 1 S 1 Nr 1 SGG) statthafte (§ 143 SGG) Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des SG zurückgewiesen. Die isolierten (Teil-)Anfechtungsklagen (§ 54 Abs 1 S 1 Var 1, § 56 SGG) sind unbegründet, weil die Festsetzungen der Gesamtbeiträge für das Jahr 2012 und die entsprechenden Zahlungsgebote in den Umlagebescheiden der Beklagen vom 29.1.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.6.2013 (§ 95 SGG) formell und materiell rechtmäßig sind, soweit sie der Kläger im Wege der Teilanfechtung angegriffen hat. Allerdings erweisen sich die Verwaltungsakte in dem Aufnahmebescheid der Beklagten vom 4.12.2003 als rechtswidrig, ohne dass dies hier eine Auswirkung auf den Ausgang des Verfahrens haben kann.
Die isolierten (Teil-)Anfechtungsklagen sind statthaft. In den Beitragsbescheiden hat die Beklagte jeweils durch feststellenden Verwaltungsakt einen Gesamtbeitrag festgesetzt, der sich aus der Summe des Grundbeitrags iHv 75,00 Euro und eines variablen Umlagebeitrags zusammensetzt (§ 221 Abs 3 S 1 SGB VII iVm § 46 Abs 1 S 1 und Abs 2 der Satzung der land- und forstwirtschaftlichen BG Franken und Oberbayern). Da es sich bei diesen Berechnungsfaktoren jeweils um zahlenmäßig abgrenzbare Teilbeträge handelt (vgl dazu BSG Urteile vom 27.5.2014 - B 5 R 6/13 R - BSGE 116, 64 = SozR 4-2600 § 97 Nr 2, RdNr 15 und vom 4.12.2014 - B 5 RE 12/14 R - SozR 4-2600 § 165 Nr 1 RdNr 10), die einander nicht wechselseitig beeinflussen, durfte sich der Kläger auf die Teilanfechtung des Grundbeitrags iHv 75,00 Euro beschränken und konnte die Bescheide im Übrigen, dh hinsichtlich des Umlagebeitrags, bestandskräftig (§ 77 SGG) werden lassen. Soweit der Kläger vor dem LSG eine kombinierte (Teil-)Anfechtungs- und Verpflichtungsklage erhoben und im erstinstanzlichen Verfahren beantragt hatte, beide Bescheide vom 29.1.2013 nur "insoweit aufzuheben, als ein doppelter Grundbeitrag berechnet wird", diente dies nur der Umschreibung des von Anfang an unverändert verfolgten Klagebegehrens (§ 123 SGG), sodass keine im Revisionsverfahren unzulässige Klageänderung (§ 168 S 1, § 99 Abs 3 SGG) vorliegt. Denn mit den vorinstanzlichen Anträgen brachte der Kläger zum Ausdruck, dass er nur die Festsetzung zweier Grundbeiträge in unterschiedlichen Bescheiden iHv insgesamt 150,00 Euro für rechtswidrig hält und die Festsetzung eines Grundbeitrags iHv 75,00 Euro für beide Jagdreviere in einem Beitragsbescheid - wie in den Vorjahren - akzeptieren würde. Dieses Ziel ist jedoch nur nach (Teil-)Aufhebung beider Verwaltungsakte über die Gesamtbeiträge iHv jeweils 75,00 Euro (insgesamt 150,00 Euro) und dem entsprechenden Neuerlass eines Verwaltungsakts über 75,00 Euro erreichbar. Im vorliegenden Verfahren kann der Kläger jedoch nur die (Teil-)Aufhebung geltend machen und muss den möglichen (belastenden) Neuerlass eines (Korrektur-)Verwaltungsakts der Beklagten überlassen.
Ermächtigungsgrundlage für die Umlageforderung der Beklagten ist § 183 Abs 5 S 1 SGB VII. Danach teilt die landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft den Unternehmern den von ihnen zu zahlenden Beitrag schriftlich mit. Diese "Mitteilung" ist keine bloße Bekanntgabe einer kraft Gesetzes bestehenden Zahlungspflicht, sondern ein an den Beitragspflichtigen gerichtetes vollstreckbares Zahlungsgebot ("Beitragsbescheid", § 183 Abs 5 S 2 SGB VII; vgl BSG Urteile vom 23.1.2018 - B 2 U 4/16 R - BSGE 125, 120 = SozR 4-2700 § 123 Nr 3, RdNr 15 und vom 20.7.2010 - B 2 U 7/10 R - SozR 4-2700 § 150 Nr 5 RdNr 9). Die Festsetzungen der Beiträge für das Jahr 2012 und die entsprechenden Zahlungsgebote in den beiden Umlagebescheiden der Beklagten vom 29.1.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.6.2013 sind formell (A.) und materiell (B.) rechtmäßig.
A. Die Beitragsbescheide sind formell rechtmäßig. Sie waren nicht wegen Anhörungsmängeln aufzuheben (§ 42 S 2 SGB X). Die Beklagte hat die erforderliche Anhörung (§ 24 Abs 1 SGB X), von der sie nicht abgesehen hat (§ 24 Abs 2 SGB X; vgl BSG Urteil vom 23.1.2018 - B 2 U 4/16 R - BSGE 125, 120 = SozR 4-2700 § 123 Nr 3, RdNr 16 - "Haus und Ziergarten" - kritisch zur Anhörungspflicht Ricke, WzS 2018, 311 ff), im Widerspruchsverfahren wirksam nachgeholt. Der Anhörungsfehler ist dadurch "unbeachtlich" (§ 41 Abs 1 Nr 3, Abs 2 SGB X) geworden. Diese sog "Heilung" des Anhörungsmangels erfordert qualifizierte Nachholungshandlungen der Behörde; die bloße Erhebung des Widerspruchs genügt nicht (BSG Urteile vom 26.9.1991 - 4 RK 4/91 - BSGE 69, 247 = SozR 3-1300 § 24 Nr 4 und vom 13.12.2001 - B 13 RJ 67/99 R - BSGE 89, 111 = SozR 3-1300 § 1 Nr 1). Der Betroffene ist möglichst so zu stellen, wie er bei korrekter Verfahrensgestaltung stünde (Grundsatz der realen Fehlerheilung; BSG Urteil vom 31.10.2002 - B 4 RA 15/01 R - SozR 3-1300 § 24 Nr 22). Dies setzt allerdings voraus, dass die Behörde dem Betroffenen alle ihrer Ansicht nach entscheidungserheblichen Haupttatsachen mitgeteilt (Senatsurteil vom 18.9.2012 - B 2 U 15/11 R - SozR 4-5671 § 3 Nr 6) und ihn ausdrücklich auf die Möglichkeit...
Um weiterzulesen
FORDERN SIE IHR PROBEABO AN