Urteil Nr. B 2 U 22/17 R des Bundessozialgericht, 2019-01-29

Judgment Date29 Enero 2019
ECLIDE:BSG:2019:290119UB2U2217R0
Judgement NumberB 2 U 22/17 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 17. Mai 2017 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat die Kosten auch des Revisionsverfahrens zu tragen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte für die im Rettungsdienst hauptamtlich Beschäftigten des Klägers Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung für die Umlagejahre 2006 bis 2011 festsetzen durfte.

Der Kläger ist der Dachverband einer großen Wohlfahrtsorganisation mit 18 Orts- und Kreisverbänden in Niedersachsen. In seinen Einrichtungen zur Hilfeleistung bei Unglücksfällen sind hauptamtlich Beschäftigte und ehrenamtliche Mitarbeiter tätig. Am 21.12.2006 vereinbarten die Beteiligten sowie die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) vergleichsweise, dass die örtlich zuständigen Gemeinde-Unfallversicherungsverbände in Niedersachsen ab 1.1.2006 zuständig für die im Bereich der Hilfeleistung (zB Rettungsdienst, Katastrophenschutz) tätigen Personen des Klägers sind. Jeweils durch Beitragsbescheide setzte der Beklagte für die Umlagejahre 2006 und 2007 Beiträge iHv jeweils 23 848,70 (= 230 Versicherte x 103,69 Beitragssatz), für 2008 iHv 25 300,36 (244 Versicherte), für 2009 iHv 31 210,69 (301 Versicherte) und für 2010 iHv 30 795,93 (297 Versicherte) fest.

2010 beantragte der Kläger, diese Beitragsbescheide zu überprüfen, weil gemäß § 185 Abs 2 SGB VII der Grundsatz der Beitragsfreiheit gelte und deshalb für die Mitarbeiter Beiträge zu Unrecht entrichtet worden seien. Unter Nichtberücksichtigung der Mitarbeiter aus dem Bereich der Wohlfahrtspflege setzte der Beklagte mit fünf Bescheiden vom 20.12.2010 die Beiträge für die Jahre 2006 bis 2010 neu fest, und zwar auf jeweils 20 530,62 für die Jahre 2006 und 2007, auf 21 567,52 für 2008, auf 23 537,63 für 2009 und auf 26 959,40 für 2010. Mit weiterem Beitragsbescheid vom 21.3.2011 setzte er die Beiträge für 2011 bei einer Versichertenzahl von 246 auf 25 507,74 fest. Die Widersprüche wies er zurück (Widerspruchsbescheide vom 18.4.2011).

Das SG hat den Beitragsbescheid vom 21.3.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.4.2011 aufgehoben sowie die Bescheide vom 20.12.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.4.2011 abgeändert und den Beklagten verurteilt, die ursprünglichen Beitragsbescheide für die Umlagejahre 2006 bis 2010 zurückzunehmen (Urteil vom 7.10.2015). Das LSG hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 17.5.2017): Die Beitragsfreiheit für alle hauptamtlich Beschäftigten in Unglückshilfeeinrichtungen folge aus § 185 Abs 2 S 1 iVm § 128 Abs 1 Nr 6 SGB VII. Diese Normen differenzierten nicht zwischen hauptamtlich und ehrenamtlich Tätigen, also entgeltlich oder unentgeltlich beschäftigten Personen. Bereits der eindeutige Gesetzeswortlaut des § 128 Abs 1 Nr 6 SGB VII spreche dafür, dass er sich auf alle Personen beziehe, die in diesen Einrichtungen tätig seien, also auch auf die nach § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII versicherten Beschäftigten. Die Begriffe "tätig sind" oder "Tätige" umfassten Versicherte jeder Art. § 128 Abs 1 Nr 6 SGB VII nehme im Unterschied zu den übrigen Ziffern des § 128 Abs 1 SGB VII nicht auf den Versicherungstatbestand des § 2 Abs 1 Nr 12 SGB VII Bezug, wo ausdrücklich unentgeltlich, insbesondere ehrenamtlich Tätige genannt würden. Hätte der Gesetzgeber eine Beschränkung der Beitragsfreiheit auf diese Gruppe beabsichtigt, so hätte er in § 128 Abs 1 Nr 6 SGB VII auch § 2 Abs 1 Nr 12 SGB VII zitiert. Für eine umfassende Beitragsfreiheit spreche zudem, dass Unglückshilfe-Unternehmen im öffentlichen Interesse tätig seien und nicht gewinnorientiert arbeiteten. Sie sollten dadurch Unterstützung erhalten, dass die Beiträge aus Steuermitteln aufgebracht würden. Die Beitragsfreiheit verstoße schließlich weder gegen Kartellrecht noch gegen das europarechtliche Beihilfeverbot.

Mit der Revision rügt der Beklagte die Verletzung des § 185 Abs 2 SGB VII. Diese Ausnahmevorschrift beschränke den Kreis der beitragsfrei Versicherten auf diejenigen Versicherten nach § 128 Abs 1 Nr 6 SGB VII, die zugleich die Verbandszuständigkeit für das Unternehmen des Klägers auslösten. Zuständigkeitsbegründend seien allein die unentgeltlich, insbesondere ehrenamtlich Tätigen iS des § 2 Abs 1 Nr 12 SGB VII. Nur für sie sei Beitragsfreiheit gerechtfertigt. Dagegen müsse der Kläger - wie jeder Unternehmer - für seine Beschäftigten Beiträge zahlen, wofür er im Gegenzug das Haftungsprivileg nach §§ 104 f SGB VII erhalte, das nur für Beschäftigte, nicht aber für ehrenamtlich tätige Personen gelte. Zudem belege die historische Auslegung, dass die Beitragsfreiheit ein Äquivalent dafür sei, dass sich Menschen unentgeltlich und ehrenamtlich in Unglückshilfe-Unternehmen engagierten und sich dabei Unfallgefahren aussetzten. Dies rechtfertige die staatliche Finanzierung ihres Unfallversicherungsschutzes im Rahmen der "unechten Unfallversicherung", wobei der Gesetzgeber für ehrenamtlich Tätige typischerweise Sonderregelungen (zB § 152 Abs 3, § 186 Abs 3 S 3 SGB VII) schaffe. Zu Recht stelle der 12. Senat des BSG in seinem Urteil vom 16.8.2017 (B 12 KR 14/16 R - BSGE 124, 37 = SozR 4-2400 § 7 Nr 31) die beitragsrechtliche Sonderstellung ehrenamtlich Tätiger heraus. Dagegen seien die Beschäftigten hier nicht aus ideellen Gründen tätig, sondern riskierten ihre Gesundheit in gleicher Weise wie alle anderen Beschäftigten, für die die Unternehmer beitragspflichtig seien. Der Kläger erziele mit seinen Beschäftigten einen "unternehmerischen Gewinn", aus dem Unfallversicherungsbeiträge abzuführen seien. Ferner sei § 185 Abs 2 S 1 SGB VII im Lichte des Art 107 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) europarechtskonform auszulegen. Denn die Beitragsfreiheit begünstige den Kläger im Wettbewerb mit anderen Unternehmen, was nach dem Urteil des EuG vom 28.11.2008 (T-254/00 ua - Juris) mit europäischem Beihilferecht unvereinbar sei.

Der Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 17. Mai 2017 und des Sozialgerichts Hannover vom 7. Oktober 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger, der dem angefochtenen Urteil beipflichtet, beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 S 1 SGG). Die geltend gemachte Verletzung des § 185 Abs 2 S 1 SGB VII liegt nicht vor. Zu Recht hat das LSG die Berufung des Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil zurückgewiesen. Ohne Rechtsfehler hat das SG auf die isolierte Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 Var 1 SGG) des Klägers den Beitragsbescheid vom 21.3.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.4.2011 (§ 95 SGG) aufgehoben (dazu A.) und auf die Kombination (§ 56 SGG) mehrerer Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen (§ 54 Abs 1 S 1 Var 1 und 3 SGG) die Beitragsneufestsetzungen für die Umlagejahre 2006 bis 2010 in den (Zugunsten-)Bescheiden vom 20.12.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.4.2011 (§ 95 SGG) teilweise aufgehoben ("abgeändert"), soweit darin der Zugunstenantrag des Klägers auf (Komplett-)Rücknahme der bestandskräftigen (§ 77 SGG) Beitragsfestsetzungen für die Umlagejahre 2006 bis 2010 konkludent abgelehnt worden ist, und den Beklagten der Sache nach "verpflichtet" ("verurteilt"), diese ursprünglichen Beitragsfestsetzungen vollumfänglich zurückzunehmen (dazu B.). Denn die Beitragsfestsetzung und das entsprechende Zahlungsgebot für das Umlagejahr 2011 sind ebenso rechtswidrig wie die Ablehnungen ihrer Rücknahme für die Umlagejahre 2006 bis 2010 und beschweren den Kläger jeweils (§ 54 Abs 2 S 1 SGG).

A. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 168 Abs 1 SGB VII, der hier als Rechtsgrundlage für die Beitragsfestsetzung im Umlagejahr 2011 allein in Betracht kommt, liegen nicht vor. Danach teilt der Unfallversicherungsträger dem Beitragspflichtigen den von ihm zu zahlenden Beitrag schriftlich mit, und bei dieser schriftlichen Mitteilung handelt es sich um einen Verwaltungsakt ("Beitragsbescheid", § 168 Abs 2 SGB VII; vgl BSG vom 27.5.2008 - B 2 U 11/07 R - BSGE 100, 243 = SozR 4-2700 § 150 Nr 3, RdNr 13). Dieser kann ersatzweise auf § 168 Abs 1 SGB VII gestützt werden, obgleich der Beklagte nur die "§§ 150, 185 SGB VII i.V.m. § 25 Abs. 1 und 4" seiner (Alt-)Satzung vom 15.9.2000 idF des 3. Nachtrags vom 15.12.2006 als "Grundlage der Beitragsfestsetzung" herangezogen hat (1.). Der Beklagte ist zuständiger Unfallversicherungsträger (2.) und der Kläger grundsätzlich beitragspflichtig (3.). Er hat jedoch gemäß § 185 Abs 2 S 1 SGB VII keinen Beitrag zu zahlen (4.), und es besteht für diese Beitragsfreiheit auch kein unionsrechtliches Durchführungsverbot (5.).

1. Das LSG durfte § 168 Abs 1 SGB VII anstelle der "§§ 150, 185 SGB VII i.V.m. § 25 Abs. 1 und 4" der Satzung heranziehen und damit die Rechtsgrundlage für den Verwaltungsakt auswechseln, weil dies die Beitragsfestsetzung weder in ihrem "Wesen" veränderte noch den Betroffenen in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigte und die (nachgeschobene) Rechtsgrundlage bereits bei Erlass des angefochtenen Verwaltungsaktes galt (BSG vom 26.9.1974 - 5 RJ 140/72 - BSGE 38, 157, 159 = SozR 2200 § 1631 Nr 1 S 3, vom 12.2.1980 - 7 RAr 107/78 - SozR 4100 § 119 Nr 12 S 54, vom 29.6.2000 - B 11 AL 85/99 R - BSGE 87, 8, 12 = SozR 3-4100 § 152 Nr 9 S 31 und vom 7.4.2016 - B 5 R 26/15 R - SozR 4-2600 § 89 Nr 3 RdNr 33; BVerwG vom 19.8.1988 - 8 C 29/87 - BVerwGE 80, 96, 97; Bieresborn in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 54 RdNr 149; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 54 RdNr 35 f mwN).

2. Die Stellung des Beklagten als zuständiger Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand ergibt sich direkt aus den gesetzlichen Zuständigkeitsregelungen und keinesfalls aus der Zuständigkeitsvereinbarung vom 21.12.2006. Die örtliche Zuständigkeit des Beklagten richtet sich nach dem Sitz des Klägers in H. (§ 130 Abs 1 S 1 SGB VII, § 3 Abs 1 der...

Um weiterzulesen

FORDERN SIE IHR PROBEABO AN

VLEX uses login cookies to provide you with a better browsing experience. If you click on 'Accept' or continue browsing this site we consider that you accept our cookie policy. ACCEPT