Urteil Nr. B 2 U 9/17 R des Bundessozialgericht, 2018-06-19

Judgment Date19 Junio 2018
ECLIDE:BSG:2018:190618UB2U917R0
Judgement NumberB 2 U 9/17 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Gesetzliche Unfallversicherung - Versicherungspflicht gemäß § 2 Abs 1 Nr 9 SGB VII - selbstständige Geistheilerin - Unternehmerin im Gesundheitswesen - Praxis für energetische Körperarbeit - - Verfassungsmäßigkeit - Gleichheitssatz - sozialgerichtliches Verfahren - Feststellung genereller Tatsachen in der Revisionsinstanz - sozialrechtliches Verwaltungsverfahren - Erforderlichkeit einer Ermessensentscheidung bei Anhörungsverzicht
Leitsätze

Eine selbstständige Geistheilerin, die eine Praxis für energetische Körperarbeit betreibt, ist als Unternehmerin des Gesundheitswesens versicherungspflichtig.

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 30. November 2016 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Versicherungspflicht der Klägerin in der gesetzlichen Unfallversicherung (GUV) als selbstständige geistige Heilerin sowie die Festsetzung von Beiträgen.

Die 1942 geborene Klägerin bezieht seit Juli 2002 eine Altersrente und betreibt seitdem selbstständig eine Praxis für "energetische Körperarbeit". Schwerpunkte der Praxis sind die "Reconnective Therapy" nach Herwig Schön, die "russischen Heilweisen" nach Gregori Grabovoi und Arkady Petrov, das "Total Touch Pulsing" nach Bianca Telle, "Qi Gong" sowie die "Fernsitzung bzw Geistheilung".

Durch insgesamt elf Bescheide vom 14.2.2013 stellte die Beklagte ihre Zuständigkeit für das Unternehmen der Klägerin fest, veranlagte dieses für den Zeitraum vom 1.1.2007 bis 31.12.2012 sowie für den Zeitraum ab 1.1.2013 bis 31.12.2018 zum Gefahrtarif und stellte fest, dass für die Klägerin eine Unternehmerpflichtversicherung bestehe. Weiterhin bestätigte die Beklagte die Zugehörigkeit der Klägerin als Unternehmerin zur Beklagten und stellte die Versicherungssummen für die einzelnen Beitragsjahre fest. Schließlich veranlagte sie die Klägerin "zur Unternehmerversicherung" vom 1.1.2007 bis 31.12.2012 und "für ihre persönliche Versicherung" ab 1.1.2013 bis 31.12.2018 zu Gefahrklassen und erhob Beiträge für die Jahre 2008 bis 2011. Nach Einlegung eines Widerspruchs erläuterte die Beklagte der Klägerin schriftlich die Gründe für die Veranlagung und die Beitragshöhe (Schreiben vom 13.3.2013). Sodann erließ die Beklagte einen weiteren Beitragsbescheid vom 24.4.2013 für das Jahr 2012, gegen den die Klägerin ebenfalls Widerspruch einlegte. Die Beklagte erläuterte daraufhin erneut schriftlich die Gründe für die Pflichtversicherung sowie die Höhe der Beitragsforderung (Schreiben vom 2.5.2013). Nachdem die Klägerin Gewinn- und Verlustberechnungen eingereicht hatte, legte die Beklagte durch weiteres Schreiben erneut die Beitragsberechnung dar. Durch Widerspruchsbescheid vom 5.9.2013 wies die Beklagte die Widersprüche gegen die "Bescheide vom 14.02.2013 über die Feststellung der Unternehmerversicherung und die Beiträge für die Jahre 2008 - 2011" sowie gegen den Beitragsbescheid zur Unternehmerversicherung vom 24.4.2013 für das Jahr 2012 zurück.

Die Klage ist erfolglos geblieben (Urteil des SG vom 13.12.2013). Das LSG hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 30.11.2016) und zur Begründung ausgeführt, Geistheiler seien im Gesundheitswesen tätig iS des § 2 Abs 1 Nr 9 SGB VII. Die Praxis der Klägerin für energetische Körperarbeit sei dem Gesundheitswesen zuzuordnen. Denn dieses Unternehmen diene nach seiner Zwecksetzung der Heilbehandlung der Patienten, indem durch Übungen, Methoden und Ratschläge die Selbstheilungskräfte der Patienten aktiviert werden sollten. Dies ergebe sich auch aus dem Internetauftritt der Klägerin. Hierfür sei nicht maßgebend, dass die Behandlungen medizinisch-wissenschaftlich nicht anerkannt seien.

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 2 Abs 1 Nr 9 SGB VII. Die Tätigkeit eines Geistheilers sei nicht darauf ausgerichtet, die physische oder psychische Gesundheit des Einzelnen zu wahren. Zwar solle durch die Förderung der spirituellen Entwicklung mittelbar auf die Gesundheit der Menschen eingewirkt werden. Dies sei allerdings nicht der Hauptzweck der Tätigkeit eines Geistheilers. Andere medizinische Hilfsberufe wie Bademeister, Hebammen oder Diätassistenten seien nicht mit Geistheilern vergleichbar, weil die Angehörigen dieser Berufe eine staatlich anerkannte Ausbildung durchlaufen müssten und der ärztlichen Aufsicht unterstünden. Das BVerfG habe entschieden, dass Geistheiler keiner Zulassung als Heilpraktiker bedürften, weshalb auch eine Zwangsversicherung in der GUV ausscheide.

Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 30.11.2016 und des Sozialgerichts Augsburg vom 13.12.2013 sowie die Bescheide der Beklagten vom 14.2.2013 über die Feststellung ihrer Pflichtversicherung als Unternehmerin und die Festsetzung der Beiträge zur Unternehmerpflichtversicherung für die Umlagejahre 2008 bis 2011 sowie den Bescheid vom 24.4.2013 über die Festsetzung des Beitrags zur Unternehmerpflichtversicherung für das Umlagejahr 2012 jeweils in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 5.9.2013 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Klägerin ist nicht begründet. Die Vorinstanzen haben zutreffend entschieden, dass die Bescheide über die Pflichtversicherung der Klägerin als selbstständige Geistheilerin (Unternehmerin) sowie die zu zahlenden Beiträge rechtmäßig waren.

Gegenstand des Klageverfahrens sind ausschließlich die Bescheide der Beklagten vom 14.2.2013 über die Feststellung ihrer Pflichtversicherung als Unternehmerin und die Festsetzung der Beiträge zur Unternehmerpflichtversicherung für die Umlagejahre 2008 bis 2011 sowie der Bescheid vom 24.4.2013 über die Festsetzung des Beitrags zur Unternehmerpflichtversicherung für das Umlagejahr 2012. Nur über diese wurde im Widerspruchsbescheid vom 5.9.2013 entschieden. Dahinstehen kann, ob hinsichtlich der übrigen die Zuständigkeit der Beklagten sowie die Veranlagung des Unternehmens betreffenden Regelungen das Widerspruchsverfahren abgeschlossen worden ist.

Die angefochtenen Bescheide erweisen sich formell (dazu unter A.) und materiell (dazu unter B.) als rechtmäßig.

A. Es kann dahinstehen, ob die Beklagte hier ein Anhörungsverfahren gemäß § 24 SGB X hätte durchführen müssen Denn die Anhörung wurde jedenfalls vor Erlass des Widerspruchsbescheids vom 5.9.2013 und damit innerhalb der zeitlichen Grenzen des § 41 Abs 1 Nr 3, Abs 2 SGB X wirksam nachgeholt. Der Senat weist lediglich beiläufig erneut darauf hin, dass die Beklagte mit den durch Verwaltungsakt (§ 31 SGB X) festgestellten Beitragsforderungen zumindest in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art 2 Abs 1 GG) eingreift, sodass ein anhörungspflichtiger "Eingriff" iS des § 24 Abs 1 SGB X vorliegt (BSG vom 23.1.2018 - B 2 U 4/16 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen; vgl BSG vom 25.1.1979 - 3 RK 35/77 - SozR 1200 § 34 Nr 7; Mutschler in Kasseler Komm, SGB X, § 24 RdNr 7; Siefert in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, § 24 RdNr 8). Dahinstehen kann, ob bei Beitragsbescheiden auf eine Anhörung nach § 24 Abs 1 SGB X verzichtet werden kann, weil es sich um Massenverwaltungsakte iS des § 24 Abs 2 Nr 4 SGB X handelt oder weil sie im allgemeinen auf Entgeltangaben des Unternehmers beruhen, ohne hiervon zu seinen Ungunsten abzuweichen (§ 24 Abs 2 Nr 3 SGB X; Höller in Hauck/Noftz, SGB VII, K § 168 RdNr 3). Auch dies erfordert allerdings nach § 24 Abs 2 SGB X eine - hier offensichtlich nicht getroffene - Ermessensentscheidung der Beklagten (vgl BSG vom 23.1.2018 - B 2 U 4/16 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen; Spellbrink in Kasseler Komm, Stand September 2017, § 168 SGB VII RdNr 2).

Jedenfalls wurde die Anhörung vor Erlass des Widerspruchsbescheids und damit innerhalb der zeitlichen Grenzen des § 41 Abs 1 Nr 3, Abs 2 SGB X wirksam nachgeholt. Die Beklagte hat mit den Schreiben vom 13.3.2013, 2.5.2013 und 3.6.2013 der Klägerin alle Haupttatsachen mitgeteilt, auf die sie die belastende Entscheidung stützen wollte, und ihr eine angemessene Frist zur Äußerung gesetzt (vgl die Entscheidung des erkennenden Senats vom 23.1.2018 - B 2 U 4/16 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen; sowie vom 18.9.2012 - B 2 U 15/11 R - SozR 4-5671 § 3 Nr 6; BVerwG vom 17.8.1982 - 1 C 22.81 - BVerwGE 66, 111). Ferner hat sie das Vorbringen der Klägerin zur Kenntnis genommen und abschließend zu erkennen gegeben, dass sie nach erneuter Prüfung an dem bisher erlassenen Verwaltungsakt festhält (BSG vom 6.4.2006 - B 7a AL 64/05 R - Juris; BSG vom 9.11.2010 - B 4 AS 37/09 R - SozR 4-1300 § 41 Nr 2 RdNr 15 und vom 7.7.2011 - B 14 AS 153/10 R - BSGE 108, 289 = SozR 4-4200 § 38 Nr 2, RdNr 26; BVerwG vom 10.3.1971 - VIII C 210.67 - BVerwGE 37, 307).

B. Die angefochtenen Bescheide sind auch materiell rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Beklagte war gemäß § 3 Abs 1 ihrer Satzung vom 1.1.2011 für Unternehmen des Gesundheitswesens sachlich zuständig. Die Beklagte war auch befugt, das Versicherungsverhältnis zwischen ihr und der Klägerin auf Grundlage des § 136 Abs 1 S 1 SGB VII durch Verwaltungsakt festzustellen (vgl zur freiwilligen Versicherung BSG vom 17.5.2011 - B 2 U 18/10 R - BSGE 108, 194 = SozR 4-2700 § 6 Nr 2, RdNr 31).

Die Klägerin betreibt mit ihrer Praxis für energetische Körperarbeit ein Unternehmen des Gesundheitswesens nach § 2 Abs 1 Nr 9 SGB VII und ist deshalb Mitglied der Beklagten sowie als selbstständige...

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