Urteil Nr. B 2 U 5/16 R des Bundessozialgericht, 2018-03-20

Judgment Date20 Marzo 2018
ECLIDE:BSG:2018:200318UB2U516R0
Judgement NumberB 2 U 5/16 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Gesetzliche Unfallversicherung - Berufskrankheit gemäß Anlage 1 Nummer 2112 BKV - Gonarthrose - Versicherungsfall - Knieerkrankung - beidseitige Erkrankung - Stichtag - Übergangsrecht
Leitsätze

1. Die Berufskrankheit Gonarthrose liegt vor, sobald ihre Diagnosekriterien an einem Knie vorliegen.

2. Erkrankt der Versicherte später auch an dem anderen Knie, so tritt im Regelfall kein zusätzlicher Versicherungsfall ein.

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 4. November 2015 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger Anspruch auf Feststellung einer Gonarthrose des linken Knies als Berufskrankheit nach Nr 2112 der Anl 1 zur BKV (in Zukunft: BK 2112) ab dem 30.1.2004 hat.

Der im Juli 1947 geborene Kläger war während des Arbeitslebens bis Anfang September 2002 Kniebelastungen mit einer kumulativen Einwirkungsdauer von 14 840 Stunden ausgesetzt. Im September 2002 lagen bei ihm ua nach der Klassifikation von Kellgren eine lateral betonte Gonarthrose Grad III des rechten Knies sowie Retropatellararthrosen Grad III bis IV beiderseits vor. Chronische Kniegelenksbeschwerden oder Funktionsstörungen des linken Knies ließen sich erst nach dem 30.9.2002 nachweisen. Im Jahre 2010 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Feststellung einer BK 2112.

Die Beklagte lehnte die Gewährung von Leistungen ab, ua weil die Gonarthrose bereits vor dem Stichtag (30.9.2002) vorgelegen habe (Bescheid vom 11.1.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.8.2011). Das SG hat beide Bescheide aufgehoben und festgestellt, dass der Kläger seit dem 30.1.2004 an einer BK 2112 am linken Kniegelenk leide (Urteil vom 27.8.2013).

Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 4.11.2015). Am rechten Kniegelenk sei eine Gonarthrose bereits vor dem 1.10.2002 sowohl in röntgenologischer als auch in klinischer Hinsicht gesichert. Dieser Erkrankungsbeginn wirke auch auf das linke Knie, obgleich Beschwerden und Funktionsstörungen dort erst nach dem 30.9.2002 belegt seien. Nach der Rechtsprechung des BSG handele es sich um eine einheitliche BK, wenn gleichartige Gesundheitsschäden an verschiedenen Organen auf dieselbe gefährdende Tätigkeit zurückzuführen seien. Führe eine einheitliche berufliche Belastung (Exposition), die sich gleichermaßen auf mehrere Zielorgane auswirke, zu einem Erkrankungsbeginn an einem Zielorgan vor dem Stichtag, sei die Annahme eines "Versicherungsfalls" nach dem Stichtag ausgeschlossen. Für diese Auffassung spreche auch, dass bei Feststellung einer BK 2112 aufgrund zunächst einseitig bestehender Symptomatik und späterem Hinzutreten einer klinischen und röntgenologischen Symptomatik am anderen Kniegelenk auch keine weitere BK anzuerkennen. Es wäre dann aufgrund einer wesentlichen Änderung nach § 48 SGB X lediglich eine weitere Folge des Versicherungsfalls anzuerkennen (und allenfalls eine ggf gewährte Verletztenrente zu erhöhen). Nur in Ausnahmefällen sei es zu rechtfertigen, das Vorliegen einer weiteren, gleichen BK festzustellen, etwa wenn nach dem Eintritt der Erkrankung an einem Zielorgan noch zusätzliche berufliche Einwirkungen im Sinne der entsprechenden BK erfolgten und dann im weiteren Verlauf an einem anderen Zielorgan eine entsprechende Erkrankung auftrete.

Der Kläger rügt mit seiner Revision die Verletzung des § 9 Abs 1 S 1, Abs 5 SGB VII iVm § 6 BKV. Das Wesen paariger Gelenke sei es eben, nicht eins zu sein. Selbst wenn in der Regel davon auszugehen sei, dass bei beidseitigem Knien und vergleichbarer Kniebelastung eine Gonarthrose beidseitig auftrete, sei auch eine ungleiche Betroffenheit möglich und schließe nicht per se die Anerkennung der BK 2112 im Einzelfall aus. Daher sei die Manifestation des Beschwerdebildes am rechten Kniegelenk vor dem 1.10.2002 nicht als einheitliche Erkrankung beider Kniegelenke vor dem Stichtag aufzufassen, sodass der unstreitig nicht anerkennungsfähige Schaden rechts nicht zum Ausschluss bzw "Verbrauch" des erst nach dem Stichtag eingetretenen Schadens links führe.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 4. November 2015 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 27. August 2013 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist nicht begründet. Zu Recht hat das LSG das Urteil des SG aufgehoben und entschieden, dass keine BK 2112 des linken Kniegelenks ab dem 30.1.2004 festzustellen ist. Der Versicherungsfall der Gonarthrose ist beim Kläger am rechten Knie bereits vor dem 1.10.2002 eingetreten, sodass eine Anerkennung der Gonarthrose am linken Knie nach der Übergangsvorschrift des § 6 BKV nicht mehr möglich ist.

Maßgeblich ist hier die Rückwirkungsklausel des § 6 Abs 3 S 1 BKV idF der Vierten Verordnung zur Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung (4. BKVÄndVO) vom 10.7.2017 (BGBl I 2299), die während des Revisionsverfahrens am 1.8.2017 (Art 2 aaO) in Kraft trat und § 6 Abs 2 S 1 BKV idF der 3. BKVÄndVO vom 22.12.2014 (BGBl I 2397) ersetzte, der noch im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung der Tatsacheninstanz gegolten hatte. Treten - wie hier - Rechtsänderungen nach der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz ein, so sind sie in der Revisionsinstanz zu berücksichtigen, wenn das neue Gesetz nach seinem zeitlichen Geltungswillen das streitige Rechtsverhältnis erfassen will (stRspr, vgl Senatsurteil vom 27.10.1976 - 2 RU 127/74 - BSGE 43, 1,5 = SozR 1500 § 131 Nr 4 sowie BSG vom 18.2.2016 - B 3 P 2/14 R - SozR 4-3300 § 42 Nr 1 mwN). Das ist vorliegend der Fall. Denn mit Art 1 Nr 1 Buchst b der 4. BKVÄndVO verschob die Verordnungsgeberin den bisherigen § 6 Abs 2 S 1 BKV ohne geltungserhaltende Übergangsregelung wortidentisch in den § 6 Abs 3 S 1 BKV, der seitdem alle streitigen Rechtsverhältnisse, soweit sie BKen nach Nr 2112 betreffen, regelt.

§ 6 Abs 3 S 1 BKV idF der 4. BKVÄndVO lautet: "Leiden Versicherte am 1. Juli 2009 an einer Krankheit nach Nummer 2112, 4114 oder 4115 der Anlage 1, ist diese auf Antrag als Berufskrankheit anzuerkennen, wenn der Versicherungsfall nach dem 30. September 2002 eingetreten ist." Bei dem Kläger lag der Versicherungsfall der BK 2112 bereits im September 2002 - und damit vor dem Stichtag des § 6 Abs 3 S 1 BKV - vor, weil zu diesem Zeitpunkt eine Gonarthrose am rechten Knie bereits voll ausgeprägt war (vgl hierzu unter 1.). Damit kommt im...

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