Urteil Nr. B 2 U 1/17 R des Bundessozialgericht, 2018-06-19

Judgment Date19 Junio 2018
ECLIDE:BSG:2018:190618UB2U117R0
Judgement NumberB 2 U 1/17 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Gesetzliche Unfallversicherung - Unfallversicherungsschutz gemäß § 2 Absatz 1 Nummer 14 Buchstabe a SGB VII - Arbeitsuchendmeldung - Meldeobliegenheit - Agentur für Arbeit - eigeninitiatives Aufsuchen - besondere Aufforderung - Führen eines Vermittlungsgesprächs vor Ort im Rahmen des Sofortzugangs - Wegeunfall - sachlicher Zusammenhang - objektivierte Handlungstendenz - unmittelbarer Heimweg - Schutzzweck der Norm - unversicherter Hinweg - versicherter Rückweg
Leitsätze

Kommen meldepflichtige Arbeitsuchende, die die Agentur für Arbeit eigeninitiativ aufgesucht haben, einer besonderen, einzelfallbezogenen und als Aufforderung auszulegenden "Bitte" nach, im Rahmen des Sofortzugangs an Ort und Stelle ein Vermittlungsgespräch zu führen, stehen sie auf dem Rückweg auch dann unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, wenn der Hinweg nicht versichert gewesen ist.

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 8. Dezember 2016 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin auch für das Revisionsverfahren.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin auf dem Heimweg von der Agentur für Arbeit (AA) Magdeburg einen Arbeitsunfall erlitten hat.

Das Arbeitsverhältnis der Klägerin wurde am 31.1.2014 zum 14.2.2014 gekündigt. Daraufhin suchte sie am 3.2.2014 die AA Magdeburg auf, um sich arbeitsuchend zu melden. Gegen Ende des Aufnahmegesprächs richtete eine Mitarbeiterin der AA an die Klägerin die "Bitte", zum Zwecke eines Vermittlungsgesprächs im Dienstgebäude zu bleiben und sich bis zum Aufruf durch die Vermittlerin im Wartebereich verfügbar zu halten (sog Sofortzugang). Dem kam die Klägerin nach und führte anschließend mit der Arbeitsvermittlerin ein ca halbstündiges Vermittlungsgespräch. Für den Fall der Nichtwahrnehmung des Sofortzugangs waren ihr zuvor keine konkreten Konsequenzen angedroht worden. Nach dem Gespräch verließ sie das Dienstgebäude der AA, um nach Hause zu fahren. Beim Überqueren der Straße wurde sie von einem Pkw angefahren und erlitt einen Schienbeinbruch, ein Schädel-Hirn-Trauma und multiple Prellungen.

Die Beklagte lehnte es ab, dieses Ereignis als Arbeitsunfall anzuerkennen, weil die erstmalige Arbeitslosmeldung und die in diesem Zusammenhang stehenden Wege eigenwirtschaftlich seien und somit keinen Versicherungsschutz begründeten (Bescheid der Unfallkasse des Bundes vom 22.4.2014 und Widerspruchsbescheid vom 15.10.2014). Das SG hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 22.6.2015). Das LSG hat diese Entscheidung sowie die angefochtenen Bescheide aufgehoben und festgestellt, dass das Ereignis vom 3.2.2014 ein Arbeitsunfall war (Urteil vom 8.12.2016): Die Klägerin habe im Zeitpunkt des Unfalls der Meldepflicht nach § 38 Abs 1 S 2 und 6 iVm § 309 Abs 1 SGB III unterlegen und sei der als Aufforderung auszulegenden, in ihrem Einzelfall ausgesprochenen "Bitte" der AA nachgekommen, die Arbeitsvermittlerin sofort aufzusuchen. Dass ihr der Termin des Vermittlungsgesprächs nicht schriftlich mitgeteilt worden sei, sei ebenso belanglos wie die fehlende Androhung von Sanktionen oder sonstigen Nachteilen. Aus den Grundsätzen der Wegeunfallversicherung lasse sich nicht ableiten, dass der Rückweg versicherungsrechtlich immer das Schicksal des Hinweges teile.

Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 8 Abs 1 und 2 Nr 1 iVm § 2 Abs 1 Nr 14 Buchst a SGB VII: Die Klägerin sei schon keiner "Aufforderung" iS des § 2 Abs 1 Nr 14 Buchst a SGB VII nachgekommen, als sie aufgrund einer "Bitte" der AA im Wartebereich Platz genommen und im Rahmen des "Sofortzugangs" ein Gespräch mit der Arbeitsvermittlerin geführt habe. Andernfalls käme es zugunsten arbeitsuchender Nicht-Leistungsbezieher zu einer nahezu uferlosen Ausweitung des Unfallversicherungsschutzes, der zudem faktisch von den zeitlichen Kapazitäten des Arbeitsvermittlers und damit von Zufälligkeiten abhänge. Da die Klägerin überdies bereits präsent gewesen sei, habe sie die AA nur noch darum bitten können, in der Dienststelle zu verweilen, nicht jedoch, gerade diese Stelle "aufzusuchen". Schließlich sei höchstrichterlich geklärt, dass der Weg zur AA, um sich arbeitslos zu melden, eigenwirtschaftlich sei und noch nicht unter den Schutz der Unfallversicherung falle. Der Rückweg teile indes grundsätzlich das Schicksal des Hinwegs.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 8.12.2016 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Magdeburg vom 22.6.2015 zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 S 1 SGG). Zu Recht hat das LSG den klageabweisenden Gerichtsbescheid des SG vom 22.6.2015 sowie den Bescheid der Beklagten vom 22.4.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.10.2014 (§ 95 SGG) aufgehoben und das Ereignis vom 3.2.2014 als Arbeitsunfall festgestellt. Die Klägerin ist verunglückt, als sie den mit der versicherten Tätigkeit als meldepflichtige Arbeitsuchende (§ 2 Abs 1 Nr 14 Buchst a SGB VII) zusammenhängenden unmittelbaren Weg iS des § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII von dem Ort der Tätigkeit zurücklegte.

Die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 Var 1, § 55 Abs 1 Nr 1, § 56 SGG), die die Klägerin im Berufungsverfahren erhoben hat, war zulässig, obwohl das SG im Klageverfahren noch über eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 Var 1 und 3, § 56 SGG) entschieden hatte. Denn nach ständiger Senatsrechtsprechung ist der Übergang von der Verpflichtungs- zur Feststellungsklage (und umgekehrt) jedenfalls bei einem Streit um die Feststellung eines Versicherungsfalls in der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 7 Abs 1 SGB VII) eine nach § 99 Abs 3 Nr 2 SGG zulässige Antragsänderung (BSG vom 23.1.2018 - B 2 U 8/16 R - NJW 2018, 1418 RdNr 9 - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4 vorgesehen, vom 5.7.2016 - B 2 U 5/15 R - BSGE 122, 1 = SozR 4-2700 § 2 Nr 35, RdNr 11, vom 18.6.2013 - B 2 U 10/12 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 47 RdNr 11 und vom 29.11.2011 - B 2 U 10/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 42 RdNr 9).

Die Klägerin hat einen versicherten Arbeitsunfall iS des § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII erlitten. Arbeitsunfälle sind nach § 8 Abs 1 S 1 SGB VII Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Zu den versicherten Tätigkeiten zählt gemäß § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit. Unfälle sind nach § 8 Abs 1 S 2 SGB VII zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Ein Arbeitsunfall setzt daher voraus, dass die Verrichtung zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer oder sachlicher Zusammenhang), sie zu dem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis - dem Unfallereignis - geführt hat (Unfallkausalität) und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten objektiv und rechtlich wesentlich verursacht (haftungsbegründende Kausalität) hat (stRspr, vgl BSG vom 5.7.2016 - B 2 U 5/15 R - BSGE 122, 1 = SozR 4-2700 § 2 Nr 35, RdNr 13, vom 17.12.2015 - B 2 U 8/14 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 55 RdNr 9, vom 26.6.2014 - B 2 U 7/13 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 53 RdNr 11, vom 4.7.2013 - B 2 U 3/13 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 50 RdNr 10 und - B 2 U 12/12 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 49 RdNr 14 sowie vom 18.6.2013 - B 2 U 10/12 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 47 RdNr 12, vom 13.11.2012 - B 2 U 19/11 R - BSGE 112, 177 = SozR 4-2700 § 8 Nr 46, RdNr 20 und vom 24.7.2012 - B 2 U 9/11 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 44 RdNr 26 f). Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Die Klägerin hat einen "Unfall" (1.) infolge einer versicherten Tätigkeit - dem Zurücklegen des unmittelbaren Weges von dem Ort der Tätigkeit (2.) - im unmittelbaren Anschluss an einen Besuch der AA als versicherte meldepflichtige Arbeitsuchende (3.) erlitten, wobei die Kollision mit dem Pkw auf dem Heimweg auch dann vom Schutzzweck der Norm des § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII umfasst war, wenn der Hinweg nicht versichert gewesen wäre (4.).

1. Die Klägerin hat einen "Unfall" erlitten, als sie nach den nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsgründen angegriffenen und damit bindenden tatsächlichen Feststellungen in dem angefochtenen Urteil des LSG (§ 163 SGG) am 3.2.2014 beim Überqueren der Straße von einem Pkw angefahren wurde und sich dabei einen Schienbeinbruch, ein Schädel-Hirn-Trauma sowie multiple Prellungen zuzog.

2. Ferner legte die Klägerin im Unfallzeitpunkt den unmittelbaren Weg von dem Ort der Tätigkeit objektiv zurück und ihre Handlungstendenz war darauf auch subjektiv ausgerichtet (zur "objektivierten Handlungstendenz" vgl BSG vom 31.8.2017 - B 2 U 2/16 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 61 RdNr 14 ff, vom 20.12.2016 - B 2 U 16/15 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 60 RdNr 15, vom 17.12.2015 - B 2 U 8/14 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 55 RdNr 14 und vom 17.2.2009 - B 2 U 26/07 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 32 RdNr 11 mwN). Nach den ebenfalls bindenden Feststellungen des LSG hatte die Klägerin - objektiv beobachtbar - das Vermittlungsgespräch beendet, das Dienstgebäude der AA verlassen und überquerte im Unfallzeitpunkt die Straße "zwecks Benutzung des eigenen PKWs für die Heimfahrt", wobei ihr subjektiver "Wille allein auf die Rückkehr von diesem versicherten Gespräch nach Hause gerichtet" war.

3. Diesen unmittelbaren (Heim-)Weg zur eigenen Wohnung als Zielpunkt hatte sie "von dem Ort der Tätigkeit" - der AA Magdeburg als Startpunkt - aus angetreten, an dem sie zuvor versicherte Tätigkeiten als meldepflichtige Arbeitsuchende iS des § 2 Abs 1 Nr 14 Buchst a SGB VII verrichtet hatte. Nach dieser Vorschrift in ihrer seit dem 1.1.2012 geltenden Neufassung der Art 5 Nr 1 und Art 23 Abs 1 des...

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