Urteil Nr. B 2 U 8/18 R des Bundessozialgericht, 2019-11-26
Judgment Date | 26 November 2019 |
ECLI | DE:BSG:2019:261119UB2U818R0 |
Judgement Number | B 2 U 8/18 R |
Court | Der Bundessozialgericht (Deutschland) |
1. Eine bloße Illusion, Einbildung bzw Halluzination, die allein in der subjektiven Vorstellung des Verunfallten existiert, ist kein äußeres Ereignis.
2. Im Bereich psychischer Störungen sind Gesundheitsschäden durch Einordnung in eines der gängigen Diagnosesysteme unter Verwendung der dortigen Schlüssel und Bezeichnungen sowie unter Berücksichtigung der dazu herausgegebenen klinisch-diagnostischen Leitlinien exakt zu beschreiben.
TenorAuf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 19. April 2018 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger als Fahrdienstleiter der DB Netz AG am 25.11.2011 einen Arbeitsunfall erlitten hat.
An diesem Tag ereignete sich ein Beinahe-Zusammenstoß eines Pkw mit einem Zug. Der Durchgangsarzt berichtete, der Kläger habe Entsprechendes nicht das erste Mal erlebt, weshalb ihn das Ereignis überfordert und innerlich beunruhigt habe. Das Städtische Klinikum D. äußerte den Verdacht auf eine traumatische Belastungsstörung. Im Nachschaubericht hielt eine Durchgangsärztin fortbestehende innere Unruhe ("stehe wie neben mir") sowie Schlafstörungen fest. Eine psychotherapeutische Mitbehandlung sei dringend erforderlich. Auf telefonische Nachfrage der Beklagten teilte sie ergänzend mit, es habe keine Verletzten gegeben, weil der Pkw in der Schranke hängen geblieben und der Fahrer ausgestiegen sei. Das Ereignis habe beim Kläger Vorfälle aus den Jahren 2003 (tödlicher Bahnunfall) sowie 2009 (Fastzusammenstoß zweier Züge) wieder in Erinnerung gerufen. Der Kläger teilte der Beklagten mit, er habe aus dem Flachstellwerk die Durchfahrt des Zuges gestellt und die Schranke geschlossen. Dann habe er gesehen, wie ein Auto unter der Schrankenanlage geklemmt habe. Der Zug sei dann vorsichtig am Auto vorbei gefahren, sodass nur am Auto und der Schranke leichte Beschädigungen aufgetreten seien.
Die Beklagte lehnte einen Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab, weil ein eigentliches Unfallereignis als Ursache eines psychischen Gesundheitsschadens nicht stattgefunden habe. Leib und Leben des Klägers seien zu keinem Zeitpunkt bedroht gewesen. Allein die Vorstellung eines Unfalls reiche für das Vorliegen eines äußeren Ereignisses nicht aus (Bescheid vom 2.12.2011). Im Widerspruchsverfahren gab der Kläger an, er habe nach Schließung der Schranke wahrgenommen, dass sich ein Pkw trotz herannahenden Zuges auf den Bahnübergang zubewegt habe und in der Schranke steckengeblieben sei. Aus seiner Perspektive habe er nicht erkennen können, dass der Pkw-Fahrer das Auto vor der Zugdurchfahrt verlassen habe. Die Beklagte wies den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 26.3.2012).
Das SG hat die Klage abgewiesen, weil das Ereignis keine Gesundheitsstörung verursacht habe. Kein Facharzt habe eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Das Geschehen vom 25.11.2011, bei dem der Kläger selbst keiner Lebensgefahr ausgesetzt gewesen sei, habe keine außergewöhnliche Bedrohung katastrophalen Ausmaßes dargestellt, die bei fast jedem tiefe Verzweiflung hervorrufe (Gerichtsbescheid vom 20.10.2014).
Der Kläger hat hiergegen Berufung eingelegt und ua vorgetragen, er habe zusammengekauert auf den Knall des Zusammenpralls gewartet, zu dem es dann jedoch nicht gekommen sei. Das LSG hat im Berufungsverfahren sodann ein nervenärztliches Sachverständigengutachten eingeholt, wonach der Kläger an einer mittelgradigen psychosomatischen Störung "iS einer Mischung der ICD 10-Diagnosen F45.1, F34.1, F44 und F41.9" leide, die bis zum 9.12.2011 mit Wahrscheinlichkeit als unfallbedingt anzusehen sei und die danach aufgrund unfallfremder Belastungsfaktoren keine wesentliche ursächliche Bedeutung mehr habe. Hierauf gestützt hat das LSG den Gerichtsbescheid des SG sowie die Bescheide der Beklagten aufgehoben und "das Ereignis vom 25. November 2011 mit einer mehrdimensionalen psychosomatischen Störung (mit Elementen nach ICD-10 F45.1, F34.1, F44 und F41.9) als Arbeitsunfall festgestellt" (Urteil vom 19.4.2018): Die Beinahe-Kollision habe sich bei der versicherten Tätigkeit als beschäftigter Fahrdienstleiter ereignet. Das Geschehen stelle ein "von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis" dar, das die psychosomatische Störung als Wirkung ausgelöst habe. Die äußere betriebsbedingte Einwirkung auf die Psyche des Klägers liege darin, dass er keine fahrdienstlichen Mittel mehr gehabt habe, um die als sicher vorhergesehene Kollision zwischen dem herannahenden Zug und dem Pkw zu unterbinden. Dieser Vorstellung habe ein tatsächlich nachweisbarer, äußerer betriebsbezogener Unfallvorgang zugrunde gelegen. Das Geschehen sei naturwissenschaftliche Bedingung der psychosomatischen Störung. Allerdings seien die gesamten bis zum Tag der Urteilsverkündung andauernden Auswirkungen der psychischen Erkrankung jetzt keine Unfallschäden mehr. Dieser Zusammenhang habe nur bis zum 9.12.2011 bestanden. Die progrediente psychische Fehlentwicklung - über den 9.12.2011 hinaus - beruhe vielmehr auf unfallfremden Belastungsfaktoren.
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte die Verletzung der §§ 103, 128 Abs 1 SGG und des § 8 Abs 1 Satz 2 SGB VII: Der Kläger habe bereits keinen Unfall erlitten, weil sich am 25.11.2011 kein Vorgang ereignet habe, durch dessen Ablauf zeitlich begrenzt von außen auf seinen Körper eingewirkt worden sei. Die Annahme einer unvermeidlichen Kollision habe lediglich in seiner Phantasie existiert, sodass es sich um einen rein mentalen, nur eingebildeten Vorgang gehandelt habe. Ob diese Vorstellung nachvollziehbar sei, sei unerheblich. Ginge der Unfallbegriff so weit, dass bereits die irrtümliche Vorstellung einer tatsächlich nicht existenten, wenn überhaupt ausschließlich Dritte betreffenden Gefahrensituation den Versicherungsschutz begründe, würde der Schutzbereich der gesetzlichen Unfallversicherung nahezu ins Uferlose wachsen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 19. April 2018 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Magdeburg vom 20. Oktober 2014 zurückzuweisen.
Der Kläger, der dem angefochtenen Urteil beipflichtet, beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Revision der Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 und 2 SGG). Die dem Berufungsurteil zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen (§ 163 Halbsatz 1 SGG) genügen nicht, um abschließend zu entscheiden, ob das LSG die angefochtenen Bescheide und den klageabweisenden Gerichtsbescheid zu Recht aufgehoben und das Ereignis vom 25.11.2011 als Arbeitsunfall iS des § 8 Abs 1 Satz 2 SGB VII festgestellt hat. Die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 Var 1, § 55 Abs 1 Nr 1, § 56 SGG) war Gegenstand des Berufungsverfahrens (§ 157 Satz 1 SGG), weil sie der Kläger mit seiner unbeschränkten Berufung vor das LSG getragen hat, nachdem das SG sie abgewiesen hatte (dazu A.). Ob die Klagen begründet sind, kann der Senat auf der Grundlage der tatrichterlichen Feststellungen nicht entscheiden (dazu B.).
A. Die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage war Gegenstand des Berufungsverfahrens (§ 157 Satz 1 SGG), obwohl das SG in dem Gerichtsbescheid das Klagebegehren vordergründig auf die Feststellung einer Unfallfolge (§ 55 Abs 1 Nr 3 SGG) verengt hatte. Das SG ist in dem Gerichtsbescheid davon ausgegangen, der Kläger beantrage "seinem schriftsätzlichen Vorbringen entsprechend", die angefochtenen Bescheide abzuändern und die Rechtsvorgängerin der Beklagten "zu verurteilen, eine posttraumatische Belastungsstörung als Folge des Arbeitsunfalls vom 25. November 2011 anzuerkennen". Zu dieser selbstständigen Formulierung des Klageantrags hat sich das SG offenbar deshalb als befugt angesehen, weil weder die Klageschrift (§ 92 Abs 1 Satz 3 SGG) noch vorbereitende Schriftsätze (§ 108 Satz 1 SGG) "einen bestimmten Antrag" enthielten. Das SG hat dabei unbeachtet gelassen, dass der Kammervorsitzende den Kläger unter Fristsetzung zur Antragstellung hätte auffordern müssen (§ 92 Abs 2 Satz 1 SGG) und auch nach fruchtlosem Fristablauf weiterhin darauf hinzuwirken hatte, dass "sachdienliche Anträge gestellt" werden (§ 106 Abs 1 SGG). Dies hätte vor Erlass der Anhörungsmitteilung (§ 105 Abs 1 Satz 2 SGG) geschehen und im Misserfolgsfall zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung führen müssen, um dem Kläger dort im Rechtsgespräch erneut Gelegenheit zu geben, ggf mit Unterstützung des Gerichts "angemessene und sachdienliche Anträge" (§ 112 Abs 2 Satz 2 SGG) zu stellen und protokollieren zu lassen (§ 122 SGGiVm § 160 Abs 3 Nr 2 ZPO). Selbst wenn die Beteiligten keine bestimmten (förmlichen) Anträge stellen, wozu sie nicht verpflichtet sind, oder an unzulässigen bzw nicht sachdienlichen Anträgen festhalten, hat das Gericht gemäß § 123 SGG aus dem Klagevorbringen das Rechtschutzbegehren - die erhobenen Ansprüche - zu ermitteln und darüber zu entscheiden, ohne an die Fassung von Seiten des Gerichts formulierter Anträge gebunden zu sein, die der Kläger selbst nicht gestellt hat. Dabei ist nach dem sog "Meistbegünstigungsprinzip" zu verfahren und das Klageziel so zu bestimmen, dass das Begehren des jeweiligen Klägers möglichst weitgehend zum Tragen kommt (BSG Urteil vom 6.4.2011 - B 4 AS 119/10 R - BSGE 108, 86 = SozR 4-1500 § 54 Nr 21, RdNr 29; vgl Masuch/Spellbrink in: Denkschrift 60 Jahre...
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