Urteil Nr. B 2 U 4/18 R des Bundessozialgericht, 2020-06-23
Judgment Date | 23 Junio 2020 |
ECLI | DE:BSG:2020:230620UB2U418R0 |
Judgement Number | B 2 U 4/18 R |
Court | Der Bundessozialgericht (Deutschland) |
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 26. Januar 2018 aufgehoben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 23. Januar 2017 zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens aller drei Rechtszüge.
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte für das Beitragsjahr 2012 einen Beitragszuschlag iHv 22 690,11 Euro erheben darf.
Die Beklagte veranlagte die Klägerin zu der Gefahrtarifstelle 15.1 - Zeitarbeit-Beschäftigte in Dienstleistungsbereichen Stammpersonal - Gefahrklasse 0,77 - und zu der Gefahrtarifstelle 15.2 - Zeitarbeit-Beschäftigte in allen anderen Bereichen - Gefahrklasse 7,97 - (Bescheid vom 3.11.2010). Am 5.12.2011 erlitt der bei der Klägerin beschäftigte A. Z. einen Arbeitsunfall, als er im Lager eines Kunden verbotswidrig einen Gang betreten hatte. Die Beklagte bewilligte A. Z. eine Rente aufgrund dieses Arbeitsunfallereignisses und zahlte im Jahr 2012 Rentenleistungen iHv 351,36 Euro aus. Zudem wendete sie im Jahr 2012 insgesamt 37 470,05 Euro für ambulante und stationäre Heilbehandlungen sowie sonstige Geldleistungen wie Verletztengeld ua aus. Für das Jahr 2012 setzte die Beklagte den von der Klägerin zu zahlenden Beitrag auf 226 901,09 Euro nebst Rentenaltlastumlage iHv 1272,20 Euro und Anteilen am berufsgenossenschaftlichen Ausgleichsverfahren auf insgesamt 256 147,35 Euro fest (Bescheid vom 15.5.2013).
Die Beklagte erhob nach Anhörung der Klägerin bei dieser für das Jahr 2012 einen Beitragszuschlag iHv 22 690,11 Euro. Dabei legte sie einen anrechenbaren Beitrag iHv 226 901,09 Euro und 50 Belastungspunkte zugrunde. Bei einer Einzelbelastung der Klägerin von 2,2036 und einer Durchschnittsbelastung von 0,4707 ergebe sich aufgrund der Abweichung der Einzelbelastung von der Durchschnittsbelastung um 368,15 vH ein Beitragszuschlag iHv 10 vH des anrechenbaren Beitrags (Bescheid vom 26.8.2013).
Die Klage vor dem SG blieb erfolglos (Urteil vom 23.1.2017). Das LSG hat der Berufung der Klägerin stattgegeben und den Beitragszuschlagsbescheid aufgehoben (Urteil vom 26.1.2018). Das LSG hat ausgeführt, § 29 der Satzung der Beklagten verstoße gegen Art 3 GG sowie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Satzungsregelung führe zu Wertungswidersprüchen und zu zufälligen bzw willkürlichen Ergebnissen. Zeitlich befristete Renten würden unbefristeten Renten gleichgestellt. Andererseits würden Renten bei einem ggf lebenslangen Bezug nicht berücksichtigt, wenn die Zahlungen den Wert von 10 000 Euro gerade im Beitragsjahr nicht erreichten. Die Höhe der Kosten sei von Zufälligkeiten wie Auszahlungszeitpunkt und Arbeitsverdienst des Versicherten abhängig. Ein Wertungswiderspruch liege auch insoweit vor, als Aufwendungen bei Arbeitsunfällen ohne Rente mit einem Punkt bewertet würden, bei Rentenfällen aber zu einem Punktwert von 50 führen könnten.
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 162 SGB VII. Die Satzung sei mit höherrangigem Recht vereinbar. Durch die Einführung einer beitragsmäßigen Grenze komme es auch zu einer Entlastung der versicherten Unternehmen. Die Grenze durch die aufgewandten Kosten von 10 000 Euro und die Anknüpfung an den Begriff der Rente dienten dazu, die Zahl der einzubeziehenden Arbeitsunfälle gering und von Relevanz zu halten. Der Grenzwert von 10 000 Euro sei sachlich gerechtfertigt, weil hiermit typisierend auf die Schwere des Unfalls abgestellt werde. Das LSG negiere den Gestaltungsspielraum der Beklagten und überspanne die sich aus Art 3 GG ergebenden Anforderungen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 26. Januar 2018 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 23. Januar 2017 zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Satzungsregelungen der Beklagten für eine Übergangszeit zum 31. Dezember 2021 für weiterhin anwendbar zu erklären.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die zulässige Revision der Beklagten ist begründet. Das LSG hat zu Unrecht das Urteil des SG aufgehoben. Die isolierte Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 Variante 1 SGG) ist unbegründet, weil die angegriffenen Verwaltungsakte über die Auferlegung eines Beitragszuschlags und das entsprechende Zahlungsgebot für das Beitragsjahr 2012 rechtmäßig sind und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzten. Die Beklagte hat zu Recht einen von der Klägerin für das Jahr 2012 zu zahlenden Beitragszuschlag iHv 22 690,11 Euro festgesetzt. Die der Berechnung des Beitragszuschlags zugrunde liegenden Satzungsregelungen der Beklagten sind nicht zu beanstanden.
I. Ermächtigungsgrundlage für die Erhebung des Beitragszuschlags ist § 162 Abs 1 SGB VII (idF des Art 5 Nr 8 des Gesetzes zur Änderung des Sozialgesetzbuches und anderer Gesetze vom 24.7.2003, BGBl I 1526) iVm § 29 der am 1.1.2012 in Kraft getretenen Satzung der Beklagten vom 28.9.2011 (Genehmigung durch das Bundesversicherungsamt am 14.12.2011) idF des am 1.1.2013 in Kraft getretenen 2. Nachtrags vom 4.7.2013 (Genehmigung durch das Bundesversicherungsamt am 18.7.2013). Gemäß § 162 Abs 1 SGB VII haben die gewerblichen Berufsgenossenschaften unter Berücksichtigung der anzuzeigenden Versicherungsfälle Zuschläge aufzuerlegen oder Nachlässe zu bewilligen (Satz 1). Versicherungsfälle nach § 8 Abs 2 Nr 1 bis 4 SGB VII bleiben dabei außer Ansatz (Satz 2). Das Nähere bestimmt die Satzung, die dabei Versicherungsfälle, die durch höhere Gewalt oder durch alleiniges Verschulden nicht zum Unternehmen gehörender Personen eintreten, und Versicherungsfälle auf Betriebswegen sowie Berufskrankheiten ausnehmen kann (Satz 3). Die Höhe der Zuschläge und Nachlässe richtet sich nach der Zahl, der Schwere oder den Aufwendungen für die Versicherungsfälle oder nach mehreren dieser Merkmale (Satz 4). Die Satzung kann bestimmen, dass auch die nicht anzeigepflichtigen Versicherungsfälle für die Berechnung von Zuschlägen oder Nachlässen berücksichtigt werden (Satz 5).
Auf der Grundlage des § 162 Abs 1 Satz 3 Halbsatz 1 SGB VII ist § 29 der Satzung der Beklagten vom 28.9.2011 idF des 2. Nachtrags vom 4.7.2013 ergangen. Danach werden jeder Unternehmerin bzw jedem Unternehmer mit Pflichtversicherten nach § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII und jeder Unternehmerin bzw jedem Unternehmer, die nach § 6 Abs 1 Nr 1 SGB VII freiwillig versichert sind, unter Berücksichtigung der Zahl und Schwere der anzuzeigenden Arbeitsunfälle Zuschläge zum Beitrag auferlegt (Abs 1 Satz 1). Zuschlagspflichtig sind nur Beitragspflichtige, deren Belastung wesentlich von der Durchschnittsbelastung aller Unternehmen ihrer Tarifstelle abweicht (Abs 3 Nr 2 Satz 1). Wesentlich ist die Abweichung, wenn die Einzelbelastung um mehr als 25 vH über der Durchschnittsbelastung der Tarifstelle liegt (Abs 3 Nr 2 Satz 2). Das Beitragszuschlagsverfahren wird jährlich nachträglich für das abgelaufene Geschäftsjahr (Beitragsjahr) durchgeführt unter Berücksichtigung der im Beitragsjahr bekannt gewordenen meldepflichtigen Arbeitsunfälle, der im Beitragsjahr festgestellten neuen Unfallrenten und der Todesfälle (Abs 3 Nr 1). Jedes Unternehmen erhält für jeden im Beitragsjahr bekannt gewordenen Arbeitsunfall mit Kosten - Sach- und Geldleistungen - bis 10 000 Euro null Punkte und mit Kosten - Sach- und Geldleistungen - des Unfalls über 10 000 Euro einen Punkt sowie für jede im Beitragsjahr festgestellte neue Arbeitsunfallrente mit Kosten - Sach- und Geldleistungen - des Unfalls bis 10 000 Euro null Punkte und mit Kosten - Sach- und Geldleistungen - des Unfalls über 10 000 Euro 50 Punkte (Abs 3 Nr 3 Satz 2 Spiegelstriche 1 und 2). Für einen Unfall können mehrere Punktwerte anfallen (Abs 3 Nr 3 Satz 3). Zur Berechnung der Einzelbelastung werden die Punkte jedes Unternehmens addiert (Belastungspunkte) und auf je 10 000 Euro Beitrag der Unternehmerin bzw des Unternehmers für das Beitragsjahr bezogen (Abs 3 Nr 3a). Der Zuschlag zum Beitrag beträgt 10 vH des für das Beitragsjahr zu zahlenden Beitrags, wenn die Einzelbelastung um mehr als 200 vH über der Durchschnittsbelastung der Gefahrtarifstelle liegt (Abs 3 Nr 4 Satz 1 Spiegelstrich 3). Für die Berechnung der Beiträge nach Nr 3 und 4 wird nur der Beitragsanteil herangezogen, der sich aus dem Umlagesoll der Berufsgenossenschaft ergibt (Abs 3 Nr 4 Satz 2).
II. Zu Recht hat die Beklagte nach diesen Vorschriften einen Beitragszuschlag für das Beitragsjahr 2012 iHv 22 690,11 Euro festgesetzt.
Der Senat ist befugt, die Satzung der Beklagten auszulegen, weil es sich dabei um revisibles Recht iS des § 162 SGG handelt. Nach dieser Vorschrift kann die Revision nur darauf gestützt werden, dass das angefochtene Urteil auf der Verletzung einer Vorschrift des Bundesrechts oder einer sonstigen im Bezirk des Berufungsgerichts geltenden Vorschrift beruht, deren Geltungsbereich sich über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erstreckt. Da die Beklagte eine bundesunmittelbare Körperschaft des öffentlichen Rechts ist (§ 1 Abs 2 Halbsatz 1 der Satzung iVm § 29 Abs 1 SGB IV), geht der Geltungsbereich ihrer Satzung über den Bezirk des LSG hinaus (vgl dazu BSG Urteil vom 27.2.1970 - 2 RU 151/68 - BSGE 31, 47, 48 = SozR Nr 1 zu § 543 RVO), sodass offenbleiben kann, ob es sich bei den Satzungsregelungen nicht ohnehin um "Bundesrecht" handelt (so Fichte in Fichte/Jüttner, SGG, 3. Aufl 2020, § 162 RdNr 8; Kraft in Eyermann, VwGO, 15. Aufl 2019, § 137 RdNr 16; aA Heinz in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 162 RdNr 8, 17; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, 13. Aufl 2020, § 162 RdNr 5; Röhl in jurisPK-SGG, 1. Aufl, Stand: 20.3.2018, § 162 RdNr 35).
Die Klägerin ist als Mitglied der Beklagten gemäß § 3 Gruppe I - Banken, Versicherungen, Verwaltungen, freie Berufe und besondere Unternehmen - der Satzung beitragspflichtig (hierzu unter 1.). Anzuwenden ist auf den hier erhobenen Beitragszuschlag für 2012 § 29 der Satzung der Beklagten vom 28.9.2011 idF des 2. Nachtrags vom 4.7.2013. Soweit...
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