Urteil Nr. B 2 U 8/17 R des Bundessozialgericht, 2018-11-27

Judgment Date27 November 2018
ECLIDE:BSG:2018:271118UB2U817R0
Judgement NumberB 2 U 8/17 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Gesetzliche Unfallversicherung - Arbeitsunfall - Betriebsweg - häusliche Arbeitsstätte - sachlicher Zusammenhang - objektivierte Handlungstendenz - Abwägung aller Indizien im Einzelfall - Abwägungsausfall - keine Bindung des Revisionsgerichts - Versicherteneigenschaft als Wie-Unternehmer - Subsumtionsschluss des LSG - Fehlen von bindenden Tatsachenfeststellungen - Zurückverweisung
Leitsätze

Die Objektivierung der Handlungstendenz als innere Haupttatsache setzt voraus, dass alle nach Lage des Einzelfalls als Hilfstatsachen (Indizien) in Betracht kommenden Umstände festgestellt, in eine Gesamtschau eingestellt sowie nachvollziehbar und widerspruchsfrei unter- und gegeneinander abgewogen werden.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 11. Januar 2017 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger am 28.4.2012 einen Arbeitsunfall erlitten hat.

Der Kläger ist Gesellschafter-Geschäftsführer einer Unternehmerin, die ein Versicherungsmaklerbüro betreibt. Die Geschäftsräume liegen im 1. OG eines sechsstöckigen Mehrfamilienhauses, in dessen 5. OG der Kläger wohnt. Alle Stockwerke sind über ein gemeinsames Treppenhaus verbunden, zudem ist ein Aufzug vorhanden. Im Kellergeschoss befinden sich ua die Serveranlage und das Archiv der Unternehmerin sowie ein privates Kellerabteil des Klägers. Die Geschäftsräume werden im Schnitt pro Tag 10-15 Mal von Kunden besucht, die die Haustreppe im Treppenhaus benutzen. Am Unfalltag führte der Kläger nach Rückkehr von einem auswärtigen Geschäftstermin gegen 0 Uhr ein größeres Software-Update mit Datensicherungsmaßnahmen durch. Dazu musste er zwischen dem Computer, der im 1. OG in den Büroräumen steht, und dem im Kellergeschoss befindlichen Serverraum hin- und hergehen, um den Vorgang und seinen Ablauf zu überwachen. Auf einem der Wege vom Serverraum im Kellergeschoss zum Büro im 1. OG stürzte er am 28.4.2012 nachts gegen 1.30 Uhr auf der Haustreppe und zog sich dabei eine Kahnbeinfraktur links zu.

Die Beklagte lehnte es ab, Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen UV zu erbringen (Bescheid vom 5.6.2012 und Widerspruchsbescheid vom 22.11.2012). Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 9.7.2015): Bei Unfällen in Räumen bzw auf Treppen, die weder eindeutig der Privatwohnung noch der Betriebsstätte zugeordnet werden könnten, sei darauf abzustellen, ob der Unfallort auch Betriebszwecken (wesentlich) diene. Dabei seien immer die Umstände des Einzelfalls einzubeziehen. Bei wertender Betrachtung sei der Treppenabschnitt, auf dem sich der Sturz ereignet habe, kein Teil des Gebäudes, der rechtlich wesentlich den Zwecken des Unternehmens diene. Das Treppenhaus stehe allen Bewohnern des Hauses auch für rein private Tätigkeiten zur Verfügung. Allein auf die konkrete Nutzung zum Unfallzeitpunkt abzustellen, erscheine im Interesse einer möglichst einheitlichen Bewertung nicht sachgerecht.

Das LSG hat die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung (§ 153 Abs 2 SGG) zurückgewiesen und ergänzend ausgeführt (Urteil vom 11.1.2017): Der Kläger sei zwar auf einem Weg gestürzt, der in sachlichem Zusammenhang mit seiner versicherten Tätigkeit gestanden habe. Nach seiner objektivierten Handlungstendenz sei er im unmittelbaren Betriebsinteresse tätig gewesen, als er den Weg vom Serverraum im Keller zu den Büro- und Geschäftsräumen im 1. OG zurückgelegt habe, weil dies für das Software-Update geboten gewesen sei. Verunglücke der Versicherte aber in einem Gebäude, in dem sich Arbeitsstätte und Wohnung befänden, so bestehe Versicherungsschutz nach der Rechtsprechung des BSG nur dann, wenn der Unfallort (Räume, Treppen) - unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls - Betriebszwecken des Unternehmens wesentlich diene und nicht dem rein persönlichen Lebensbereich zuzuordnen sei.

Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 8 Abs 1 SGB VII: Das LSG verkenne, dass er sich als Beschäftigter iS des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII verletzt habe. Denn er sei in Ausübung der aus dem Anstellungsverhältnis mit der Unternehmerin folgenden Vertragspflicht verunglückt, deren Daten zu sichern. Unabhängig davon habe er sich im Unfallzeitpunkt auf einem Betriebsweg befunden. Er, die sonstigen Angestellten der Unternehmerin und deren Kunden nutzten die Treppe täglich, sodass die betriebliche Nutzung eine gewisse Häufigkeit erreiche. Entscheidend sei, dass er im Unfallzeitpunkt mit der Verrichtung einer beruflichen Tätigkeit beschäftigt gewesen sei und nach seiner objektivierten Handlungstendenz im unmittelbaren Betriebsinteresse gehandelt habe.

Der Kläger beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 11. Januar 2017 und des Sozialgerichts Mainz vom 9. Juli 2015 sowie den Bescheid der Beklagten vom 5. Juni 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. November 2012 aufzuheben und festzustellen, dass der Unfall vom 28. April 2012 ein Arbeitsunfall war.

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Der Gang auf der Treppe eines Mehrfamilienhauses in der Nacht zum Sonntag um 1.30 Uhr weise keinerlei Bezug zur versicherten Tätigkeit als Gesellschafter-Geschäftsführer eines Versicherungsmaklerbüros auf. Soweit das LSG davon ausgehe, der Kläger habe die Treppe in der Absicht benutzt, Datensicherungsmaßnahmen in der Firma durchzuführen, fehle es an der Objektivierung dieser Intention. Denn der Unfall habe sich auf einem Weg ereignet, der sowohl ins Büro als auch in die Privatwohnung führe, an einem Ort, der überwiegend nicht Betriebszwecken diene, und zu einer Zeit, die jenseits jeglicher Geschäftszeiten liege. Der Kläger sei auch nicht auf einem Betriebsweg verunglückt, weil die Treppe nicht wesentlich dem Betrieb, sondern vielmehr der Hausgemeinschaft diene. Es liege auch kein Wegeunfall nach § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII vor, weil der Kläger die Außentür des Hauses nicht durchschritten habe.

Entscheidungs...

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