Urteil Nr. B 2 U 28/17 R des Bundessozialgericht, 2018-11-27

Judgment Date27 Noviembre 2018
ECLIDE:BSG:2018:271118UB2U2817R0
Judgement NumberB 2 U 28/17 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Gesetzliche Unfallversicherung - Arbeitsunfall - Home Office - Betriebsweg - sachlicher Zusammenhang - Aufsuchen der häuslichen Arbeitsstätte - Treppensturz - Abstellen auf objektivierte Handlungstendenz - Wohnungsbann - sozialgerichtliches Verfahren - subjektive Klageänderung - Beteiligtenwechsel in der Berufungsinstanz
Leitsätze

Beschäftigte sind zuhause gesetzlich unfallversichert, wenn sie in Ausübung ihrer versicherten Tätigkeit Betriebswege zurücklegen, um ihre häusliche Arbeitsstätte ("home office") zu erreichen.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 5. April 2017 aufgehoben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 31. Januar 2014 zurückgewiesen.

Das Urteil des Sozialgerichts wird insofern geändert, dass die Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik als Beklagte verurteilt wird.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in allen Rechtszügen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin am 18.1.2013 einen Arbeitsunfall erlitten hat.

Die Klägerin war Sales und Key Account Managerin einer GmbH. Nach dem Arbeitsvertrag war eine wöchentliche Arbeitszeit von 40 Stunden an 5 Tagen in der Woche mit einer Kernarbeitszeit von 9.00 bis 16.00 Uhr vereinbart. Regelmäßiger Arbeitsort sollte ihre Wohnadresse im Raum M. sein. Weitere Angaben zur Einrichtung und Ausgestaltung des Arbeitsplatzes im häuslichen Bereich enthielt der Arbeitsvertrag nicht. Zum Unfallzeitpunkt wohnte die Klägerin in einem "Haus im Haus", dessen Erd- und Dachgeschoss sie privat nutzte. Von der Diele im Erdgeschoss führt eine Treppe in das Kellergeschoss. Dort war einer der Kellerräume mit einem Schreibtisch möbliert und wurde als Büro bzw "Home Office" genutzt.

Am Unfalltag hielt sich die Klägerin auf dem Messegelände M. auf, wo sie eine Mitarbeiterin der Arbeitgeberin gegen 14.45 Uhr aufforderte, um 16.30 Uhr den Geschäftsführer anzurufen. Die Klägerin fuhr daraufhin nach Hause und wollte dort in ihrem Büro im Kellergeschoss den mitgeführten Laptop anschließen, um über diesen um 16.30 Uhr mit dem Geschäftsführer in Übersee zu telefonieren. Gegen ca 16.10 Uhr rutschte sie beim Hinabsteigen der Kellertreppe auf dem Weg zu ihrem Büro auf einer Stufe ab, stürzte und verletzte sich im Wirbelsäulenbereich. Dabei führte sie eine Tasche mit ihrem Laptop sowie sonstiges Arbeitsmaterial mit sich.

Die Verwaltungs-BG (VBG) lehnte die Anerkennung eines Arbeitsunfalls und die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab (Bescheid vom 28.1.2013, Widerspruchsbescheid vom 30.4.2013). Das SG hat diese Bescheide aufgehoben und festgestellt, dass die Klägerin am 18.1.2013 einen Arbeitsunfall erlitten hat, weil sie im Unfallzeitpunkt einen Betriebsweg mit betrieblicher Motivation zurückgelegt habe und die Treppe zumindest wesentlich auch betrieblich genutzt worden sei (Urteil vom 31.1.2014).

Nachdem die VBG mitgeteilt hatte, die BGHW - jetzige Beklagte - werde im gegenseitigen Einvernehmen das Berufungsverfahren zuständigkeitshalber an ihrer Stelle fortzuführen, hat das LSG das erstinstanzliche Urteil aufgehoben, die Klage abgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 5.4.2017): Der Beteiligtenwechsel auf Beklagtenseite sei zulässig und sachdienlich. Die Klägerin habe bei der zum Unfall führenden Verrichtung nicht unter Versicherungsschutz gestanden. Das Betreten der häuslichen Kellertreppe selbst habe nicht unmittelbar zu ihren Hauptpflichten gehört und sei deshalb bloße Vorbereitungshandlung für ihre spätere versicherte Tätigkeit als abhängig Beschäftigte gewesen. Die Klägerin sei auch nicht auf einem Betriebsweg verunglückt, weil dieser mit Durchschreiten der Außenhaustür des Wohngebäudes - als maßgeblicher Zäsur - bereits beendet gewesen sei und daher mit dem Rückweg vom Messegelände keine Einheit iS eines unmittelbaren Anschlusses bilde. Wege innerhalb des häuslichen Bereichs könnten nur versichert sein, wenn eine Rufbereitschaft und die Notwendigkeit, sofort zu handeln, bestanden habe oder der Unfallort für betriebliche Belange ständig und nicht nur gelegentlich genutzt werde. Der Rückrufwunsch des Geschäftsführers sei weder mit einer Rufbereitschaft vergleichbar noch sei beim Hinabsteigen der Treppe um 16.10 Uhr besondere Eile geboten gewesen. Es sei auch keine wesentliche betriebliche Nutzung der Kellertreppe anzuerkennen, weil diese lediglich dem unversicherten Zurücklegen des Arbeitswegs von und zu dem dort befindlichen Büro diene und keine betrieblich genutzten Räume miteinander verbinde. Keinesfalls sei eine Treppe allein deswegen ein betrieblich genutzter Gebäudeteil, weil sie den einzigen Zugang zu einem abgegrenzten Arbeitsraum bzw -bereich eröffne. Zudem spreche der Aufenthalt außerhalb des räumlichen Arbeitsbereichs gegen eine versicherte Verrichtung zum Unfallzeitpunkt, wenn - wie hier - für die Beschäftigung abgegrenzte Räume vorgesehen seien. Ferner könnten Arbeitnehmer Wegerisiken in ihrer Wohnung am besten beherrschen, sodass eine gemeinschaftliche Haftung der Unternehmer für derartige Gefahren nicht gerechtfertigt sei, zumal sie dort keine Präventionsmaßnahmen durchsetzen könnten.

Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 8 Abs 1 iVm §§ 2, 3 und 6 SGB VII. Das LSG setze sich über das Urteil des BSG vom 12.12.2006 (B 2 U 1/06 R - BSGE 98, 20 = SozR 4-2700 § 8 Nr 21) hinweg, wonach die Grenze "Außentür des Gebäudes" bei Betriebswegen nicht gelte, soweit sich Arbeitsstätte und Wohnung des Versicherten in einem Haus befänden. Es komme darauf an, ob sich der Unfall in einem Gebäudeteil ereignet habe, der rechtlich wesentlich Unternehmenszwecken diene. Dies sei hier der Fall. Die Treppe sei täglich benutzt worden, um den Büroraum zu betreten und wieder zu verlassen, sodass sie ausschließlich betrieblichen Belangen gedient habe. Überdies sei der konkrete Nutzungszweck zum Unfallzeitpunkt allein betrieblicher Natur gewesen, weil sie auf dem Weg zu einem betrieblich veranlassten Telefonat gestürzt sei. Ohne die arbeitsrechtliche Verpflichtung, den Geschäftsführer zurückzurufen, hätte sie die Treppe am Unfalltag nicht betreten. Liege ein direkter Zusammenhang mit der Betriebstätigkeit vor, bestehe Unfallversicherungsschutz auch in der Wohnung des Versicherten.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 5. April 2017 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 31. Januar 2014 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Es liege bereits keine zulässige Revisionsbegründung vor. Die Klägerin verkenne, dass das BSG an die in dem angefochtenen Urteil getroffenen Feststellungen gebunden sei. Soweit sie aus den tatsächlichen Feststellungen andere Schlüsse als das LSG ziehe, begründe sie nicht, warum ihre Schlussfolgerungen zwingend, die Subsumtion des LSG dagegen fehlerhaft sei. Das LSG habe im Übrigen zu Recht eine im Wesentlichen betriebliche Nutzung der Treppe verneint und Versicherungsschutz auch deshalb versagt, weil die Klägerin außerhalb ihres räumlichen Arbeitsbereichs verunglückt sei, dh bevor sie ihr Arbeitszimmer betreten habe. Schließlich rechtfertige das Urteil des BSG vom 31.8.2017 (B 2 U 9/16 R - BSGE 124, 93 = SozR 4-2700 § 8 Nr 63 - "Friseurmeisterin") keine andere Beurteilung, weil zwischen dem Durchschreiten der Außentür und dem Telefonat eine zeitliche Zäsur von mindestens 20 Minuten bestanden habe und dadurch der Versicherungsschutz unterbrochen worden sei. Jedenfalls fehle der erforderliche enge zeitliche Zusammenhang zwischen Unfallgeschehen und betrieblicher Verrichtung, sodass eine Bejahung des Versicherungsschutzes hier im Ergebnis zu einem Haus- bzw Wohnungsbann führe.

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist zulässig (dazu A.) und begründet (dazu B.).

A. Die Revision ist zulässig, insbesondere ausreichend begründet (§ 164 Abs 2 SGG). Gemäß § 164 Abs 2 S 3 SGG muss die Begründung der Revision "einen bestimmten Antrag enthalten, die verletzte Rechtsnorm und, soweit Verfahrensmängel gerügt werden, die Tatsachen bezeichnen, die den Mangel ergeben". Die Revisionsbegründung erfüllt diese Anforderungen. Sie enthielt einen bestimmten, in der mündlichen Verhandlung modifizierten Antrag, der Umfang und Ziel der Revision erkennen ließ, sowie die Rüge der Verletzung des § 8 Abs 1 iVm §§ 2, 3 und 6 SGB VII. Darüber hinaus hat der Große Senat des BSG (vom 13.6.2018 - GS 1/17 - Juris BSGE und SozR vorgesehen>) entschieden, dass die Revisionsbegründung bei Sachrügen auch die Gründe aufzeigen muss, die nach Auffassung des Revisionsklägers aufgrund einer rechtlichen Auseinandersetzung mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung diese als unrichtig erscheinen lassen. Dazu hat der Revisionsführer - zumindest kurz - rechtlich auf die Gründe der Vorinstanz einzugehen; er muss mithin erkennen lassen, dass er sich mit der angefochtenen Entscheidung befasst hat und inwieweit er bei der Auslegung der angewandten Rechtsvorschriften anderer Auffassung ist (stRspr, zB BSG vom 26.9.2017 - B 1 KR 3/17 R - Juris RdNr 38; vom 23.7.2015 - B 5 R 32/14 R - Juris RdNr 8; vom 14.11.2013 - B 9 SB 5/12 R - BSGE 115, 18 = SozR 4-1300 § 13 Nr 1, RdNr 22; vom 23.4.2013 - B 9 V 4/12 R - Juris RdNr 16; vom 17.1.2011 - B 13 R 32/10 R - BeckRS 2011, 68777 RdNr 11; vom 6.3.2006 - B 13 RJ 46/05 R - Juris RdNr 11; vom 23.11.2005 - B 12 RA 10/04 R - Juris RdNr 10; vom 11.6.2003 - B 5 RJ 52/02 R - Juris RdNr 14; vom 19.3.1992 - 7 RAr 26/91 - BSGE 70,...

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