Urteil Nr. B 2 U 19/18 R des Bundessozialgericht, 2020-01-30
Judgment Date | 30 January 2020 |
ECLI | DE:BSG:2020:300120UB2U1918R0 |
Judgement Number | B 2 U 19/18 R |
Court | Der Bundessozialgericht (Deutschland) |
1. Der Unfallversicherungsträger kann dem Erstattungsbegehren einer Krankenkasse nicht den gegenüber der Versicherten ergangenen bestandskräftigen ablehnenden Verwaltungsakt entgegenhalten.
2. Der (Rück-)Weg von der Kita zum häuslichen Arbeitsplatz stellt keinen vom unmittelbaren Weg zur Arbeitsstätte abweichenden Weg dar und steht nur dann unter Unfallversicherungsschutz, wenn der Mindestaufenthalt dort zwei Stunden betragen hat.
TenorDie Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 26. September 2018 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt auch die Kosten des Revisionsverfahrens.
Die Beteiligten streiten darüber, ob der beklagte Unfallversicherungsträger der klagenden Krankenkasse Behandlungskosten erstatten muss, die sie für die Beigeladene aufgewendet hat.
Die bei der Klägerin gesetzlich krankenversicherte Beigeladene arbeitete bei ihrem Arbeitgeber im Rahmen des Teleworkings von zu Hause aus. Am 27.11.2013 brachte sie ihre 2008 geborene Tochter morgens zum Kindergarten, um danach zu Hause ihrer Beschäftigung im Teleworking nachzugehen. Auf dem Rückweg vom Kindergarten stürzte sie und brach sich das rechte Ellenbogengelenk. Die Beklagte verneinte gegenüber der Beigeladenen einen Arbeitsunfall und lehnte Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab (Bescheid vom 6.1.2015). Die Beigeladene hat hiergegen keinen Widerspruch eingelegt. Für die Krankenbehandlung der Beigeladenen wendete die Klägerin 19 124,22 Euro auf. Ihren Erstattungsanspruch wies die Beklagte zurück.
Die Erstattungsklage blieb vor dem SG(Urteil vom 17.12.2015) und LSG(Urteil vom 26.9.2018) ohne Erfolg. Das LSG hat ausgeführt, die Zuständigkeit der Klägerin folge nicht bereits aus dem in Bestandskraft erwachsenen Verwaltungsakt der Beklagten gegenüber der Beigeladenen. Erstattungsansprüche seien eigenständig zu prüfende Ansprüche. Unabhängig hiervon habe die Beigeladene keinen nach § 8 SGB VII versicherten Unfall erlitten. Ein Unfall auf einem Betriebsweg liege nicht vor. Ein Wegeunfall gemäß § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII scheide aus, weil die Beigeladene sich nicht auf einem direkten Weg von ihrer Wohnung zu ihrer Arbeitsstätte befunden habe. Auch könne der Kindergarten nicht als dritter Ort anerkannt werden, weil der Aufenthalt dort nicht mindestens zwei Stunden gedauert habe. Die Voraussetzungen des § 8 Abs 2 Nr 2 Buchst a SGB VII seien ebenfalls nicht erfüllt, weil diese Vorschrift nur bestimmte Um- oder Abwege in den Versicherungsschutz einbeziehe. Es erscheine zudem fraglich, ob die Beigeladene ihr Kind überhaupt "wegen ihrer beruflichen Tätigkeit" fremder Obhut anvertraut habe. Es liege auch kein Verstoß gegen Art 3 und Art 6 Abs 1 GG vor. Der Gesetzgeber sei nicht gehalten, zur Förderung der Familie jede denkbare den Versicherten günstige Regelung vorzusehen. Ein Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot scheide aus, weil kein Weg zum Ort der versicherten beruflichen Tätigkeit beim Arbeitgeber vorgelegen habe.
Die Klägerin rügt mit ihrer Revision insbesondere eine Verletzung des § 8 Abs 2 Nr 2 Buchst a SGB VII. Die Beigeladene habe ihre Tochter in den Kindergarten gebracht, um ihrer Tätigkeit im Home Office nachgehen zu können. Im Lichte des Art 6 Abs 1 iVmArt 3 Abs 1 GG müsse auch der Weg vom Kindergarten zur häuslichen Arbeitsstätte versichert sein.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 26. September 2018 sowie das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 17. Dezember 2015 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr einen Betrag in Höhe von 19 124,22 Euro zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beigeladene hat sich nicht geäußert und keinen Antrag gestellt.
EntscheidungsgründeDie zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Das LSG hat die Berufung der Klägerin gegen das klageabweisende Urteil des SG im Ergebnis zu Recht zurückgewiesen. Die echte Leistungsklage (§ 54 Abs 5 SGG) hat keinen Erfolg, weil der Klägerin gegen die Beklagte kein Erstattungsanspruch nach § 105 Abs 1 SGB X zusteht, der hier als Rechtsgrundlage allein in Betracht kommt. Denn die Klägerin war für die Krankenbehandlung der Beigeladenen zuständiger Leistungsträger.
Nach § 105 Abs 1 SGB X ist der zuständige oder zuständig gewesene Leistungsträger unter bestimmten weiteren Voraussetzungen dem anfänglich unzuständigen Leistungsträger, der Sozialleistungen erbracht hat, erstattungspflichtig. Als Leistungsträgerin der gesetzlichen Krankenversicherung hat die Klägerin der beigeladenen Leistungsempfängerin Krankenbehandlung als Sachleistung (Sozialleistung iS des § 11 Satz 1 SGB I) erbracht bzw durch Dritte erbringen lassen (Leistungserbringer). Damit erfüllte sie im Einklang mit der materiellen Rechtslage eine eigene Leistungspflicht (vgl dazu BSG Urteil vom 23.9.1997 - 2 RU 37/96 - BSGE 81, 103, 107 = SozR 3-1300 § 105 Nr 4 S 9). Denn sie war für die Krankenbehandlung der Beigeladenen aufgrund des § 11 Abs 5 Satz 1 SGB V nicht von Anfang an unzuständig. Nach dieser Vorschrift besteht auf Leistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung kein Anspruch, wenn sie als Folge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung zu erbringen sind. Damit definiert § 11 Abs 5 Satz 1 SGB V die sich gegenseitig ausschließenden Leistungs- und Zuständigkeitsbereiche der gesetzlichen Kranken- und Unfallversicherung (vgl Begründung zu § 11 Abs 3 des Gesetzes zur Strukturreform im Gesundheitswesen, BT-Drucks 11/2237 S 163; BSG Urteil vom 26.6.2014 - B 2 U 17/13 R - SozR 4-2700 § 54 Nr 1 RdNr 20; BSG Urteil vom 23.9.1997 - 2 RU 37/96 - BSGE 81, 103, 108 = SozR 3-1300 § 105 Nr 4 S 10). Die klagende Krankenkasse hat indes mit der Krankenbehandlung der Beigeladenen keine Unfallfolgen beseitigt, gebessert, gemildert oder deren Verschlimmerung verhütet, wofür alleine die Beklagte zuständig gewesen wäre (§ 26 Abs 2 Nr 1 SGB VII).
Dies folgt nicht bereits aus einer Bindungswirkung des bestandskräftigen Verwaltungsakts vom 6.1.2015, mit dem die Beklagte gegenüber der Beigeladenen die Anerkennung des Sturzereignisses als Arbeitsunfall gemäß § 8 SGB VII abgelehnt hat, zumal die Klägerin an dieser Verwaltungsentscheidung der Beklagten nicht iS des § 12 SGB X beteiligt war (sBSG Urteil vom 20.3.2018 - B 2 U 16/16 R - SozR 4-1300 § 105 Nr 6 RdNr 12 mwN).
Der erkennende Senat hält auch an seiner Rechtsprechung fest, dass ein gegenüber dem Verletzten ergangener ablehnender Verwaltungsakt keine tatbestandliche Drittwirkung entfaltet (vglBSG Urteile vom 28.9.1999 - B 2 U 36/98 R - SozR 3-5670 § 3 Nr 4, SozR 3-5090 § 5 Nr 3 und vom 27.8.1987 - 2 RU 49/86 - BSGE 62, 118 = SozR 2200 § 562 Nr 7; dies wird im Übrigen stillschweigend im Urteil vom 4.7.2013 - B 2 U 12/12 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 49 vorausgesetzt, zuletzt offengelassen im Urteil vom 20.3.2018 - B 2 U 16/16 R - SozR 4-1300 § 105 Nr 6; s dazu Krasney, SGb 2019, 46, 50). Folglich kann er von der Beklagten nicht als "Einwendung" gegen das Erstattungsbegehren der Klägerin geltend gemacht werden (vglBSG Urteile vom 27.8.1987 - 2 RU 70/85 - BSGE 62, 118, 123 = SozR 2200 § 550 Nr 76 und vom 30.4.1991 - 2 RU 78/90 - USK 91127; vgl auch BSG Urteil vom 13.12.2016 - B 1 KR 29/15 R - BSGE 122, 162 = SozR 4-1300 § 105 Nr 5, RdNr 15 bezüglich der Tatbestandswirkung eines Verwaltungsaktes, der seitens des die Erstattung begehrenden Sozialleistungsträgers ergangen ist). Denn das Erstattungsbegehren der Klägerin ist kein aus dem Versicherungsverhältnis abgeleiteter Anspruch (stRspr, BSG Urteile vom 20.3.2018 - B 2 U 16/16 R - SozR 4-1300 § 105 Nr 6 RdNr 11; vom 13.9.1984 - 4 RJ 37/83 - BSGE 57, 146, 147 = SozR 1300 § 103 Nr 2 S 3; vom 22.5.1985 - 1 RA 33/84 - BSGE 58, 119, 125 f mwN = SozR 1300 § 104 Nr 7 S 24 mwN; vom 14.5.1985 - 4a RJ 21/84 - SozR 1300 § 104 Nr 6; vom 9.12.1986 - 8 RK 12/85 - BSGE 61, 66, 68 mwN = SozR 2200 § 182 Nr 104 S 222 mwN; vgl auch BVerwG Urteile vom 12.9.1991 - 5 C 52.88 - BVerwGE 89, 39, 45 f; vom 19.11.1992 - 5 C 33.90 - BVerwGE 91, 177, 185 und vom 13.3.2003 - 5 C 6.02 - BVerwGE 118, 52, 57 f).
Einer Anfrage an die Senate des BSG(§ 41 Abs 3 SGG), die dies teilweise anders entschieden haben (vglBSG Urteile vom 25.6.2008 - B 11b AS 19/07 R - BSGE 101, 79 = SozR 4-3500 § 54 Nr 1, RdNr 14; vom 30.5.2006 - B 1 KR 17/05 R - SozR 4-3100 § 18c Nr 2, RdNr 30; vom 1.4.1993 - 1 RK 10/92 - BSGE 72, 163, 168 = SozR 3-2200 § 183 Nr 6 S 17; vom 13.9.1984 - 4 RJ 37/83 - BSGE 57, 146, 149 f = SozR 1300 § 103 Nr 2 S 6; Becker in Hauck/Noftz, SGB X, § 105 RdNr 71 ff, insbesRdNr 123; Roos in von Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl 2014, vor §§ 102-114, RdNr 9; Schlaeger, jurisPR-SozR 9/2016, Anm 2), oder einer Vorlage an den Großen Senat des BSG zur Klärung einer Grundsatzfrage (§ 41 Abs 4 SGG) bedurfte es nicht, weil - unabhängig von dem bereits gegenüber der Beigeladenen erlassenen, diese bindenden Verwaltungsakt - das Ereignis vom 27.11.2013 unter keinem denkbaren Gesichtspunkt ein versicherter Arbeitsunfall iS des § 8 SGB VII war und die Beklagte daher materiell-rechtlich nicht der zuständige Sozialleistungsträger ist.
Die Beigeladene hat am 27.11.2013 keinen Arbeitsunfall erlitten. Nach § 8 Abs 1 Satz 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind nach § 8 Abs 1 Satz 2 SGB VII zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum...
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