Urteil Nr. B 2 U 4/16 R des Bundessozialgericht, 2018-01-23
Judgment Date | 23 January 2018 |
ECLI | DE:BSG:2018:230118UB2U416R0 |
Judgement Number | B 2 U 4/16 R |
Court | Der Bundessozialgericht (Deutschland) |
Haus- und Ziergärten sind unabhängig von ihrer Größe keine landwirtschaftlichen Unternehmen, es sei denn, sie werden regelmäßig oder in erheblichem Umfang mit besonderen Arbeitskräften bewirtschaftet oder ihre Erzeugnisse dienen nicht hauptsächlich dem eigenen Haushalt.
TenorDie Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 30. September 2015 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Anschlussberufung gegen den Bescheid der Beklagten vom 28. April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Mai 2015 als unzulässig verworfen wird.
Der Kläger hat auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger versicherungs- und beitragspflichtiges Mitglied der beklagten landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaft ist.
Der Kläger erwarb im Jahr 1994 gemeinsam mit seiner Ehefrau ein 4705 qm großes, mit einem Einfamilienhaus bebautes Grundstück. Die Beklagte nahm durch Bescheid vom 6.9.1995 den Kläger als Unternehmer mit dem Unternehmensteil "Haus- und Ziergarten" zum 29.7.1994 in ihr Unternehmerverzeichnis auf und erteilte ihm einen Mitgliedsschein; zugleich erhob sie den Beitrag für das Jahr 1994. Durch Bescheid vom 18.4.2011 setzte sie gegenüber dem Kläger den Beitrag für das Umlagejahr 2010 in Höhe des in ihrer Satzung vorgesehenen Mindestbeitrags iHv 39 Euro fest. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 8.6.2011).
Hiergegen hat der Kläger Klage zum SG erhoben, das durch Urteil vom 2.10.2012 den Bescheid der Beklagten vom 18.4.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8.6.2011 aufgehoben hat, weil das Grundstück des Klägers aufgrund der anzuwendenden Ausnahmevorschrift des § 123 Abs 2 SGB VII als versicherungsfreier Haus- und Ziergarten einzuordnen sei. Die Beklagte hat Berufung eingelegt. Auf Anregung des LSG hat die Beklagte sodann den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 18.4.2011 auch als Überprüfungsantrag des Bescheids vom 6.9.1995 ausgelegt. Durch Bescheid vom 28.4.2015 hat sie jedoch eine Rücknahme des bestandskräftigen Bescheids vom 6.9.1995 gemäß § 44 SGB X abgelehnt. Der Widerspruch hiergegen blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 20.5.2015). Der Kläger hat sodann vor dem LSG im Wege der Anschlussberufung beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 28.4.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.5.2015 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 6.9.1995 rückwirkend zum Erlasszeitpunkt zurückzunehmen. Die Beklagte hat dieser "Klageänderung" zugestimmt.
Das LSG hat das Urteil des SG aufgehoben sowie die Anschlussberufung des Klägers zurückgewiesen. Die Klage gegen den Bescheid vom 18.4.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8.6.2011 sowie die Klage gegen den Bescheid vom 28.4.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.5.2015 hat es abgewiesen (Urteil vom 30.9.2015). Zur Begründung hat es ausgeführt, die im Wege der Anschlussberufung vorgenommene Klageänderung sei zulässig, weshalb auch über die Klage gegen den Bescheid vom 28.4.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.5.2015 zu entscheiden sei. Der Statthaftigkeit der Anschlussberufung stehe nicht entgegen, dass das SG dem in erster Instanz gestellten Klageantrag im vollen Umfang stattgegeben habe, denn für die Anschließung an die gegnerische Berufung sei keine Beschwer des Berufungsbeklagten erforderlich. Die Klageänderung sei gemäß § 153 Abs 1 iVm § 99 Abs 1 SGG zulässig, weil die Beklagte hierzu ihre Einwilligung erklärt habe. Deshalb habe der Senat auch über den Anspruch auf Rücknahme des Bescheids vom 6.9.1995 zu entscheiden, wobei er eine erstinstanzliche Entscheidung treffe. Dem stehe nicht entgegen, dass hierfür gemäß § 29 SGG keine funktionelle bzw instanzielle Zuständigkeit des LSG bestehe. Die Klage gegen den Bescheid vom 28.4.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.5.2015 habe jedoch in der Sache keinen Erfolg, weil der Bescheid rechtmäßig sei. Der Kläger sei Miteigentümer des Grundstücks und damit als landwirtschaftlicher Unternehmer gesetzlich unfallversichert. Der Ausnahmetatbestand des § 123 Abs 2 Nr 1 SGB VII sei nicht erfüllt. Bereits das Reichsversicherungsamt (RVA) habe eine Grundstücksgröße von 2500 qm als Obergrenze für Haus- und Ziergärten angesehen. Daher falle der Garten des Klägers nicht unter die Ausnahmeregelung des § 123 Abs 2 Nr 1 SGB VII. Die Gesamtfläche übersteige hier den allgemein akzeptierten Grenzwert von 2500 qm so deutlich, dass der Garten nicht mehr als Haus- und Ziergarten angesehen werden könne. Angesichts eines wöchentlichen Arbeitsaufwands im Sommer von etwa 1 ½ Stunden sowie darüber hinaus anfallender Arbeiten zur Pflege der Ziersträucher könne nicht von einem extrem geringen Umfang der Bewirtschaftung ausgegangen werden. Zu Unrecht berufe sich der Kläger darauf, dass er lediglich hälftiger Miteigentümer des Grundstücks sei. Hieraus folge die gesamtschuldnerische Haftung jedes einzelnen Mitunternehmers, sodass die alleinige Inanspruchnahme des Klägers nicht zu beanstanden sei. Da der Kläger damit kraft Gesetzes versichert sei, erweise sich auch der Beitragsbescheid für das Umlagejahr 2010 als rechtmäßig.
Der Kläger rügt mit seiner Revision eine Verletzung des § 123 Abs 2 SGB VII. Er beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 30. September 2015 und den Bescheid der Beklagten vom 28. April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20. Mai 2015 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 2. Oktober 2012 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet und daher zurückzuweisen. Das Urteil des LSG vom 30.9.2015 war dahingehend zu berichtigen, dass die Anschlussberufung als unzulässig verworfen wird (dazu unter A.). Im Übrigen hat das LSG im Ergebnis zu Recht das Urteil des SG aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid vom 18.4.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8.6.2011 abgewiesen (dazu unter B.).
A. Die Anschlussberufung gegen den während des Berufungsverfahrens ergangenen Bescheid der Beklagten vom 28.4.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.5.2015 war unzulässig, weil sie nicht den gleichen prozessualen Anspruch wie die Hauptberufung der Beklagten betrifft (dazu unter 1.). Dahinstehen kann daher, ob die mit der Anschlussberufung einhergehende Klageänderung zulässig und das LSG für die Entscheidung über diese geänderte Klage zuständig war (dazu unter 2.).
1. Die Anschlussberufung war unzulässig, weil der Kläger hierdurch einen neuen Streitgegenstand in den Rechtsstreit eingeführt hat. Der Kläger hat im Wege der Anschlussberufung ausdrücklich beantragt, neben der Berufungszurückweisung den Überprüfungsbescheid vom 28.4.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.5.2015 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Veranlagungsbescheid vom 6.9.1995 rückwirkend zurückzunehmen. Die Anschließung des Klägers und Berufungsbeklagten an die Berufung der Beklagten und Berufungsklägerin im Wege einer unselbständigen Anschlussberufung konnte zwar wirksam auch im Laufe der mündlichen Verhandlung durch Erklärung zur Niederschrift des Gerichts erfolgen (BSG vom 16.10.1968 - 3 RK 25/65 - SozRNr 9 zu RAM-Erl über KrV vom 2.11.1943 = Juris RdNr 21; BSG vom 13.3.1968 - 12 RJ 622/64 - BSGE 28, 31 = SozRNr 4 zu § 522a ZPO; BSG vom 31.1.1967 - 2 RU 82/63 - AP Nr 3 zu § 522a ZPO; BGH vom 6.5.1987 - IVb ZR 51/86 - BGHZ 100, 383 = NJW 1987, 3263). Die im SGG nicht ausdrücklich geregelte Anschlussberufung richtet sich nach § 202 SGGiVm § 524 ZPO. Sie ist kein Rechtsmittel, sondern eröffnet dem Berufungsbeklagten lediglich die Möglichkeit, sich mit eigenen Sachanträgen über die begehrte Zurückweisung des Rechtsmittels hinaus oder nach Ablauf der Berufungsfrist gegen die Berufung zu verteidigen und damit eine reformatio in peius zu Lasten des Berufungsklägers zu erreichen (Schreiber in Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl 2014, § 143 RdNr 23; Sommer in Roos/Wahrendorf, SGG, 1. Aufl 2014, § 143 RdNr 26).
Die Anschlussberufung ist hier jedoch unzulässig, weil sie nicht denselben Streitgegenstand wie die Hauptberufung der Berufungsklägerin betrifft. Im Wege der Anschlussberufung kann kein neuer Streitgegenstand in das Berufungsverfahren eingeführt werden (BSG vom 5.5.2010 - B 6 KA 6/09 R - BSGE 106, 110 = SozR 4-2500 § 106 Nr 27; BSG vom 10.2.2005 - B 4 RA 48/04 R - Juris RdNr 33 f; BSG vom 26.10.2017 - B 8 SO 12/16 R - SozR 4
Gegenstand der mit der Berufung angegriffenen Entscheidung des SG war ausschließlich der die Höhe der Beiträge für das Jahr 2010 regelnde Verwaltungsakt vom 18.4.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8.6.2011 (vgl § 746 Abs 1 RVObzw ab 1.1.1997 § 168 Abs 1 SGB VII). Der Prüfungsumfang bei der Anfechtung...
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