Urteil Nr. B 2 U 23/17 R des Bundessozialgericht, 2019-01-29

Judgment Date29 Enero 2019
ECLIDE:BSG:2019:290119UB2U2317R0
Judgement NumberB 2 U 23/17 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 17. Mai 2017 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat die Kosten auch des Revisionsverfahrens zu tragen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte für die im Rettungsdienst hauptamtlich Beschäftigten der Klägerin Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung für das Umlagejahr 2011 festsetzen durfte.

Die Klägerin erbringt Rettungsdienstleistungen in Niedersachsen. Am 21.12.2006 vereinbarten der A Niedersachsen eV, der Beklagte sowie die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) vergleichsweise, dass die örtlich zuständigen Gemeinde-Unfallversicherungsverbände in Niedersachsen ab 1.1.2006 zuständig für die im Bereich der Hilfeleistung (zB Rettungsdienst, Katastrophenschutz) tätigen Personen des A Niedersachsen eV sind. In einer als "Nebenabrede zum Vergleich" bezeichneten Übereinkunft vom 22.11.2006 hatten die Beteiligten festgehalten, sie seien sich darüber einig, dass der Beklagte "für das Jahr 2005 den halben Beitrag, ab 2006 den vollen Beitrag erhebt". Der Beklagte setzte den Beitrag für das Umlagejahr 2011 auf 2073,80 € (= 103,69 € Beitragssatz x 20 Versicherte) fest und erteilte der Klägerin ein entsprechendes Zahlungsgebot (Beitragsbescheid vom 21.3.2011 und Widerspruchsbescheid vom 18.4.2011).

Das SG hat diese Bescheide aufgehoben (Urteil vom 7.10.2015). Die Berufung des Beklagten hat das LSG - unter weitgehender Bezugnahme auf sein Urteil vom 17.5.2017 im Parallelverfahren (L 16 U 19/16 - Juris RdNr 30 ff, 38 ff, 41 ff) - zurückgewiesen, die Revision zugelassen und ergänzend ausgeführt (Urteil vom 17.5.2017): Die Beitragsfreiheit für alle im Rettungsdienst der Klägerin Beschäftigten folge aus § 185 Abs 2 S 1 iVm § 128 Abs 1 Nr 6 SGB VII. Die Klägerin habe sich auch nicht in der Nebenabrede zum Vergleich "zu einer Beitragszahlung für Versicherte verpflichtet, für die im Gesetz eine Beitragsfreiheit geregelt ist". Denn mangels "einer ausdrücklichen willensgetragenen Regelung beider Vertragspartner" scheide die "vertragliche Einführung einer Beitragspflicht für vom Gesetz beitragsbefreite Versicherte" aus. Gegen die Beitragsfreiheit spreche auch nicht, dass prinzipiell nur die Beitragspflicht die Haftungsbeschränkung der Unternehmer rechtfertige, die ihnen durch § 104 SGB VII gegenüber ihren Beschäftigten eingeräumt werde. Die Beitragsfreiheit verstoße schließlich weder gegen Kartellrecht noch gegen das europarechtliche Beihilfeverbot.

Mit der Revision rügt der Beklagte die Verletzung des § 185 Abs 2 SGB VII. Diese Ausnahmevorschrift beschränke den Kreis der beitragsfrei Versicherten auf diejenigen Versicherten nach § 128 Abs 1 Nr 6 SGB VII, die zugleich die Verbandszuständigkeit für das Unternehmen der Klägerin auslösten. Zuständigkeitsbegründend seien allein die unentgeltlich, insbesondere ehrenamtlich Tätigen iS des § 2 Abs 1 Nr 12 SGB VII. Nur für sie sei Beitragsfreiheit gerechtfertigt. Dagegen müsse die Klägerin - wie jede Unternehmerin - für ihre Beschäftigten Beiträge zahlen, wofür sie im Gegenzug das Haftungsprivileg nach §§ 104 f SGB VII erhalte, das nur für Beschäftigte, nicht aber für ehrenamtlich tätige Personen gelte. Zudem belege die historische Auslegung, dass die Beitragsfreiheit ein Äquivalent dafür sei, dass sich Menschen unentgeltlich und ehrenamtlich in Unglückshilfe-Unternehmen engagierten und sich dabei Unfallgefahren aussetzten. Dies rechtfertige die staatliche Finanzierung ihres Unfallversicherungsschutzes im Rahmen der "unechten Unfallversicherung", wobei der Gesetzgeber für ehrenamtlich Tätige typischerweise Sonderregelungen (zB § 152 Abs 3, § 186 Abs 3 S 3 SGB VII) schaffe. Zu Recht stelle der 12. Senat des BSG in seinem Urteil vom 16.8.2017 (B 12 KR 14/16 R - BSGE 124, 37 = SozR 4-2400 § 7 Nr 31) die beitragsrechtliche Sonderstellung ehrenamtlich Tätiger heraus. Dagegen seien die Beschäftigten hier nicht aus ideellen Gründen tätig, sondern riskierten ihre Gesundheit in gleicher Weise wie alle anderen Beschäftigten, für die die Unternehmer beitragspflichtig seien. Die Klägerin erziele mit ihren Beschäftigten einen "unternehmerischen Gewinn", aus dem Unfallversicherungsbeiträge abzuführen seien. Ferner sei § 185 Abs 2 S 1 SGB VII im Lichte des Art 107 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) europarechtskonform auszulegen. Denn die Beitragsfreiheit begünstige die Klägerin im Wettbewerb mit anderen Unternehmen, was nach dem Urteil des EuG vom 28.11.2008 (T-254/00 ua - Juris) mit europäischem Beihilferecht unvereinbar sei.

Der Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 17. Mai 2017 und des Sozialgerichts Hannover vom 7. Oktober 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin, die dem angefochtenen Urteil beipflichtet, beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 S 1 SGG). Die geltend gemachte Verletzung des § 185 Abs 2 S 1 SGB VII liegt nicht vor. Zu Recht hat das LSG die Berufung des Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil zurückgewiesen, mit dem das SG auf die isolierte Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 SGG) der Klägerin den Beitragsbescheid vom 21.3.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.4.2011 (§ 95 SGG) aufgehoben hat. Denn die dort verlautbarte Beitragsfestsetzung und das entsprechende Zahlungsgebot sind rechtswidrig und beschweren die Klägerin (§ 54 Abs 2 S 1 SGG).

In der "Nebenabrede zum Vergleich" hat die Klägerin weder auf die Anfechtung künftiger Beitragsbescheide verzichtet (sog Klagbarkeitsausschluss, BSG vom 26.6.1980 - 5 RJ 70/79 - Juris RdNr 63) noch einen umfassenden Rechtsbehelfsverzicht erklärt (Weber in Brandt/Domgörgen, Handbuch Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess, 4. Aufl 2018, Kap F RdNr 130 f), sodass der Sachentscheidung keine von Amts wegen zu beachtenden Prozesshindernisse entgegenstehen (vgl BVerwG vom 28.4.1978 - VII C 50.75 - BVerwGE 55, 355 und vom 30.6.1964 - IV C 105.63 - DVBl 1964, 874; BGH vom 6.5.1981 - IVa ZR 170/80 - BGHZ 80, 269, 272; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 163 RdNr 5b mwN).

Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 168 Abs 1 SGB VII, der hier als Rechtsgrundlage allein in Betracht kommt, liegen nicht vor. Danach teilt der Unfallversicherungsträger dem Beitragspflichtigen den von ihm zu zahlenden Beitrag schriftlich mit, und bei dieser schriftlichen Mitteilung handelt es sich um einen Verwaltungsakt ("Beitragsbescheid", § 168 Abs 2 SGB VII; vgl BSG vom 27.5.2008 - B 2 U 11/07 R - BSGE 100, 243 = SozR 4-2700 § 150 Nr 3, RdNr 13). Dieser kann ersatzweise auf § 168 Abs 1 SGB VII gestützt werden, obgleich der Beklagte nur die "§§ 150, 185 SGB VII i.V.m. § 25 Abs. 1 und 4" seiner (Alt-)Satzung vom 15.9.2000 idF des 3. Nachtrags vom 15.12.2006 als "Grundlage der Beitragsfestsetzung" herangezogen hat (1.). Der Beklagte ist zuständiger Unfallversicherungsträger (2.) und die Klägerin grundsätzlich beitragspflichtig (3.). Sie hat jedoch weder aufgrund der als "Nebenabrede zum Vergleich" bezeichneten Übereinkunft der Beteiligten vom 22.11.2006 (4.) noch gemäß § 185 Abs 2 S 1 SGB VII (5.) einen Beitrag zu zahlen. Es besteht schließlich auch kein unionsrechtliches Durchführungsverbot für die Beitragsfreiheit (6.).

1. Das LSG durfte § 168 Abs 1 SGB VII anstelle der "§§ 150, 185 SGB VII i.V.m. § 25 Abs. 1 und 4" der Satzung heranziehen und damit die Rechtsgrundlage für den Verwaltungsakt auswechseln, weil dies die Beitragsfestsetzung weder in ihrem "Wesen" veränderte noch die Betroffene in ihrer Rechtsverteidigung beeinträchtigte und die (nachgeschobene) Rechtsgrundlage bereits bei Erlass des angefochtenen Verwaltungsaktes galt (BSG vom 26.9.1974 - 5 RJ 140/72 - BSGE 38, 157, 159 = SozR 2200 § 1631 Nr 1 S 3, vom 12.2.1980 - 7 RAr 107/78 - SozR 4100 § 119 Nr 12 S 54, vom 29.6.2000 - B 11 AL 85/99 R - BSGE 87, 8, 12 = SozR 3-4100 § 152 Nr 9 S 31 und vom 7.4.2016 - B 5 R 26/15 R - SozR 4-2600 § 89 Nr 3 RdNr 33; BVerwG vom 19.8.1988 - 8 C 29/87 - BVerwGE 80, 96, 97; Bieresborn in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 54 RdNr 149; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, aaO, § 54 RdNr 35 f mwN).

2. Die Stellung des Beklagten als zuständiger Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand ergibt sich direkt aus den gesetzlichen Zuständigkeitsregelungen und keinesfalls aus der Zuständigkeitsvereinbarung vom 21.12.2006, an der die Klägerin im Übrigen gar nicht beteiligt war. Die örtliche Zuständigkeit des Beklagten richtet sich nach dem Sitz der Klägerin in H. (§ 130 Abs 1 S 1 SGB VII, § 3 Abs 1 der Satzung iVm § 2 Abs 2 Nr 3 der Verordnung über die Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand und Besoldungshöchstgrenzen für bestimmte Sozialversicherungsträger - UnfVersTrBesHGrV ND - vom 14.12.2005 - Nds GVBl 2005, 405). Sachlich ist der Beklagte als Unfallversicherungsträger im Landesbereich ua für Personen zuständig, die in Einrichtungen zur Hilfe bei Unglücksfällen tätig sind (§ 128 Abs 1 Nr 6 Alt 1 SGB VII idF des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes - UVEG vom 7.8.1996, BGBl I 1254). Das Unternehmen (§ 121 Abs 1 SGB VII) der Klägerin erbringt Rettungsdienstleistungen (iS des § 2 Abs 2 des Niedersächsischen Rettungsdienstgesetzes - NRettDG vom 2.10.2007, Nds GVBl 2007, 473) und ist deshalb eine "Einrichtung zur Hilfe bei Unglücksfällen". Für die dort tätigen Personen ist der Beklagte somit sachlich zuständig (vgl dazu bereits BSG vom 28.11.2006 - B 2 U 33/05 R - BSGE 97, 279 = SozR 4-2700 § 136 Nr 2, RdNr 22). Seine Verbandszuständigkeit folgt aus § 128 Abs 2 SGB VII iVm § 2 Abs 1 UnfVersTrBesHGrV ND. Danach ist der Beklagte ua Unfallversicherungsträger im kommunalen Bereich und auch für Personen nach § 128 Abs 1 Nr 6 SGB VII zuständig, soweit nicht nach § 3 UnfVersTrBesHGrV ND die Feuerwehr-Unfallkasse Niedersachsen zuständig ist, was hier nicht in Betracht kommt.

3. Die Klägerin ist gemäß § 150...

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