Urteil Nr. B 2 U 15/20 R des Bundessozialgericht, 2021-08-10

Judgment Date10 Agosto 2021
ECLIDE:BSG:2021:100821UB2U1520R0
Judgement NumberB 2 U 15/20 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Gesetzliche Unfallversicherung - Beitragspflicht - Jagdverband - Aufnahmebescheid - Zuständigkeitsbescheid - Mitgliedschaft - Beitragsbescheid - Rücknahme - landwirtschaftlicher Unternehmer - unfallversicherungsrechtlicher Begriff des Unternehmens
Leitsätze

1. Dem Anspruch auf Rücknahme eines bestandskräftigen Verwaltungsakts über die Aufnahme des Unternehmers in das Unternehmerverzeichnis steht entgegen, dass die Unfallversicherungsträger seit dem 1.1.1997 verpflichtet sind, dem Unternehmer einen wirkungsgleichen Verwaltungsakt über den Beginn ihrer Zuständigkeit für das Unternehmen zu erteilen.

2. Der unfallversicherungsrechtliche Unternehmensbegriff ist weit und erfasst prinzipiell jede "Tätigkeit" im Sinn einer willentlichen, zielgerichteten Aktivität.

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 5. Februar 2020 aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Leipzig vom 26. Januar 2018 zurückgewiesen.

Der Kläger trägt auch die Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger Mitglied der Beklagten ist und Beiträge für die Umlagejahre 2011, 2012 und 2015 sowie einen Beitragsvorschuss für 2016 zahlen muss.

Der Kläger ist ein eingetragener, gemeinnütziger Verein. Seine satzungsgemäßen Aufgaben und Ziele bestehen ua darin, durch die Pflege und Förderung aller Zweige des Jagdwesens Natur- und Kulturlandschaften sowie alle in diesen Räumen lebenden Tier- und Pflanzenarten zu schützen und zu erhalten, Bestände von Tierarten zu regulieren und die natürlichen Ressourcen durch Hege und Bejagung nicht bedrohter Tierarten nachhaltig zu nutzen. Er vertritt die Interessen seiner Mitglieder und unterstützt ihre Aus- und Weiterbildung auf allen Gebieten der Jagd und des Naturschutzes. Die Sächsische Landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft (LBG) nahm ihn ab dem 1.4.1993 in ihr Unternehmerverzeichnis auf, weil er ein Unternehmen zum Schutz und zur Förderung der Landwirtschaft betreibe (Aufnahmebescheid vom 27.9.1995). Als deren Rechtsnachfolgerinnen setzten die LBG Mittel- und Ostdeutschland (LBG MOD) die Gesamtbeiträge für 2011 auf 43,36 Euro (Beitragsbescheid vom 2.3.2012) und die Beklagte für 2012 auf 50,02 Euro fest (Beitragsbescheid vom 11.2.2013).

Die Anträge des Klägers, die Beitragsbescheide zurückzunehmen und die Beiträge zu erstatten, lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 20.4.2016), setzte den Beitrag für 2015 auf 84,65 Euro sowie den Beitragsvorschuss für 2016 auf 67,72 Euro fest (Bescheid vom 24.8.2016) und wies die Widersprüche zurück (Widerspruchsbescheid vom 21.12.2016). Außerdem lehnte sie es ab, den Aufnahmebescheid vom 27.9.1995 im Zugunstenverfahren zurückzunehmen, weil das Überweisungsverfahren (§ 136 Abs 1 Satz 4, Abs 2 SGB VII) vorrangig sei (Bescheid vom 29.3.2017 und Widerspruchsbescheid vom 11.4.2017).

Das SG hat die Klagen abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 26.1.2018). Auf die Berufung der Klägerin hat das LSG den Gerichtsbescheid, den Bescheid vom 29.3.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.4.2017 sowie die Bescheide vom 20.4. und 24.8.2016 jeweils in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.12.2016 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Bescheid vom 27.9.1995 sowie die Beitragsbescheide vom 2.3.2012 und vom 11.2.2013 zurückzunehmen (Urteil vom 5.2.2020): Die Aufnahme des Klägers in das Unternehmerverzeichnis sei von Anfang an unrichtig und daher nach § 44 SGB X zurückzunehmen, weil er kein Unternehmen betreibe und deshalb auch kein Unternehmer sei, der Mitglied eines Unfallversicherungsträgers sein könne. Für ihn seien keine Versicherten tätig, die zu Schaden kommen könnten, sodass keine Berührungspunkte zum System der gesetzlichen Unfallversicherung bestünden. Mit der Rücknahme des Aufnahmeverwaltungsakts entfalle die Grundlage aller Beitragsbescheide.

Mit ihrer Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts (§ 136 Abs 1 iVm § 121 Abs 1 SGB VII bzw des § 658 Abs 2 Nr 1 RVO sowie des § 776 Abs 1 Satz 1 Nr 4 RVO bzw des § 123 Abs 1 Nr 6 und 7 SGB VII): Der bestandskräftige Aufnahmebescheid vom 27.9.1995 sei anfänglich rechtmäßig gewesen, weil die Jagd zur Landwirtschaft iS des § 776 Abs 1 Satz 1 RVO gehöre und der Kläger daher ein "Unternehmen zum Schutz und zur Förderung der Landwirtschaft" bzw einen "Verband" iS des § 776 Abs 1 Satz 1 Nr 4 RVO betrieben habe. Mit Inkrafttreten des § 123 Abs 1 Nr 6 und 7 SGB VII habe sich daran nichts geändert. Selbst wenn man dies anders sehe, werde der allgemeine § 44 SGB X durch den spezielleren § 136 Abs 1 Satz 4, Abs 2 Satz 1 und 2 SGB VII verdrängt. Sei der Kläger somit in jedem Fall versicherungs- und beitragspflichtiges Mitglied der Beklagten, seien auch die Beitragsbescheide nicht zu beanstanden.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 5. Februar 2020 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Leipzig vom 26. Januar 2018 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Er bekräftigt seine Rechtsansicht, kein Pflichtmitglied der Beklagten zu sein, und führt aus, er wolle weder an die Verwaltungs-BG überwiesen werden noch deren Mitglied sein oder werden.

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG) und führt zur Wiederherstellung des erstinstanzlichen Gerichtsbescheids vom 26.1.2018.

Zu Unrecht hat das LSG den Gerichtsbescheid, den Bescheid vom 29.3.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.4.2017 sowie die Bescheide vom 20.4. und 24.8.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.12.2016 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, den Bescheid der Sächsischen LBG vom 27.9.1995 (dazu A.), den Bescheid der LBG MOD vom 2.3.2012 sowie den Bescheid der Beklagten vom 11.2.2013 (zu beiden B.) zurückzunehmen. Der Bescheid vom 24.8.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.12.2016 (§ 95 SGG) ist ebenfalls nicht zu beanstanden, weil die dort verkörperten Verwaltungsakte über die Festsetzung des Beitrags für das Umlagejahr 2015 sowie das entsprechende Zahlungsgebot rechtmäßig und die Festsetzung des Beitragsvorschusses für das Umlagejahr 2016 nebst Zahlungsgebot auf andere Weise erledigt sind (dazu C.).

Die erstrebten Rücknahmen richten sich nach § 44 SGB X. Danach ist ein iS des § 44 Abs 1 SGB X nicht begünstigender Verwaltungsakt zurückzunehmen, soweit er anfänglich rechtswidrig ist. Der Verwaltungsakt ist immer mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen (Abs 2 Satz 1 aaO), soweit er noch Rechtswirkungen hat, also noch nicht iS des § 39 Abs 2 SGB X erledigt ist. Die Rücknahme hat für die Vergangenheit zu erfolgen, wenn wegen der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind (§ 44 Abs 1 Satz 1 SGB X). Das Gebot zur rückwirkenden Rücknahme gilt nicht in bestimmten Fällen der Bösgläubigkeit (Abs 1 Satz 2 aaO). Im Übrigen "kann" der anfänglich rechtswidrige Verwaltungsakt auch in sonstigen Fällen, dh außerhalb des Abs 1 Satz 1 aaO, für die Vergangenheit zurückgenommen werden (Abs 2 Satz 2 aaO).

A. Zu Unrecht hat das LSG die Ablehnungsentscheidungen in dem Bescheid vom 29.3.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.4.2017 (§ 95 SGG) aufgehoben (§ 54 Abs 1 Satz 1 Var 1 SGG) und die Beklagte verpflichtet (§ 54 Abs 1 Satz 1 Var 3 SGG), die Entscheidung der Sächsischen LBG vom 27.9.1995 über die Aufnahme des Klägers in das Unternehmerverzeichnis wegen anfänglicher Unrichtigkeit zurückzunehmen. Dem Anspruch auf Rücknahme des Aufnahmeverwaltungsakts vom 27.9.1995 steht entgegen, dass die Sächsische LBG spätestens mit Inkrafttreten des § 136 Abs 1 Satz 1 SGB VII ab dem 1.1.1997 (Art 1, Art 36 Satz 1 des Gesetzes zur Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das SGB UVEG> vom 7.8.1996, BGBl I 1254) verpflichtet war, ihre Zuständigkeit für den Jagdverband als landwirtschaftliches Unternehmen gegenüber dem Kläger festzustellen (dazu I.). Für die Zeit vom 1.4.1993 bis 31.12.1996 besteht ebenfalls kein Aufhebungsanspruch (dazu II.), weil die Rücknahme des Aufnahmeverwaltungsakts für den Kläger in diesem Zeitraum keine günstigen Auswirkungen mehr haben kann.

I. Nach § 136 Abs 1 Satz 1 SGB VII stellt der Unfallversicherungsträger Beginn und Ende seiner Zuständigkeit für ein Unternehmen durch schriftlichen Bescheid gegenüber dem Unternehmer fest. Die Tatbestandsvoraussetzungen dieser Norm sind seit dem 1.1.1997 durchgehend erfüllt (dazu 1.), sodass die Sächsische LBG den "Aufnahmebescheid" vom 27.9.1995 ab dem 1.1.1997 als "Zuständigkeitsbescheid" wirkungsgleich hätte erlassen müssen. In dieser Ausnahmesituation erlischt die Befugnis der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit (§ 2 SGG), die zuständige Behörde (§ 44 Abs 3 SGB X) zu verpflichten, anfänglich rechtswidrige Aufnahmeverwaltungsakte für Zeiträume ab dem 1.1.1997 zurückzunehmen (dazu 2.).

1. Die Sächsische LBG hatte ab dem 1.1.1997 den Beginn ihrer Zuständigkeit gegenüber dem Kläger für den Jagdverband durch schriftlichen Bescheid festzustellen. Denn der Kläger war Unternehmer eines unfallversicherungsrechtlichen Unternehmens (dazu a) der Landwirtschaft (dazu b), und die Sächsische LBG war der sachlich und örtlich zuständige Unfallversicherungsträger (dazu c).

a) Entgegen der Ansicht des Klägers ist er "Unternehmer" eines unfallversicherungsrechtlichen "Unternehmens". Unternehmer ist nach § 136 Abs 3 Nr 1 SGB VII in seiner bis zum 16.11.2016 geltenden Fassung derjenige, dem das Ergebnis des Unternehmens unmittelbar zum Vor- oder Nachteil gereicht. Den Typus des Unternehmens umschreibt der Klammerzusatz in § 121 Abs 1 SGB VII, indem er Betriebe, Verwaltungen, Einrichtungen und bloße Tätigkeiten aufzählt. Dieser Sammelbegriff macht deutlich, dass unter einem "Unternehmen" nicht nur ein Betrieb im herkömmlichen wirtschaftlichen Sinne zu verstehen ist (BSG Urteile vom 31.1.2012 - B 2 U 3/11 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 18 RdNr 16 und...

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