Urteil Nr. B 3 KR 2/23 R des Bundessozialgericht, 2023-11-30
Judgment Date | 30 Noviembre 2023 |
ECLI | DE:BSG:2023:301123UB3KR223R0 |
Judgement Number | B 3 KR 2/23 R |
Court | Der Bundessozialgericht (Deutschland) |
Auf die Revision der Klägerin werden die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 13. September 2022 sowie des Sozialgerichts Osnabrück vom 18. November 2019 geändert und die Widerklage insgesamt abgewiesen.
Im Übrigen wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 13. September 2022 aufgehoben und der Rechtsstreit insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.n.
Im Streit stehen Vergütungsansprüche für Hilfsmittel und Blutzuckerteststreifen.
Die Klägerin vertreibt bundesweit Produkte zur Diabetesbehandlung. Nach gescheiterten Vertragsverhandlungen mit der beklagten Krankenkasse erklärte sie im November 2014 ihren Beitritt zu zwei zwischen der Beklagten und anderen Leistungserbringern geschlossenen Verträgen über die Versorgung mit Hilfsmitteln zur Insulinpumpen- und Diabetestherapie. Die Beitrittserklärungen gab sie unter "Protest und Ausschluss" inhaltsgleicher Klauseln ab, die es anderen Krankenkassen ermöglichten, diesen Verhandlungsverträgen beizutreten, und die ihre Versorgungsberechtigung an den Fortbestand dieser Verträge knüpften. Mit einem weiteren "Ausschluss" wandte sie sich gegen die im Vertrag über Hilfsmittel zur Diabetestherapie enthaltenen Preis- und Abrechnungsregelungen zu Blutzuckerteststreifen; deren Abrechnung richte sich nicht nach dem Vertragsregime für die Versorgung mit Hilfsmitteln, sondern nach dem marktüblichen Preisniveau.
Die Beklagte wies die Vertragsbeitritte zurück, weil sie nicht zu den Bedingungen der von ihr mit anderen Leistungserbringern ausgehandelten Verträge erfolgt sei, und lehnte die Vergütung der von der Klägerin gleichwohl erbrachten Leistungen ab, soweit es sich nicht um Blutzuckerteststreifen handelte; diese vergütete sie für Lieferungen vom 25.11.2014 bis 1.2.2017 in Höhe der Vertragspreise, weil das Abrechnungssystem keine Vorabprüfung einer Versorgungsberechtigung ermöglicht habe.
Das SG hat die Klage auf Bezahlung weiterer Leistungen im streitbefangenen Zeitraum in Höhe von 27 151,12 Euro abgewiesen und die Klägerin auf die Widerklage der Beklagten zur Erstattung bereits erhaltener Zahlungen in Höhe von 22 407,31 Euro für die Versorgung verurteilt (Urteil vom 18.11.2019). Die Berufung hiergegen hat das LSG zurückgewiesen (Urteil vom 13.9.2022): Die Klägerin sei nicht versorgungsberechtigt gewesen, weshalb sie keine Vergütungsansprüche erworben und die Beklagte die Entgelte rechtsgrundlos geleistet habe. Sowohl Hilfsmittel als auch Blutzuckerteststreifen dürften allein auf vertraglicher Grundlage zulasten der Beklagten abgegeben werden. Den Verträgen sei die Klägerin wegen der geäußerten Vorbehalte nicht zu den gleichen Bedingungen beigetreten. Im Übrigen sei sie mit ihrem Vortrag zur Höhe der eingeklagten Forderung präkludiert.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts (§§ 126 und 127 SGB V, § 69 Abs 1 Satz 3 SGB V iVm §§ 133, 157 BGB). Sie sei den Verhandlungsverträgen zu gleichen Bedingungen beigetreten und deshalb versorgungsberechtigt. Unabhängig hiervon sei ein Vertrag für die Abgabe und Abrechnung von Blutzuckerteststreifen zulasten der Beklagten nicht erforderlich.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 13. September 2022 und des Sozialgerichts Osnabrück vom 18. November 2019 zu ändern und die Widerklage insgesamt abzuweisen sowie das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 13. September 2022 im Übrigen aufzuheben und den Rechtsstreit insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte verteidigt die angegriffene Entscheidung und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die zulässige Revision der Klägerin hat überwiegend Erfolg. Zu Recht beansprucht die Klägerin ungeachtet des Streits um Einzelheiten der zugrunde liegenden Verträge eine Vergütung für die von ihr abgegebenen Produkte, weshalb die Widerklage auf Erstattung der Zahlungen für Blutzuckerteststreifen abzuweisen und das Urteil des LSG insoweit zu ändern ist (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Keinen Erfolg hat die Klägerin indes, soweit sie eine höhere Vergütung für die Versorgung mit Blutzuckerteststreifen beansprucht. Inwiefern ihr darüber hinaus eine Vergütung für weitere Versorgungen zusteht, bedarf näherer Feststellungen, die nach der Rechtsauffassung des LSG bisher nicht veranlasst waren und im insoweit wiedereröffneten Berufungsverfahren nachzuholen sind (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist das Urteil des LSG, soweit es die Berufung der Klägerin gegen das ihre Klage auf Vergütung weiterer Leistungen abweisende und sie zur Erstattung erhaltener Vergütungen verpflichtende Urteil des SG zurückgewiesen hat. Zutreffend haben die Vorinstanzen insoweit im Gleichordnungsverhältnis der Beteiligten jeweils auf Leistungsklagen entschieden (§ 54 Abs 5 SGG).
2. Rechtsgrundlage der streitbefangenen Vergütungsansprüche ist § 126 Abs 1 SGB V iVm § 127 Abs 2 und Abs 2a SGB V (jeweils idF des GKV-OrgWG vom 15.12.2008, BGBl I 2426, mWv 1.1.2009; nunmehr inhaltsgleich § 127 Abs 1 und 2 SGB V idF des TSVG vom 6.5.2019, BGBl I 646) iVm § 5 und Anl 2 des Vertrags über Hilfsmittel zur Insulinpumpentherapie sowie §§ 13 und 16 und Anl 2 des Vertrags über Hilfsmittel zur Diabetestherapie. Hiernach dürfen Hilfsmittel an Versicherte allein auf der Grundlage von Verträgen nach § 127 Abs 1, 2 und 3 SGB V abgegeben werden (§ 126 Abs 1 Satz 1 SGB V), wozu ua Krankenkassen - soweit Ausschreibungen nach Abs 1 nicht durchgeführt werden - mit Leistungserbringern Verträge über die Einzelheiten der Versorgung mit Hilfsmitteln schließen (§ 127 Abs 2 Satz 1 SGB V). Diesen Verträgen können Leistungserbringer zu den gleichen Bedingungen beitreten, soweit sie nicht bereits vertraglich zur Versorgung der Versicherten berechtigt sind (§ 127 Abs 2a Satz 1 SGB V). Dem unterliegt für den Zeitraum hier auch die Versorgung gesetzlich Krankenversicherter mit Blutzuckerteststreifen zur Eigenanwendung jedenfalls außerhalb von Apotheken (dazu sogleich 3. und 4.). Unter einer das Rechtsschutzinteresse der Klägerin einbeziehenden Würdigung ihrer Willenserklärungen sind entsprechende Verträge - zu Hilfsmitteln wie zu Blutzuckerteststreifen - auch wirksam zustande gekommen (dazu 5. und 6.). Zu Recht wendet sich die Klägerin deshalb gegen die Verurteilung zur Erstattung der von der Beklagten für die Lieferung von Blutzuckerteststreifen bereits geleisteten Zahlungen (dazu 7.). Inwiefern auch weitere Zahlungsansprüche berechtigt sind, bedarf näherer Feststellungen, die im insoweit wiedereröffneten Berufungsverfahren nachzuholen und nicht wegen verspäteten Vortrags der Klägerin ausgeschlossen sind (dazu 8.).
3. Harn- und Blutteststreifen zur Eigenanwendung können jedenfalls außerhalb von Apotheken durch nichtärztliche Leistungserbringer nur auf Grund eines Vertrags zur Hilfsmittelversorgung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung abgegeben werden.
a) Nach der leistungsrechtlichen Zuordnung ist der Anspruch gesetzlich Krankenversicherter auf Versorgung mit Blut(zucker)teststreifen der Arznei- und Verbandmittelversorgung zugewiesen, obschon Harn- und Blutteststreifen wie Verbandmittel krankenversicherungsrechtlich seit langem nicht mehr als Arzneimittel zu qualifizieren sind. Demgemäß besteht nach § 31 SGB V Anspruch auf die Versorgung ua mit "mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, […] Verbandmitteln, Harn- und Blutteststreifen" (Abs 1 Satz 1). Notwendige, nicht hinreichende Bedingung für die Qualität als Arzneimittel im krankenversicherungsrechtlichen Sinne (§ 31 Abs 1 Satz 1 SGB V) ist aber, dass eine Arzneimitteleigenschaft iS des AMG besteht (vgl BSG vom 3.7.2012 - B 1 KR 23/11 R - BSGE 111, 155 = SozR 4-2500 § 31 Nr 21, RdNr 12). Jedenfalls daran fehlt es bereits, seit Verbandmittel zur Anwendung am menschlichen Körper und In-vitro-Diagnostika zur Erkennung der Beschaffenheit, des Zustands oder der Funktionen des menschlichen Körpers aus dem Katalog der Geltungsarzneimittel des § 2 Abs 2 AMG gestrichen worden sind (Verbandstoffe zum 1.1.1995, vgl § 51 Nr 1 Buchst a Buchst cc iVm § 60 Abs 2 MPG idF vom 2.8.1994, BGBl I 1963; In-vitro-Diagnostika zum 1.1.2002, vgl Art 3 Nr 1 Buchst c iVm Art 15 des 2. MPG-ÄndG vom 13.12.2001, BGBl I 3586). Statt dessen unterliegen diese Produkte nunmehr der Regulierung durch die Verordnung (EU) 2017/745 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5.4.2017 über Medizinprodukte, zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG, der Verordnung (EG) Nr 178/2002 und der Verordnung (EG) Nr 1223/2009 und zur Aufhebung der Richtlinien 90/385/EWG und 93/42/EWG des Rates (ABl L 117 vom 5.5.2017, S 1) sowie der Verordnung (EU) 2017/746 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5.4.2017 über In-vitro-Diagnostika und zur Aufhebung der Richtlinie 98/79/EG und des Beschlusses 2010/227/EU der Kommission (ABl L 117 vom 5.5.2017, S 176; im Folgenden IVD-VO). Entsprechendes galt vor dem Geltungsbeginn dieser Verordnungen für In-vitro-Diagnostika in Umsetzung der Richtlinie 98/79/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27.10.1998 über In-vitro-Diagnostika (ABl L 331 vom 7.12.1998, S 1) seit dem 1.1.2002 bis zum 25.5.2021 nach nationalem Medizinprodukterecht gemäß § 3 Nr 4 MPG (idF des 2. MPG-ÄndG; vgl zuvor schon § 3 Nr 4 iVm § 60 Abs 2 MPG idF vom 2.8.1994, BGBl I 1963) sowie für Verbandmittel in Umsetzung der Richtlinie 93/42/EWG des Rates vom 14.6.1993 über Medizinprodukte (ABl L 169 vom 12.7.1993, S 1) seit dem 29.6.1993 bis zum 25.5.2021 gemäß § 3 Nr 1 Buchst a MPG (idF vom 2.8.1994 mWv 1.1.1995, BGBl I 1963).
b) Beziehen können Versicherte Harn- und Blutteststreifen zur Eigenanwendung - also außerhalb einer ärztlichen oder Krankenhausbehandlung (vgl Art 2 Nr 5 IVD-VO) - zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung in Apotheken sowie von sonstigen dazu bestellten nichtärztlichen Leistungserbringern. Auf...
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