Urteil Nr. B 3 KR 7/19 R des Bundessozialgericht, 2020-05-07

Judgment Date07 Mayo 2020
ECLIDE:BSG:2020:070520UB3KR719R0
Judgement NumberB 3 KR 7/19 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Krankenversicherung - Hilfsmittel - Spezialtherapiedreirad - Vorbeugung einer drohenden Behinderung bei bestehender Behinderung - Verhütung einer Verschlimmerung der Behinderung oder Abwendung des Hinzutritts einer wertungsmäßig neuen Behinderung - Behinderungsausgleich - Grundbedürfnis nach Mobilität - Erschließung des Nahbereichs der Wohnung
Leitsätze

1. Bei einer bestehenden Behinderung dient ein Hilfsmittel zur Vorbeugung einer drohenden Behinderung, wenn mit dessen Einsatz im Schwerpunkt die Verschlimmerung der Behinderung verhütet oder der Hinzutritt einer wertungsmäßig neuen Behinderung abgewendet wird.

2. Bei der Prüfung eines Anspruchs auf ein Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich ist das zu befriedigende Grundbedürfnis nach Mobilität nicht zu eng zu fassen in Bezug auf die Art und Weise, wie sich Versicherte den Nahbereich der Wohnung zumutbar und in angemessener Weise erschließen.

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 23. April 2018 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

Im Streit ist der Anspruch der Klägerin auf Kostenerstattung für ein selbstbeschafftes Hilfsmittel (Therapiedreirad-Tandem nach Maß mit Tretkraftunterstützung durch Hilfsmotor; im Folgenden: Spezialtherapierad).

Die 1993 geborene, bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Klägerin leidet an einer globalen Entwicklungsverzögerung, Gleichgewichtsstörung und Hüftdysplasie links sowie an einem statomotorischen Entwicklungsdefizit (Grad der Behinderung 100; Merkzeichen G und H). Der im Juli 2012 bei der Beklagten gestellte Antrag auf Versorgung mit einem ärztlich verordneten Spezialtherapierad blieb erfolglos, weil das Hilfsmittel dem Freizeitausgleich diene und zur Erschließung des Nahbereichs der Wohnung der Klägerin mit Blick auf ihre vorhandene Gehfähigkeit nicht erforderlich sei; ggf reiche dafür ein Schieberollstuhl aus. Zur Förderung des Gleichgewichtssinns stünden andere Möglichkeiten und Maßnahmen wie Krankengymnastik zur Verfügung. Die Zuständigkeit eines anderen Kostenträgers lasse sich den Angaben der Klägerin nicht entnehmen, weshalb keine Weiterleitung des Antrags nach § 14 SGB IX möglich sei (Bescheid vom 31.8.2012; Widerspruchsbescheid vom 6.12.2012).

Das dagegen angerufene SG hat - nach zwischenzeitlicher Selbstbeschaffung des Spezialtherapierads durch die Klägerin - die Beklagte unter Aufhebung der ablehnenden Bescheide verurteilt, der Klägerin die von ihr aufgewandten Kosten von 7697 Euro zu erstatten. Es hat sich hierfür auf ein von ihm eingeholtes neurologisches Sachverständigengutachten gestützt. Das Hilfsmittel sei erforderlich zur Vorbeugung einer drohenden Behinderung (§ 33 Abs 1 Satz 1 Var 2 SGB V). Der Vorbeugung einer Behinderung diene ein Hilfsmittel auch, wenn sich eine bereits bestehende Behinderung zu verschlimmern drohe. Davon sei hier auszugehen, denn der Klägerin drohe ohne die regelmäßige Nutzung des Spezialtherapierads die Verschlimmerung der bestehenden Gleichgewichts- und Koordinationsstörung (Urteil vom 23.2.2017). Dem hat sich das LSG angeschlossen und die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 23.4.2018).

Mit ihrer dagegen gerichteten Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 33 Abs 1 Satz 1 Var 2 SGB V. Das LSG habe die Rechtsprechung des BSG zu den Begrenzungen des Anspruchs auf Hilfsmittelversorgung zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung und zum mittelbaren Behinderungsausgleich (§ 33 Abs 1 Satz 1 Var 1 und 3 SGB V) unberücksichtigt gelassen. Diese Begrenzungen müssten auch auf die - hier einschlägige - Hilfsmittelversorgung zur Vorbeugung einer drohenden Behinderung übertragen werden, um deren Umgehung zu verhindern.

Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 23. April 2018 und des Sozialgerichts Hannover vom 23. Februar 2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Sie hält die auf medizinische Ermittlungen gestützten tatrichterlichen Entscheidungen der Vorinstanzen für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des LSG-Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Der Klägerin steht entgegen der Auffassung der Vorinstanzen zwar kein Anspruch auf Kostenerstattung für das Hilfsmittel zur Vorbeugung einer drohenden Behinderung zu, aber für sie kommt ein Anspruch zum Ausgleich einer bestehenden Behinderung in Betracht. Auf der Grundlage der Feststellungen des LSG kann der Senat jedoch nicht abschließend über den von der Klägerin gegen die Beklagte geltend gemachten Anspruch auf Erstattung der Kosten für die Selbstbeschaffung des Spezialtherapierads iHv 7697 Euro entscheiden.

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind zum einen die Urteile der Vorinstanzen, durch die die Beklagte zur von der Klägerin begehrten Kostenerstattung für das selbstbeschaffte Spezialtherapierad verurteilt worden ist, und zum anderen der Bescheid der Beklagten vom 31.8.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6.12.2012, durch den die begehrte Versorgung mit einem Spezialtherapierad abgelehnt worden ist. Hiergegen wendet sich die Klägerin zutreffend mit der nach Selbstbeschaffung auf Kostenerstattung gerichteten kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG), deren Abweisung die Beklagte mit ihrer Revision begehrt. Prozessuale Hindernisse stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen.

2. Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs auf Kostenerstattung ist § 13 Abs 3 Satz 1 Alt 2 SGB V (idF des SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - vom 19.6.2001, BGBl I 1046). Danach sind, wenn eine KK eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat und dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden sind, diese von der KK in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war. Nach § 13 Abs 3 Satz 2 SGB V iVm § 15 Abs 1 Satz 4 Alt 2 SGB IX (in der og bis 31.12.2017 geltenden Fassung des SGB IX aF>) ist der Rehabilitationsträger zur Erstattung einer vom Leistungsberechtigten selbstbeschafften erforderlichen Leistung ua dann verpflichtet, wenn er diese zu Unrecht abgelehnt hat und zwischen der rechtswidrigen Ablehnung und der Kostenlast des Versicherten ein Ursachenzusammenhang besteht. Ob die begehrte Leistung zu Unrecht abgelehnt wurde, richtet sich nach dem für den jeweiligen Rehabilitationsträger geltenden Leistungsrecht (vgl nur BSG Urteil vom 7.10.2010 - B 3 KR 5/10 R - SozR 4-2500 § 33 Nr 32 RdNr 9 unter Hinweis auf BSG Urteil vom 17.6.2008 - B 1 KR 31/07 R - SozR 4-2500 § 43 Nr 1 RdNr 16). Die Sachleistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) für die Versorgung ihrer Versicherten mit Hilfsmitteln bestimmt sich nach § 33 SGB V. Der ursprüngliche Sachleistungsanspruch wandelt sich dann in einen Kostenerstattungsanspruch um (vgl hierzu nur BSG Urteil vom 11.5.2017 - B 3 KR 30/15 R - BSGE 123, 144 = SozR 4-2500 § 13 Nr 34, RdNr 14).

Rechtsgrundlage für die ursprünglich begehrte Hilfsmittelversorgung ist § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V (idF des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes - GKV-WSG vom 26.3.2007, BGBl I 378). Danach haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern (Var 1), einer drohenden Behinderung vorzubeugen (Var 2) oder eine Behinderung auszugleichen (Var 3), soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs 4 SGB V ausgeschlossen sind.

Zwar ergibt sich hier ein Sachleistungsanspruch nicht aus § 33 Abs 1 Satz 1 Var 1 und 2 SGB V (dazu 3. und 4.). In Betracht kommt aber ein Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs 3 Satz 1 Alt 2 SGB V iVm einem Sachleistungsanspruch nach § 33 Abs 1 Satz 1 Var 3 SGB V, über den der Senat auf der Grundlage der Feststellungen des LSG indes nicht abschließend entscheiden kann (dazu 5.).

3. Ein Sachleistungsanspruch der Klägerin auf Versorgung mit dem Spezialtherapierad, ein bewegliches sächliches Hilfsmittel iS des § 33 SGB V (vgl zum Hilfsmittelbegriff nur BSG Urteil vom 30.9.2015 - B 3 KR 14/14 R - SozR 4-2500 § 33 Nr 48 RdNr 11), ergibt sich nicht aus § 33 Abs 1 Satz 1 Var 1 SGB V.

Beim Einsatz von Hilfsmitteln des § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V ist nach deren Funktionalität und schwerpunktmäßiger Zielrichtung bzw Zwecksetzung zu differenzieren (vgl nur BSG Urteil vom 15.3.2018 - B 3 KR 18/17 R - BSGE 125, 189 = SozR 4-2500 § 13 Nr 41, RdNr 23 ff). Ein Hilfsmittel dient iS des § 33 Abs 1 Satz 1 Var 1 SGB V der "Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung", wenn es im Rahmen einer Krankenbehandlung (§ 27 Abs 1 Satz 1 SGB V), dh zu einer medizinisch-therapeutischen Behandlung einer Erkrankung als der Kernaufgabe der GKV nach dem SGB V eingesetzt wird (vgl nur BSG, aaO, RdNr 24).

Der Krankenbehandlung können zwar auch Hilfsmittel zur Ermöglichung oder Förderung der körperlichen Mobilisation dienen, aber nur in besonders gelagerten Fällen mit einem spezifischen Bezug zur ärztlich verantworteten Krankenbehandlung. Ein solcher Bezug kommt Hilfsmitteln zur körperlichen Mobilisation zu, die in engem Zusammenhang mit einer andauernden, auf einem ärztlichen Therapieplan beruhenden Behandlung durch ärztliche und ärztlich angeleitete Leistungserbringer stehen und die für die gezielte Versorgung im Sinne der Behandlungsziele des § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V als erforderlich anzusehen sind (vgl dazu zuletzt näher BSG Urteil vom 15.3.2018 - B 3 KR 4/16 R - juris RdNr 43; BSG...

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