Urteil Nr. B 3 KR 21/17 R des Bundessozialgericht, 2018-07-04

Judgment Date04 July 2018
ECLIDE:BSG:2018:040718UB3KR2117R0
Judgement NumberB 3 KR 21/17 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Krankenversicherung - Festlegung des Erstattungsbetrags für Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen und anerkanntem Zusatznutzen nur für Patiententeilgruppen - Rechtmäßigkeit der sogenannten Mischpreisbildung - Irrelevanz der Kosten einer zweckmäßigen Vergleichstherapie als Obergrenze - Schiedsspruch einer Schiedsstelle - Begründungsanforderung - Verfahrensrüge wegen der Ermöglichung weiteren tatsächlichen und rechtlichen Vorbringens
Leitsätze

1. Zur Rechtmäßigkeit der sog Mischpreisbildung sowie zur Irrelevanz der Kosten einer zweckmäßigen Vergleichstherapie als Obergrenze für den von den Krankenkassen zu zahlenden Erstattungsbetrag für Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen und anerkanntem Zusatznutzen nur für Patiententeilgruppen (Übereinstimmung mit BSG vom 4.7.2018 - B 3 KR 20/17 R - zur Veröffentlichung vorgesehen).

2. Der Schiedsspruch einer Schiedsstelle zur Festlegung des von den Krankenkassen zu zahlenden Erstattungsbetrags für Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen und Teil-Zusatznutzen muss die Gründe für die Entscheidung (nur) wenigstens andeutungsweise erkennen lassen (Anschluss an BSG vom 13.8.2014 - B 6 KA 6/14 R = BSGE 116, 280 = SozR 4-2500 § 87a Nr 2).

3. Verfahrensrügen der Beteiligten wegen der Ermöglichung weiteren tatsächlichen und rechtlichen Vorbringens sind dem Vorsitzenden der Schiedsstelle grundsätzlich spätestens bis zur abschließenden Beratung mitzuteilen und im Sitzungsprotokoll zu dokumentieren

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 28. Juni 2017 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beklagten.

Kosten der Beigeladenen zu 1. und zu 2. sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

Im Streit steht die Rechtmäßigkeit eines Schiedsspruchs wegen des von der beklagten Schiedsstelle festgesetzten Erstattungsbetrages für das Fertigarzneimittel Zydelig®.

Die Beigeladene zu 1. ist ein pharmazeutisches Unternehmen in der Rechtsform einer GmbH. Sie erhielt am 18.9.2014 die arzneimittelrechtliche Zulassung für das Arzneimittel Zydelig® mit dem Wirkstoff Idelalisib in Kombination mit dem Wirkstoff Rituximab zur Behandlung von Erwachsenen mit chronischer lymphatischer Leukämie für drei Anwendungsgebiete:
- bei Patienten, die mindestens eine vorangegangene Therapie erhalten haben (Anwendungsgebiet 1),
- als Erstlinientherapie bei Vorliegen einer 17p-Deletion oder einer TP53-Mutation bei Patienten, die für eine Chemoimmuntherapie ungeeignet sind (Anwendungsgebiet 2),
- als Monotherapie zur Behandlung von erwachsenen Patienten mit follikulärem Lymphom (FL), das refraktär gegenüber zwei vorausgegangenen Therapielinien ist (Anwendungsgebiet 3).

Der Beigeladene zu 2., der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA), beschloss am 19.3.2015 über die Nutzenbewertung des Wirkstoffs Idelalisib nach § 35a Abs 3 SGB V(BAnz AT 23.4.2015 B 2). Er legte die Anzahl der für die Behandlung in Frage kommenden Patienten wie folgt fest:
- Anwendungsgebiet 1 unterteilt in vier Teilpopulationen (1a bis 1d: zwischen 2000 bis 7500 Patienten),
- Anwendungsgebiet 2 (200 bis 300 Patienten) und Anwendungsgebiet 3 (800 bis 3300 Patienten).

Lediglich in der Teilpopulation 1b des Anwendungsgebietes 1 und im Anwendungsgebiet 2 stellte der Beigeladene zu 2. jeweils einen Anhaltspunkt für einen nicht-quantifizierbaren Zusatznutzen des Arzneimittels Zydelig® im Verhältnis zu der zweckmäßigen Vergleichstherapie "Best-Supportive-Care" fest. Für die übrigen Teilpopulationen (1a, 1c, 1d Anwendungsgebiet 1, Anwendungsgebiet 3) stellte er fest, dass der Zusatznutzen des Arzneimittels im Verhältnis zur zweckmäßigen Vergleichstherapie als nicht belegt gelte, weil die erforderlichen Nachweise vom pharmazeutischen Unternehmer nicht vorgelegt worden seien. Der Beschluss des Beigeladenen zu 2. wurde bis zum 1.4.2016 befristet.

Nach erfolglosen Preisverhandlungen beantragte der klagende Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) bei der beklagten Schiedsstelle die Festsetzung des Erstattungsbetrages für das Arzneimittel iHv 2968,56 bzw 1979,04 Euro je Packung und 0,32984 Euro je Bezugsgröße und Jahrestherapiekosten von 33 992 Euro. Die Beigeladene zu 1. forderte hingegen den Erstattungsbetrag iHv 4200 Euro je Packung bzw 140 Euro je Bezugsgröße und Jahrestherapiekosten von 51 100 Euro. Nach mündlicher Verhandlung am 14.1.2016 setzte die Beklagte mit Schiedsspruch vom 20.1.2016 den Erstattungsbetrag für Zydelig® für alle sechs Patientengruppen ab 24.9.2015 einheitlich auf 3900 Euro pro Packung und 130 Euro je Bezugsgröße sowie Jahrestherapiekosten von ca 44 650 Euro fest (sog Mischpreise). Die Jahrestherapiekosten des vergleichbaren Arzneimittels Ibrutinib legte sie mit 68 433 Euro zugrunde. Die Kosten des Einsatzes des Kombinationspräparates Rituximab wurden mitberechnet. Die europäischen Abgabepreise wurden mangels ausreichender Informationen nachrangig berücksichtigt. Die Beklagte ging davon aus, dass die hochspezialisierten Fachärzte Zydelig® weit überwiegend jenen Patientengruppen verordnen würden, für die ein nicht quantifizierbarer Zusatznutzen bestand.

Auf die Klage hat das LSG Berlin-Brandenburg den Schiedsspruch der Beklagten vom 20.1.2016 hinsichtlich des festgesetzten Erstattungsbetrages aufgehoben: Der Schiedsspruch, der auf § 130b Abs 1 und 3 SGB V, § 35a Abs 3 SGB V, § 130b Abs 9 SGB VaF beruhe (aF, Rechtslage vor dem seit 13.5.2017 geltenden GKV-Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz vom 4.5.2017 - AMVSG -, BGBl I 1050 <vglArt 7 Abs 1>), sei rechtswidrig und verletze den Kläger in eigenen Rechten. Die Beklagte habe damit ihren Gestaltungs- bzw Entscheidungsspielraum überschritten. Selbst vor dem LSG habe sie keine nachvollziehbare Berechnung des Erstattungsbetrages vorgelegt und nicht erkennen lassen, wie sie die Jahrestherapiekosten und den Erstattungsbetrag je Packung kalkuliert habe. Die Offenlegung des Rechenwegs sei aber erforderlich, um insbesondere nachvollziehen zu können, ob der Rechenweg frei von Fehlern sei. Auch wenn nach den Gesetzesmaterialien zu § 130b SGB V(Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit <14. Ausschuss> des Deutschen Bundestags zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP - Drucksache 17/13083 eines Dritten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften, BT-Drucks 17/13770 S 24) die Entscheidung der Schiedsstelle nicht im Sinne eines konkreten Entscheidungsalgorithmus vorgegeben sei, müsse die Gewichtung der maßgeblichen Kriterien nachvollziehbar sein. Mangels Offenlegung des Rechenwegs sei nicht auszuschließen, dass Jahrestherapiekosten hier "durch Würfeln oder im Losverfahren" ermittelt worden seien. Es bestünden "unabhängig davon weitere rechtliche Bedenken" gegen die praktizierte Methode der Mischpreisbildung. Diese führe zu nicht nutzenadäquaten Preisverzerrungen in den einzelnen Anwendungsbereichen bzw Patientengruppen und widerspreche der Grundidee des Gesetzes. Die Kalkulation eines (einheitlichen) Mischpreises für alle sechs Patientengruppen sei rechtswidrig. Für die Behandlung von Patienten ohne Zusatznutzen müssten unwirtschaftliche Arzneimittelpreise von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erstattet werden; insofern bildeten die Jahrestherapiekosten der Vergleichstherapie die rechtliche Obergrenze nach § 130b Abs 3 SGB V. Für die Behandlung von Patienten mit Zusatznutzen komme es hingegen zulasten der Pharmaunternehmer durchweg zu einem zu niedrigen Erstattungsbetrag. Die Festlegung eines Mischpreises führe auch zu nicht unerheblichen Regressrisiken in der vertragsärztlichen Versorgung, da die Verordnung von Arzneimitteln ohne Zusatznutzen unwirtschaftlich sei. Vertragsärzte seien bislang oft nur unzureichend durch den GBA über die Ergebnisse der Nutzenbewertung und den Zusatznutzen von Arzneimitteln durch den GBA informiert worden (Urteil vom 28.6.2017).

Hiergegen richtet sich die Revision der beklagten Schiedsstelle. Sie rügt die Verletzung von § 35 Abs 1 S 2, § 41 Abs 1 Nr 2, Abs 2 SGB XiVm § 130b Abs 4, Abs 6 S 4 SGB V durch das LSG. Dieses habe ihren Gestaltungsspielraum durch die angenommene Pflicht zur Offenlegung des Rechenwegs verletzt sowie formelle Begründungspflichten mit materiellen Kriterien in unzutreffender Weise vermengt. Eine Schiedsstelle dürfe den Erstattungsbetrag aber genauso frei festsetzen wie die Verhandlungspartner selbst. Bislang existiere in der Gesundheitsökonomik keine allgemein anerkannte Methode zur Kalkulation des Mischpreises. Der angemessene Erstattungsbetrag könne daher allenfalls mit Hilfe des Niveaus europäischer Abgabepreise, der Kosten vergleichbarer Arzneimittel oder einer zweckmäßigen Vergleichstherapie rationalisiert werden. Dass die Grenzen des Gestaltungsspielraums hier gewahrt seien, folge auch aus der Höhe des festgesetzten Erstattungsbetrages, der sich im Korridor der von den Beteiligten gestellten Anträge bewege. Ein Verstoß gegen das Willkürverbot liege nicht vor. Sie (die Beklagte) habe spätestens in ihrer Klageerwiderung ausreichend dargelegt, wie sie den Zusatznutzen monetär bewertet habe. Der Schiedsspruch erfülle die abgemilderten Begründungsanforderungen, die die Rechtsprechung für Entscheidungen von Schiedseinrichtungen im SGB V aufgestellt habe (ua Hinweis auf BSG Urteil vom 25.3.2015 - B 6 KA 9/14 R - BSGE 118, 164 = SozR 4-2500 § 73b Nr 1, RdNr 58). Die relevanten Bewertungskriterien seien im Schiedsspruch im Einzelnen aufgezeigt worden. Der Rechenweg des Erstattungsbetrages sei in der Klageerwiderung vom 11.1.2017 offengelegt und durch die Revisionsbegründung verdeutlicht worden. Unter Berücksichtigung der zwischen den Beteiligten stark umstrittenen europäischen Abgabepreise habe sich - wie näher ausgeführt wird - keine Änderung der Kalkulation des Erstattungsbetrages ergeben. Eine Mischpreisfestsetzung als solche verstoße auch nicht gegen Gesetzesrecht. Die Preisgrenze von § 130b Abs 3 S 1 SGB V sei auf...

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