Urteil Nr. B 3 KR 15/19 R des Bundessozialgericht, 2020-09-10

Judgment Date10 Septiembre 2020
ECLIDE:BSG:2020:100920UB3KR1519R0
Judgement NumberB 3 KR 15/19 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Krankenversicherung - Versorgung mit einer GPS-Uhr als Hilfsmittel - Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit in der persönlichen Bewegungsfreiheit - Grundbedürfnis der medizinischen Rehabilitation
Leitsätze

1. Zur Versorgung mit einer GPS-Uhr als Hilfsmittel der gesetzlichen Krankenversicherung zum Behinderungsausgleich.

2. Die Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit in der persönlichen Bewegungsfreiheit ist ein Grundbedürfnis der medizinischen Rehabilitation.

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 17. September 2019 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten in allen Rechtszügen zu erstatten. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

Tatbestand

Im Streit steht die Versorgung mit einer GPS-Uhr durch die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV).

Der im Jahre 1999 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Er leidet infolge eines Morbus Down-Syndroms an einer stark ausgeprägten geistigen Behinderung mit Weglauftendenz bei Orientierungslosigkeit und Selbstgefährdung (GdB von 100, Merkzeichen H, B und G). Die zu 2. beigeladene Pflegekasse ordnete ihm den Pflegegrad 5 in der sozialen Pflegeversicherung zu (bis 31.12.2016 Pflegestufe 3). Der Kläger lebt im Haus seiner Mutter, die für sämtliche Angelegenheiten zur Betreuerin bestellt wurde. Seit Abschluss der Förderschule besucht er täglich bis mittags eine Tagesförderstätte, wo ihm eine 1:1-Betreuung zuteil wird. An Nachmittagen wird er auch von Mitarbeitern im Rahmen der Eingliederungshilfe und der Lebenshilfe einzeln betreut. Der im Februar 2015 gestellte Antrag auf Kostenübernahme für eine GPS unterstützte Uhr der Marke "Guard2me" blieb erfolglos. Es handele sich weder um ein Hilfsmittel im Sinne der GKV noch um ein Pflegehilfsmittel im Sinne des SGB XI, sondern um ein Überwachungssystem zur Positionsbestimmung. Um das Gefahrenpotential des Weglaufens zu minimieren, seien Maßnahmen wie zum Beispiel das Abschließen von Türen oder die ständige persönliche Begleitung außerhalb des häuslichen Bereichs angezeigt (Bescheid vom 10.3.2015; Widerspruchsbescheid vom 20.8.2015). Das SG hat die Klage abgewiesen, nachdem die zu 1. beigeladene Stadt als Trägerin der Eingliederungshilfe die Übernahme der Kosten für diese Uhr ebenfalls abgelehnt hatte (Gerichtsbescheid vom 18.4.2018).

Das LSG Niedersachsen-Bremen hat den Gerichtsbescheid des SG und den ablehnenden Bescheid der Beklagten aufgehoben. Es hat die Beklagte verurteilt, die Kosten für die "Guard2me"-Uhr zu übernehmen, nachdem es weitere Ermittlungen zur Lebenssituation des Klägers durchgeführt hatte. Es handele sich um ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich nach § 33 Abs 1 Satz 1 Var 3 SGB V. Unerheblich sei, dass die Uhr nicht im Hilfsmittelverzeichnis des GKV-Spitzenverbands gelistet sei, denn das Verzeichnis sei eine unverbindliche Auslegungshilfe. Die Uhr sei auch kein Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Sie sei nach den Herstellerinformationen speziell für Menschen mit Weglaufneigung und Orientierungsverlust konzipiert worden. Die Uhr werde am Arm fixiert, sodass ein selbstständiges Abstreifen verhindert werde. Das Hilfsmittel diene dem Ausgleich und der Abmilderung der Folgen der geistigen Behinderung und eröffne Grundbedürfnisse des täglichen Lebens, insbesondere eine eigenständige Mobilität und eine höhere Bewegungsfreiheit. Diesen Zwecken stehe die ständige Lokalisierbarkeit, die einer freiheitsentziehenden Maßnahme gleichkomme, nicht entgegen. Bislang sei der Bewegungsradius des Klägers auf verschlossene Räume in der Wohnung bzw im abgegrenzten Nahbereich beschränkt gewesen. Zeitweilig sei ihm auch die Teilnahme an Ausflügen und gemeinschaftlichen Aktivitäten in der Tagesförderstätte verwehrt gewesen. Die Uhr sei auch kein in die Leistungszuständigkeit der Beigeladenen zu 2. fallendes Pflegehilfsmittel, da sie nicht der Erleichterung der Pflege diene. Die Kostenübernahmepflicht der Beigeladenen zu 1. scheitere daran, dass die Uhr keine selbstständige Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft bewirke (Urteil vom 17.9.2019).

Mit der hiergegen eingelegten Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts. Das LSG habe eine unzulässige Erweiterung des Behinderungsausgleichs im Sinne von § 33 Abs 1 Satz 1 Var 3 SGB V vorgenommen. Hierfür könne nicht die Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 15.3.2018 - B 3 KR 12/17 R - juris) herangezogen werden. Die Uhr kompensiere nur mangelnde Betreuungsressourcen, nicht aber die Einschränkungen in der Mobilität. Das LSG habe den in der Rechtsprechung des BSG entwickelten Maßstab zum Behinderungsausgleich überdehnt und damit zugleich den Bereich der medizinischen Rehabilitation überschritten. Aufgabe der GKV sei jedoch weder die berufliche noch soziale Rehabilitation.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 17. September 2019 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Oldenburg vom 18. April 2018 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Er hält das Urteil des LSG für zutreffend.

Die Beigeladenen zu 1. und 2. stellen keine Anträge.

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten gegen das stattgebende Urteil des LSG ist unbegründet. Sie war daher zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).

Der Kläger hat gegen die Beklagte Anspruch auf Versorgung mit einer - gegebenenfalls leihweise zur Verfügung zu stellenden - GPS-Uhr als Hilfsmittel zum Ausgleich seiner Behinderung nach § 33 Abs 1 Satz 1 Var 3 SGB V.

1. Die auch im Revisionsverfahren von Amts wegen zu beachtenden Sachurteilsvoraussetzungen liegen vor. Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 und 4 SGG) zulässig. Gegenstand der Leistungsklage ist - entgegen der Ansicht des LSG - nicht die Kostenübernahme, sondern die Versorgung mit dem Hilfsmittel im Sinne eines Sachleistungsanspruchs. Dies ergibt sich aus dem Inhalt des vom LSG festgestellten Ablehnungsbescheids der Beklagten und aus dem vor dem LSG protokollierten Antrag des Klägers auf Versorgung mit dem Hilfsmittel.

2. Rechtsgrundlage des geltend gemachten Versorgungsanspruchs mit dem Hilfsmittel ist § 33 Abs 1 Satz 1 Var 3 SGB V (idF des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes - GKV-WSG vom 26.3.2007, BGBl I 378). Danach haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs 4 SGB V ausgeschlossen sind.

a) Die GPS gesteuerte Uhr ("Guard2me") ist ein beweglicher Gegenstand. Von der Krankenkasse zu leistende Hilfsmittel zur medizinischen Rehabilitation (vgl auch § 47 Abs 1 SGB IX bzw § 31 Abs 1 SGB IX idF des Gesetzes vom 19.6.2001, BGBl I 1046 - aF) sind solche, die getragen, mitgeführt oder zumindest bei einem Wohnungswechsel mitgenommen werden können. Dem Hilfsmittel steht nicht entgegen, dass es nicht ohne Hilfe anderer benutzt werden kann (vgl BSGE 67, 97, 98 = SozR 3-2200 § 182b Nr 2 S 3). Die begehrte Uhr ist auch kein Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens. Nach den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) handelt es sich um eine vom Hersteller speziell für Demenzkranke bzw für Menschen mit eingeschränkter Orientierungsfähigkeit entwickelte GPS-Uhr, die am Handgelenk befestigt wird und die nicht eigenständig von dem behinderten Menschen entfernt werden kann. Die Funktionen des begehrten Hilfsmittels übersteigen damit die Anforderungen an eine handelsübliche GPS-Uhr für gesunde Menschen. Das Hilfsmittel ist auch nicht nach § 34 Abs 4 SGB V ausgeschlossen.

b) Zutreffend hat das LSG kein rechtliches Hindernis darin gesehen, dass die GPS-Uhr nicht im Hilfsmittelverzeichnis (HMV) des GKV-Spitzenverbandes gelistet ist. Denn das HMV nach § 139 Abs 1 SGB V ist seiner Funktion nach eine Auslegungs- und Orientierungshilfe für die Krankenkassen und die Leistungserbringer (zur Funktion des HMV, vgl nur BSGE 113, 33 = SozR 4-2500 § 139 Nr 6, RdNr 13). Im HMV werden regelmäßig die objektiven Voraussetzungen der Verordnung des Hilfsmittels, wie beispielsweise die medizinische Indikation oder die Voraussetzungen eines besonderen Grundbedürfnisses (zB nur für Kinder), angegeben. In den seltenen und daher für die Praxis eher schwierigen Fällen, in denen andere Versorgungsmöglichkeiten nicht ausreichen, kann das HMV für die Krankenkassen und die Leistungserbringer die nötige Orientierungshilfe bieten (vgl BSG SozR 4-2500 § 139 Nr 9 RdNr 23).

c) Leistungen zum Zweck des Behinderungsausgleichs iS von § 33 Abs 1 Satz 1 Var 3 SGB V sind von der GKV im Rahmen der medizinischen Rehabilitation zu erbringen und von den Aufgabenbereichen anderer Rehabilitationsträger und deren Eigenverantwortung abzugrenzen (vgl bereits BSG SozR 4-2500 § 33 Nr 48 RdNr 18). Die GKV hat nicht jegliche Folgen von...

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