Urteil Nr. B 3 P 5/19 R des Bundessozialgericht, 2021-06-17

Judgment Date17 Junio 2021
ECLIDE:BSG:2021:170621UB3P519R0
Judgement NumberB 3 P 5/19 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Soziale Pflegeversicherung - Verletzung sozialrechtlicher Informations- und Beratungspflichten über mögliche Leistungen (hier: Pflegegeld) im Rahmen des Versorgungs- und Entlassmanagements durch Krankenhaus - Zurechnung der Pflegekasse im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs
Leitsätze

Verletzen Krankenhäuser sozialrechtliche Informations- und Beratungspflichten im Rahmen des Versorgungs- und Entlassmanagements zu Leistungen der sozialen Pflegeversicherung, sind Beratungsfehler den Pflegekassen im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zuzurechnen.

Tenor

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch im Revisionsverfahren.

Tatbestand

Im Streit steht die Zahlung von Pflegegeld von Juli 2013 bis Oktober 2014.

Der 2003 geborene Kläger ist bei der beklagten Pflegekasse versichert. Bei ihm wurde am 29.5.2013 ein bösartiger Hirntumor diagnostiziert. Am 31.5.2013 erfolgte eine neurochirurgische Tumorentfernung in der Klinik. Anschließend fanden Beratungsgespräche der Eltern des Klägers ua mit einer Mitarbeiterin des psychosozialen Dienstes der Uniklinik statt. Am 10.6.2013 wurde der Kläger aus der stationären Behandlung entlassen. Vom 24. bis 28.6.2013, vom 17. bis 19.7.2013 und vom 5. bis 8.8.2014 erhielt der Kläger eine stationäre kombinierte Strahlen-/Chemotherapie in der Uniklinik. Die Anschlusstherapie erfolgte im Wege tagesklinischer Behandlung. Zuhause wurde der Kläger von seinen Eltern betreut und gepflegt. Von Sommer 2013 bis September 2014 unterstützte dies die Krankenkasse mit einer Haushaltshilfe. Im August 2013 versorgte sie den Kläger mit einem Rollstuhl.

Im Rahmen einer familienorientierten stationären Rehabilitationsmaßnahme vom 20.10.2014 bis 17.11.2014 erfuhren die Eltern des Klägers von der Möglichkeit, Pflegegeld für den Kläger zu erhalten, was sie am 18.11.2014 beantragten. Nachdem der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) bei dem Kläger eine Pflegebedürftigkeit der Pflegestufe I seit November 2014 festgestellt hatte, bewilligte ihm die Beklagte Pflegegeld nach der Pflegestufe I ab 18.11.2014 (Bescheid vom 23.12.2014). Im Widerspruchsverfahren trugen die Eltern des Klägers vor, von der Klinik nicht auf die Möglichkeit des Anspruchs auf Pflegegeld hingewiesen worden zu sein, und sie baten um Prüfung eines Anspruchs für die Vergangenheit. Nach einer ergänzenden Stellungnahme des MDK bewilligte die Beklagte dem Kläger Pflegegeld nach der Pflegestufe I ab 1.11.2014 und wies den Widerspruch im Übrigen zurück (Bescheid vom 18.3.2015; Widerspruchsbescheid vom 28.10.2015): Zwar habe der MDK Pflegebedürftigkeit ab Juli 2013 festgestellt. Jedoch könne der Kläger ausgehend von der Antragstellung im November 2014 Pflegegeld erst ab 1.11.2014 erhalten.

Das SG hat die Klage auf Pflegegeld bereits ab Juli 2013 nach Beweisaufnahme abgewiesen (Urteil vom 23.6.2017). Das LSG hat nach weiterer Beweisaufnahme die Beklagte verurteilt, dem Kläger von Juli 2013 bis Oktober 2014 Pflegegeld nach der Pflegestufe I zu gewähren. Der Kläger sei (spätestens) seit Juli 2013 pflegebedürftig gewesen und habe durchgehend die Voraussetzungen der Pflegestufe I erfüllt. Die spätere Antragstellung stehe einer Leistungsgewährung ab Juli 2013 nicht entgegen. Der Kläger sei nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu behandeln, als habe er den Antrag bereits früher gestellt. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme, insbesondere der nochmaligen Vernehmung der Mitarbeiterin des psychosozialen Dienstes der Klinik als Zeugin, stehe fest, dass bei im Juni 2013 mindestens sich abzeichnender Pflegebedürftigkeit des Klägers das Krankenhaus seine Benachrichtigungspflicht nach § 7 Abs 2 Satz 2 SGB XI verletzt habe. Dies sei der Beklagten zuzurechnen, da eine Funktionseinheit zwischen dem Krankenhaus und der Pflegekasse bestehe. Die Pflichtverletzung habe ursächlich dazu geführt, dass der Kläger Pflegegeld nicht schon ab Juli 2013 erhalten habe (Urteil vom 22.11.2018).

Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung von § 7 Abs 2 Satz 2 SGB XI und der Grundsätze des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs. Die Verletzung des § 7 Abs 2 Satz 2 SGB XI durch ein Krankenhaus sei ihr nicht als eigene Pflichtverletzung im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zuzurechnen. Zwischen dem Krankenhaus und der Pflegekasse bestehe keine Funktionseinheit im Sinne eines arbeitsteiligen Zusammenwirkens. Auch sei § 7 Abs 2 Satz 2 SGB XI kein Schutzgesetz iS des § 823 Abs 2 BGB, sondern eher ein programmatischer Appell.

Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 22. November 2018 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 23. Juni 2017 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Zutreffend hat das LSG entschieden, dass die Eltern des Klägers im Krankenhaus unzureichend über mögliche Leistungen der Pflegeversicherung im Anschluss an die Tumorbehandlung ihres Sohnes beraten worden sind und die verspätete Antragstellung deshalb nicht seinem Begehren entgegensteht, Pflegegeld seit Eintritt der Pflegebedürftigkeit ab Juli 2013 zu erhalten.

1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens sind neben den Entscheidungen der Vorinstanzen die Bescheide vom 23.12.2014 und 18.3.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.10.2015, soweit die Beklagte durch sie einen Anspruch des Klägers auf Pflegegeld von Juli 2013 bis Oktober 2014 abgelehnt hat. Hiergegen wendet sich der Kläger zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG). Auf diese waren der Sache nach (§ 123 SGG) die angefochtenen Bescheide nicht aufzuheben, sondern nur zu ändern, weil die Beklagte durch diese Pflegegeld zunächst ab 18.11.2014 und sodann ab 1.11.2014 bewilligt hatte.

2. Rechtsgrundlage des Anspruchs auf Pflegegeld ist § 37 Abs 1 SGB XI (§ 37 SGB XI idF des Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes - PNG - vom 23.10.2012, BGBl I 2246). Danach können Pflegebedürftige anstelle der häuslichen Pflegehilfe ein Pflegegeld beantragen (Satz 1). Der Anspruch setzt voraus, dass der Pflegebedürftige mit dem Pflegegeld dessen Umfang entsprechend die erforderliche Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung in geeigneter Weise selbst sicherstellt (Satz 2). Das Pflegegeld beträgt je Kalendermonat für Pflegebedürftige der Pflegestufe I 235 Euro ab 1.1.2012 (Satz 3 Nr 1 Buchst c).

Insoweit steht wie für die der Antragstellung nachfolgende Zeit die Anspruchsberechtigung dem Grunde nach zu Recht nicht im Streit, wie das LSG für den Senat bindend festgestellt hat. Anders als mit der Revision geltend gemacht, steht dem Anspruch des Klägers auf Pflegegeld von Juli 2013 bis Oktober 2014 die bezogen auf den Eintritt der Pflegebedürftigkeit im Juli 2013 verspätete Antragstellung erst im November 2014 nicht entgegen, weil er im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu behandeln ist, als ob er den Antrag für dieses Leistungsbegehren rechtzeitig gestellt hat.

Der richterrechtlich entwickelte sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist allgemein anerkannt und vorliegend anwendbar (vgl zu den Anwendungsvoraussetzungen nur Spellbrink in Kasseler Komm, vor §§ 13-15 SGB I RdNr 4, 12 ff und 34, Stand Juli 2020). Zum einen besteht keine Rechtsgrundlage zur Bewältigung der...

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