Urteil Nr. B 3 KR 8/21 R des Bundessozialgericht, 2023-06-14

Judgment Date14 Junio 2023
ECLIDE:BSG:2023:140623UB3KR821R0
Judgement NumberB 3 KR 8/21 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 10. August 2021 aufgehoben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 19. November 2019 zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Klägers in allen Rechtszügen. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

Im Streit steht die Versorgung mit dem Steh- und Gehtrainer Innowalk.

Der 2002 geborene, bei der beklagten Krankenkasse versicherte Kläger leidet von Geburt an unter einer Fehlbildung der Wirbelsäule und des Rückenmarks (Spina bifida mit Myelomeningozele), die eine Lähmung der unteren Extremitäten und eine erhebliche Einschränkung der Mobilität bedingen. Nach erfolgreicher Erprobung beantragte er aufgrund ärztlicher Verordnung und Kostenvoranschlags des Herstellers die Versorgung mit dem Steh- und Gehtrainer Innowalk medium für eine 12-monatige Miete zu Kosten von 8383,55 Euro. Dabei handelt es sich um ein feststehendes, motorisiertes Trainingsgerät, das bei Funktionseinbußen der unteren Extremitäten infolge einer Schädigung des Gehirns bzw einer neuromuskulären Erkrankung eingesetzt werden soll und für die regelmäßige Nutzung im häuslichen Bereich unter Aufsicht als Ergänzung zur Physio- bzw Ergotherapie konzipiert ist. Das ein Steh- und Gehtraining kombinierende Wirkprinzip soll so zur Dehnung und Kräftigung der für das Stehen und Gehen essenziellen Muskelgruppen beitragen, dass die Patientin oder der Patient im Idealfall wieder Gewicht auf die Beine selbst übernehmen und stehen kann. Die Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 7.12.2017; Widerspruchsbescheid vom 21.3.2019).

Das SG hat die Beklagte unter Aufhebung der ablehnenden Bescheide antragsgemäß zur Versorgung für eine Mietdauer von zwölf Monaten verurteilt (Urteil vom 19.11.2019). Das LSG hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen: Nach dem von ihm eingeholten Sachverständigengutachten sei der Steh- und Gehtrainer im Fall des Klägers zwar anderen Hilfsmitteln zur Sicherung des Erfolgs der Krankenbehandlung eindeutig überlegen. Der begehrten Versorgung stehe jedoch die Sperrwirkung des § 135 Abs 1 SGB V entgegen, weil die Kombination aus Stehständer und fremdkraftbetriebenem Beintrainer gegenüber etablierten Hilfsmitteln erhöhte Risiken berge, die eine positive Bewertung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) erforderlich machten (Urteil vom 10.8.2021).

Mit seiner vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung von § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 iVm § 33 Abs 1 SGB V. Das Hilfsmittel diene primär dem unmittelbaren und auch mittelbaren Ausgleich einer bestehenden Behinderung, es beuge auch einer drohenden Behinderung vor. Das Hilfsmittel sei keine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode, weshalb der Vorbehalt des § 135 Abs 1 SGB V nicht greife, auch nicht wegen einer Gefährlichkeit der Selbstanwendung, denn es bestünden keine gegenüber bereits gelisteten Hilfsmitteln erhöhten Anwendungsrisiken. Als Verfahrensmängel des LSG rügt der Kläger eine Verletzung seines rechtlichen Gehörs durch eine Überraschungsentscheidung und eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 10. August 2021 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 19. November 2019 zurückzuweisen.

Die Beklagte verteidigt die angefochtene Entscheidung und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Der Senat hat im Revisionsverfahren den GKV-Spitzenverband und den GBA beigeladen (Beschluss vom 13.12.2022), die keine Anträge stellen.

Der GBA hat auf Anfrage des GKV-Spitzenverbands im Antragsverfahren des Herstellers auf Aufnahme des Hilfsmittels in das Hilfsmittelverzeichnis beschlossen, dass der Einsatz des Innowalk für das Steh- und Gehtraining bei ausgeprägten Funktionsstörungen der unteren Extremitäten nicht untrennbarer Bestandteil einer neuen Untersuchungs- oder Behandlungsmethode sei; er sei zwar untrennbarer Bestandteil einer Untersuchungs- oder Behandlungsmethode, diese aber nicht neu (Beschluss vom 12.1.2023; Tragende Gründe vom 12.1.2023).

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Nach Abschluss des Klärungsverfahrens zur Neuheit der mit dem Steh- und Gehtrainer Innowalk verfolgten Behandlungsmethode durch den beigeladenen GBA ist der Einsatz dieses Hilfsmittels in der ambulanten Versorgung nicht mehr gesperrt und die Beklagte antragsgemäß zu dessen leihweiser Überlassung an den Kläger verpflichtet. Auf die vom Kläger erhobenen Verfahrensrügen kam es nicht mehr entscheidungserheblich an.

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den Urteilen der Vorinstanzen der Bescheid vom 7.12.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.3.2019, durch den die Beklagte die beantragte Versorgung des Klägers mit dem Hilfsmittel Innowalk medium für eine 12-monatige Miete abgelehnt hat. Hiergegen wendet sich der Kläger zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG).

2. Ein der Entscheidung des Senats entgegenstehendes Sachentscheidungshindernis liegt nicht vor. Soweit er nach § 75 Abs 1 Satz 1 SGG den GKV-Spitzenverband und den GBA im Revisionsverfahren von Amts wegen beigeladen hat, hat er sich hieran nicht gehindert gesehen, obschon Beiladungen im Revisionsverfahren nach § 168 Satz 1 SGG von den Fällen des § 168 Satz 2 SGG abgesehen unzulässig sind. Das steht einer einfachen Beiladung im Revisionsverfahren jedoch nicht stets und jedenfalls dann nicht entgegen, wenn sich die einfache Beiladung mit dem Zweck des § 168 SGG vereinbaren lässt: Das BSG ist im Revisionsverfahren auf die Rechtskontrolle der angegriffenen Entscheidung beschränkt auf der Grundlage von deren tatsächlichen Feststellungen; soweit mit einfachen Beiladungen im Revisionsverfahren keine neuen tatsächlichen Feststellungen verbunden sind, sind sie zulässig. Hierfür spricht auch der Vergleich mit der zweiten Regelung des § 168 Satz 1 SGG, nach der Klageänderungen im Revisionsverfahren unzulässig sind. Hiervon regelt § 168 SGG selbst keine Ausnahme. Dennoch sind zahlreiche Ausnahmen hiervon anerkannt, zumeist unter Rückgriff auf § 99 Abs 3 SGG.

Mit der in seinem Ermessen liegenden einfachen Beiladung des GKV-Spitzenverbands und des GBA hier zielte der Senat nicht auf neue, auf den konkreten Rechtsstreit der Beteiligten bezogene tatsächliche Feststellungen iS des § 163 SGG, sondern auf Informationen der beiden Institutionen zu ihren Verfahrensweisen nach §§ 135 und 139 SGB V. Hierzu hätten sich diese im Revisionsverfahren auch ohne einfache Beiladung schriftlich befragen lassen; eine Befragung und Erörterung in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat und insbesondere eine Gewährung rechtlichen Gehörs zur vom Senat zu leistenden Konkretisierung der rechtlichen Maßstäbe zu §§ 33, 135, 139 SGB V setzte indes die Einbeziehung der beiden Institutionen als Verfahrensbeteiligte voraus, was den Senat zur einfachen Beiladung veranlasst hat.

3. Rechtsgrundlage des Leistungsanspruchs ist § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V (idF des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes vom 26.3.2007, BGBl I 378). Hiernach haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die...

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