Urteil Nr. B 3 A 1/22 R des Bundessozialgericht, 2023-08-30
Judgment Date | 30 Agosto 2023 |
ECLI | DE:BSG:2023:300823UB3A122R0 |
Judgement Number | B 3 A 1/22 R |
Court | Der Bundessozialgericht (Deutschland) |
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten auch des Revisionsverfahrens.
Im Streit steht eine Aufsichtsmaßnahme der beklagten Bundesrepublik Deutschland.
Die Klägerin ist Rechtsnachfolgerin einer bei einer bundesunmittelbaren Betriebskrankenkasse errichteten Pflegekasse. Sie schloss mit einem privaten Dienstleister einen bis zum 30.9.2020 befristeten Dienstleistungsvertrag über die Übernahme verschiedener Aufgaben ua zur Prüfung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der Leistungsgewährung und Rechnungsprüfung zu Beratungseinsätzen nach § 37 Abs 3 SGB XI, zur Verhinderungspflege nach § 39 SGB XI sowie zum Entlastungsbetrag nach § 45b SGB XI. Nach Anfang 2018 aufgenommener aufsichtsrechtlicher Beratung verpflichtete das Bundesamt für Soziale Sicherung die Klägerin, den Dienstleistungsvertrag unverzüglich außerordentlich zu kündigen (Bescheid vom 13.3.2020). Jenseits einer ausschließlich fiskalische Aufgaben betreffenden Aufgabenübertragung wie etwa dem Scannen und Indizieren der Eingangspost oder der nachträglichen Rechnungsbearbeitung im Verhältnis zu Leistungserbringern komme eine dauerhafte Tolerierung dieser Zusammenarbeit nicht in Betracht.
Das LSG hat die auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Aufsichtsmaßnahme gerichtete Klage abgewiesen. Die aufsichtsrechtliche Verpflichtung sei rechtmäßig gewesen. Die Klägerin sei nicht zu einer Aufgabenübertragung der ihr gegenüber den Versicherten obliegenden Leistungen auf Dritte berechtigt gewesen. Im SGB XI fehle es dafür bereits an einer entsprechenden Rechtsgrundlage. § 197b SGB V rechtfertige die Aufgabenübertragung ungeachtet der fraglichen Geltung für das SGB XI jedenfalls deshalb nicht, weil eine Übertragung von Kernaufgaben wie hier stets unzulässig und die Aufsichtsbehörde befugt sei, diesem Vorgehen mit Aufsichtsmitteln entgegenzutreten (Urteil vom 24.2.2022).
Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung von §§ 30, 89 und 90 SGB IV und § 197b SGB V iVm §§ 1 und 46 SGB XI. § 197b SGB V gelte auch für die Pflegeversicherung. Eine Aufgabenübertragung sei aufgrund der wohlverstandenen Interessen der Betroffenen wirtschaftlich, erforderlich und rechtmäßig, so dass die Beklagte ermessensfehlerhaft entschieden habe.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 24. Februar 2022 aufzuheben und festzustellen, dass der Bescheid der Beklagten vom 13. März 2020 rechtswidrig war.
Die Beklagte verteidigt die angefochtene Entscheidung und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Nach Verkündung des Urteils und Mitteilung der wesentlichen Entscheidungsgründe im Termin nach Schließung der mündlichen Verhandlung vom 30.8.2023 hat die Klägerin mit Schriftsatz vom 20.9.2023 erklärt, die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 13.3.2020 zurückzunehmen, und um Bestätigung gebeten, "dass das Verfahren damit beendet ist". Diesen vom Senat aus Rechtsschutzgründen sinngemäß als auf die Feststellung gerichtet verstandenen Antrag, dass das am 30.8.2023 verkündete Urteil durch die Erklärung der Klägerin vom 20.9.2023 wirkungslos geworden ist, hat der Senat mit Beschluss vom 27.10.2023 zurückgewiesen (der Klägerin zugestellt am 6.11.2023).
EntscheidungsgründeDie zulässige Revision der klagenden Pflegekasse ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Zutreffend hat das LSG entschieden, dass die Klägerin zur Übertragung der streitbefangenen Aufgaben auf ein privates Dienstleistungsunternehmen nicht berechtigt und die Aufsichtsanordnung daher rechtlich nicht zu beanstanden war.
1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist das Urteil des im ersten Rechtszug zu Entscheidungen über Aufsichtsangelegenheiten nach § 29 Abs 2 Nr 2 SGG zuständigen LSG und der aufsichtsrechtliche Bescheid vom 13.3.2020, mit dem die Beklagte die Klägerin zur außerordentlichen Kündigung des Dienstleistungsvertrags verpflichtete. Die nach dessen Erledigung erhobene Fortsetzungsfeststellungsklage ist zulässig, weil sich die Klägerin insoweit auf ein berechtigtes Interesse aufgrund Wiederholungsgefahr stützen kann (§ 131 Abs 1 Satz 3 SGG).
2. Dass die Klägerin mit Schriftsatz vom 20.9.2023 die Rücknahme der Klage erklärt hat, berührt die Entscheidung des Senats nicht, wie mit Beschluss vom 27.10.2023 entschieden. Dadurch ist das auf ihre Revision am 30.8.2023 in dem Termin, in dem die mündliche Verhandlung geschlossen worden ist, verkündete Urteil nicht nachträglich wirkungslos geworden iS von § 202 Satz 1 SGG iVm § 269 Abs 3 Satz 1 Halbsatz 2 ZPO. Hiernach wird ein bereits ergangenes, noch nicht rechtskräftiges Urteil durch die Rücknahme der Klage wirkungslos, ohne dass es seiner ausdrücklichen Aufhebung bedarf. Hierfür war nach der Urteilsverkündung am 30.8.2023 indes kein Raum mehr. Äußerste Grenze der Möglichkeit zur Rücknahme der Klage im sozialgerichtlichen Verfahren ist die Rechtskraft des Urteils (§ 102 Abs 1 Satz 1 SGG). Sie tritt nach § 202 Satz 1 SGG iVm § 705 Satz 1 ZPO ein, soweit ein zulässiges (ordentliches) Rechtsmittel nicht mehr eingelegt werden kann. Bei Revisionsentscheidungen eines obersten Bundesgerichts ist dies mangels eines statthaften weiteren (ordentlichen) Rechtsmittels hiergegen mithin der Zeitpunkt der Urteilsverkündung (vgl etwa BAG vom 23.9.2015 - 5 AZR 290/15
Danach ist das Urteil hier mit seiner Verkündung durch das Verlesen der Urteilsformel und die Mitteilung der wesentlichen Entscheidungsgründe am 30.8.2023 in dem Termin, in dem die mündliche Verhandlung geschlossen worden ist (§ 165 iVm § 153 Abs 1 sowie § 132 Abs 1 Satz 2 und Abs 2 SGG), in formelle Rechtskraft erwachsen und demzufolge ungeachtet der mit Schriftsatz vom 20.9.2023 erklärten Klagerücknahme abzusetzen gewesen (anders bei Rücknahme vor Eintritt der Rechtskraft LSG Sachsen-Anhalt vom 15.3.2023 - L 2 AS 519/22 - juris RdNr 30). Daran änderte auch die mögliche Einlegung einer Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil vom 30.8.2023 nichts (vgl nur BVerfG vom 18.1.1996 - 1 BvR 2116/94 - BVerfGE 93, 381, juris RdNr 14; BVerfG vom 30.4.2003 - 1 PBvU 1/02 - BVerfGE 107, 395, juris RdNr 60).
3. Ein der Sachentscheidung des Senats entgegenstehendes Hindernis liegt nicht vor. Insbesondere steht ihr nicht die fehlende (echte) notwendige Beiladung des von der Klägerin beauftragten Dienstleistungsunternehmens entgegen. Wie der 1. Senat des BSG bereits entschieden hat, erschöpft sich die Ausübung der Staatsaufsicht in Angelegenheiten wie hier regelmäßig in der Wahrung der Gleichgewichtslage zwischen Staat und Selbstverwaltungskörperschaft; dagegen ist das Aufsichtsrecht nicht dazu bestimmt, dem Individualinteresse Einzelner zu dienen (vgl BSG vom 8.10.2019 - B 1 A 3/19 R - BSGE 129, 156 = SozR 4-2500 § 11 Nr 6, RdNr 8); dem schließt sich der erkennende Senat uneingeschränkt an.
4. Rechtsgrundlage für das aufsichtsrechtliche Einschreiten der Beklagten ist § 89 SGB IV. Wird durch das Handeln oder Unterlassen eines Versicherungsträgers das Recht verletzt, soll die Aufsichtsbehörde danach zunächst beratend darauf hinwirken, dass der Versicherungsträger die Rechtsverletzung behebt (§ 89 Abs 1 Satz 1 SGB IV). Kommt der Versicherungsträger dem innerhalb angemessener Frist nicht nach, kann die Aufsichtsbehörde ihn verpflichten, die Rechtsverletzung zu beheben (§ 89 Abs 1 Satz 2 SGB IV). Hiernach hat die Beklagte als für die Klägerin zuständige Aufsichtsbehörde (§ 90 Abs 1 Satz 1 SGB IV) die streitbefangene Aufgabenübertragung zutreffend als Rechtsverletzung angesehen und die Klägerin nach länger andauernder aufsichtsrechtlicher Beratung und unter Beachtung des aufsichtsrechtlichen Prüfmaßstabs (§ 87 Abs 1 Satz 2 SGB IV) frei von Rechtsfehlern zu deren Beendigung verpflichtet, weil Private von untergeordneten Hilfsdiensten abgesehen nur auf der Grundlage hinreichender gesetzlicher Ermächtigungen an der Wahrnehmung von Verwaltungsaufgaben von...
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