Urteil Nr. B 4 AS 29/17 R des Bundessozialgericht, 2018-04-25

Judgment Date25 Abril 2018
ECLIDE:BSG:2018:250418UB4AS2917R0
Judgement NumberB 4 AS 29/17 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 29. Juni 2017 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

Umstritten ist die Rücknahme von Bewilligungen und die Erstattung von Leistungen und Beiträgen wegen verschwiegenen Vermögens für den Zeitraum von Juni 2006 bis Oktober 2013.

Der 1967 geborene, alleinstehende Kläger bezog im streitbefangenen Zeitraum vom beklagten Jobcenter Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II unter Berücksichtigung der Regelleistung bzw des Regelbedarfs und von Aufwendungen für Unterkunft und Heizung sowie (seit 2011) eines Mehrbedarfs wegen dezentraler Warmwassererzeugung und zeitweise von Arbeitseinkommen und Alg. Als Vermögen hatte er im Erstantrag Giro- und Sparkonten im Wert von insgesamt 2675,96 Euro und einen PKW mit einem Restwert von 1000 Euro angegeben, nicht aber ein weiteres Sparkonto, mit dem sich das Guthaben anfangs auf 12 693 Euro und schließlich bis Anfang Oktober 2013 auf 18 491 Euro belief. Nach Bekanntwerden des weiteren Sparkontos im August 2013 nahm der Beklagte die Bewilligungsbescheide nach Anhörung für die Zeit vom 1.6.2006 bis 31.10.2013 unter Verweis auf die dauerhafte Überschreitung der Vermögensfreigrenzen vollständig zurück und setzte eine Erstattung einschließlich der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung von 31 233,72 Euro fest (Bescheid vom 16.12.2013; Widerspruchsbescheid vom 14.3.2014).

Das SG hat den Bescheid unter Abweisung der Klage im Übrigen aufgehoben, soweit die Erstattungsforderung den Betrag von 10 061,88 Euro abzüglich Freibeträgen übersteigt (Urteil vom 11.1.2016); bei Rücknahmen wegen verschwiegenen Vermögens sei zu prüfen, wie lange die einzusetzenden Beträge zur Bedarfsdeckung ausgereicht hätten. Das LSG hat das Urteil auf Berufung des Beklagten abgeändert und die Klage vollständig abgewiesen (Urteil vom 29.6.2017): Der Rücknahme- und Erstattungsbescheid sei nicht zu beanstanden. Die Bewilligungen seien von Anfang an rechtswidrig gewesen. Vermögen sei nicht nur solange zu berücksichtigen, wie damit der Bedarf hätte gedeckt werden können. Eine Begrenzung der Rückforderung nach Ermessen schließe § 40 Abs 2 Nr 3 SGB II iVm § 330 Abs 2 SGB III aus. Härten könne nur im Wege eines Forderungserlasses begegnet werden.

Mit seiner Revision rügt der Kläger sinngemäß eine Verletzung von § 40 Abs 2 Nr 3 SGB II iVm § 330 Abs 2 SGB III. Dies schließe eine Ermessensbetätigung nicht aus. Gebunden sei die Rücknahmeentscheidung nur in zeitlicher Hinsicht, nämlich im Hinblick auf die Rücknahme für die Vergangenheit. Ab dem Unterschreiten des Vermögensfreibetrags seien die Bewilligungsbescheide nicht mehr rechtswidrig gewesen.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 29. Juni 2017 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 11. Januar 2016 zurückzuweisen.

Der Beklagte verteidigt die angegriffene Entscheidung und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Zutreffend haben die Vorinstanzen entschieden, dass für Rücknahme und Erstattung einer Alg II-Bewilligung wegen verschwiegenen Vermögens unbeachtlich ist, in welchem Umfang das Vermögen bei rechtmäßigem Verhalten einzusetzen gewesen wäre. Dass der Beklagte einen Forderungserlass zur Vermeidung unbilliger Härten bislang nicht geprüft hat, berührt die Rechtmäßigkeit von Rücknahme und Erstattung nicht.

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den vorinstanzlichen Urteilen der Rücknahme- und Erstattungsbescheid vom 16.12.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.3.2014, soweit er auf die - statthafte - Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 Alternative 1 SGG) des Klägers vom SG aufgehoben worden ist und das LSG die Klage auf die Berufung des Beklagten insgesamt abgewiesen hat. Streitbefangen ist danach die Rücknahme der Leistungsbewilligungen und die Erstattung von Leistungen und Beiträgen für den Zeitraum vom 1.6.2006 bis 31.10.2013 durch den angefochtenen Bescheid des Beklagten nur (noch), soweit die von ihm festgesetzte Erstattungssumme 10 061,88 Euro abzüglich des Freibetrags übersteigt. Soweit das SG die Klage bis zu diesem Betrag abgewiesen hat, ist der Rücknahme- und Erstattungsbescheid mangels einer Berufung des Klägers bindend geworden.

2. In formeller Hinsicht ist der angefochtene Bescheid nicht zu beanstanden. Der Kläger ist insbesondere vor seinem Erlass angehört worden (§ 24 Abs 1 SGB X) und hatte zudem im Widerspruchsverfahren weitere Gelegenheit zur Äußerung. Der Bescheid bezeichnet auch inhaltlich hinreichend bestimmt (§ 33 Abs 1 SGB X) die zurückgenommenen Bewilligungsentscheidungen, und er beziffert die zu erstattenden Beträge einschließlich der Teilbeträge, aus denen sie sich zusammensetzen. Soweit im Widerspruchsbescheid ergänzend zum Rücknahmebescheid weitere von der Rücknahme erfasste Bescheide angeführt worden sind, ist das jedenfalls deshalb unproblematisch, weil sowohl dem Anhörungsschreiben vom 20.11.2013 als auch dem Rücknahmebescheid zu entnehmen war, dass sich die Rücknahme auf den gesamten Zeitraum zwischen Juni 2006 bis Oktober 2013 erstreckt (vgl dazu näher BSG vom 25.10.2017 - B 14 AS 9/17 R - vorgesehen für SozR 4-1300 § 45 Nr 19, juris RdNr 21 ff).

3. Rechtsgrundlage des Rücknahmebescheids ist § 40 Abs 1 Satz 1, Abs 2 Nr 2 SGB II in der im Rücknahmezeitpunkt geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 13.5.2011 (BGBl I 850; zur Maßgeblichkeit des im Zeitpunkt der Aufhebung geltenden Rechts vgl letztens BSG vom 7.12.2017 - B 14 AS 7/17 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 55 RdNr 10) iVm § 45 SGB X und § 330 Abs 2 SGB III. Danach ist eine rechtswidrige begünstigende Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II auch nach Unanfechtbarkeit mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn sie auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat.

Zu Recht hat aufgrund dieser Vorschriften der Beklagte die Alg II-Bewilligungen für den streitbefangenen Zeitraum wegen Rechtswidrigkeit im Zeitpunkt ihres Erlasses ohne Rücksicht auf den im Fall eines rechtmäßigen Verhaltens des Klägers zu berücksichtigenden Vermögenswert (dazu 4. und 5.) zurückgenommen, weil der Kläger sich auf Vertrauen nicht berufen kann (dazu 6.) und die Rücknahme deshalb wegen der für das SGB II entsprechend anwendbaren Sonderregelung des § 330 Abs 2 SGB III zwingend ist, ohne dass insoweit Korrekturmöglichkeiten verbleiben (dazu 7.). Das gilt ebenso für die Erstattungsforderung, die ebenfalls rechtmäßig ist (dazu 8.). Soweit Korrekturmöglichkeiten in solchen Fällen nach dem Regelungskonzept des SGB II in das Billigkeitsverfahren nach § 44 SGB II verlagert sind, ist darüber mangels einer Entscheidung des Beklagten hierüber vorliegend nicht zu befinden, ohne dass dies die Rechtmäßigkeit des Rücknahme- und Erstattungsbescheids berührt (dazu 9.).

4. Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, dass die Alg II-Bewilligungen für den streitbefangenen Zeitraum bei Erlass mangels Hilfebedürftigkeit des Klägers objektiv rechtswidrig waren.

a) Rechtsgrundlage des dem Kläger zuerkannten Alg II ist § 19 ff iVm §§ 7, 9, 11, 20 ff SGB II in der im Bezugszeitraum jeweils geltenden Fassung; denn in Rechtsstreitigkeiten über schon abgeschlossene Bewilligungsabschnitte ist das zum damaligen Zeitpunkt geltende Recht anzuwenden (Geltungszeitraumprinzip, vgl BSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 53/15 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 78 RdNr 15 mwN). Maßgebend für die Hilfebedürftigkeit des Klägers - der nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG die Grundvoraussetzungen des § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II, aber keinen Ausschlusstatbestand erfüllte - war danach bis zum 31.12.2010 § 9 Abs 1 SGB II idF des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003 (BGBl I 2954) und seither idF des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2011 (BGBl I 453), wonach hilfebedürftig ist, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält.

b) Dem danach zu deckenden Bedarf des Klägers standen nach den bindenden (§ 163 SGG) Feststellungen des LSG im gesamten Rücknahmezeitraum zu Beginn eines jeden Monats ausreichende Vermögensmittel gegenüber, die vorrangig zur Sicherung seines Lebensunterhalts einzusetzen waren (vgl § 2 Abs 2 SGB II; zur monatsweisen Gegenüberstellung von Bedarfen und Bedarfsdeckungsmöglichkeiten vgl nur BSG vom 24.8.2017 - B 4 AS 9/16 R - SozR 4-4200 § 11b Nr 10 RdNr 31 mwN), ohne dass es auf zeitweilig erzieltes Einkommen (§ 11 SGB II) und auf die vom LSG nicht festgestellte Höhe der Bedarfe des Klägers für Unterkunft und Heizung sowie (ab 2011) des Mehrbedarfs wegen dezentraler Warmwassererzeugung im streitbefangenen Zeitraum zusätzlich zu der vom Kläger zu beanspruchenden Regelleistung bzw dem Regelbedarf ankommt.

c) Als Vermögen zu berücksichtigen sind nach § 12 Abs 1 SGB II (in der seit dem 1.1.2005 unverändert geltenden Fassung des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003, BGBl I 2954) alle verwertbaren Vermögensgegenstände abzüglich der nach § 12 Abs 2 SGB II abzusetzenden Beträge, soweit sie nicht nach § 12 Abs 3 SGB II von der Berücksichtigung ausgenommen sind. Abzusetzen sind danach hier gemäß § 12 Abs 2 Nr 1 Halbsatz 1 SGB II (vom 1.1.2005 bis 31.7.2006 idF des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003, BGBl I 2954; seit dem 1.8.2006 in der insoweit seither unverändert geltenden Fassung des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.7.2006, BGBl I 1706) der Grundfreibetrag in...

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