Urteil Nr. B 4 AS 39/17 R des Bundessozialgericht, 2018-09-12

Judgment Date12 Septiembre 2018
ECLIDE:BSG:2018:120918UB4AS3917R0
Judgement NumberB 4 AS 39/17 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Grundsicherung für Arbeitsuchende - abschließende Entscheidung über zunächst vorläufig beschiedene Leistungsansprüche - Anwendbarkeit des § 41a SGB II auf vor dem 1.8.2016 beendete Bewilligungszeiträume - Verpflichtung zum Nachweis leistungserheblicher Tatsachen - Berücksichtigung von Einkommensangaben im Widerspruchsverfahren
Leitsätze

1. Auf zuvor beendete Bewilligungszeiträume findet die am 1.8.2016 in Kraft getretene Regelung zur abschließenden Entscheidung über Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in der Grundsicherung für Arbeitsuchende keine Anwendung.

2. Im Widerspruchsverfahren vorgelegte Unterlagen zum Nachweis leistungserheblicher Tatsachen sind bei abschließenden Entscheidungen nach § 41a Abs 3 SGB II zu berücksichtigen.

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 25. September 2017 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Beklagte verpflichtet wird, über den Anspruch des Klägers auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts von Dezember 2014 bis August 2016 erneut abschließend zu entscheiden.

Der Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Tatbestand

Im Streit stehen abschließende Entscheidungen über Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zwischen Dezember 2014 und August 2016 und die Erstattung von 22 370,73 Euro.

Das beklagte Jobcenter bewilligte dem 1968 geborenen, nach einer Darmkrebserkrankung mit einem GdB von 60 als schwerbehindert anerkannten Kläger für die Bewilligungszeiträume von Dezember 2014 bis Mai 2015, Juni bis November 2015, Dezember 2015 bis Mai 2016 sowie Juni bis November 2016 vorläufig aufstockendes Alg II sowie einen Zuschuss zur Kranken- und Pflegeversicherung unter Zugrundelegung eines geschätzten Einkommens aus selbständiger Tätigkeit als Dozent und EDV-Berater zwischen 40,50 Euro und 150,01 Euro monatlich; aufgrund eines vom Kläger zum 1.9.2016 angezeigten Beschäftigungsverhältnisses hob der Beklagte die letzte Bewilligung ab diesem Zeitpunkt auf. Nachdem die von ihm mit Schreiben vom 8.2.2017 angeforderten Unterlagen zum Nachweis der in den streitbefangenen Bewilligungszeiträumen angefallenen Betriebseinnahmen und -ausgaben bis zur hierfür gesetzten Frist am 20.3.2017 nicht eingegangen waren, setzte er die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 41a Abs 3 Satz 4 SGB II abschließend auf null Euro fest und forderte den Kläger zur Erstattung erbrachter Leistungen in Höhe von 22 370,73 Euro auf; mangels Nachweis bestehe kein Leistungsanspruch (Bescheide vom 28.3.2017).

In den Widerspruchsverfahren legte der Kläger Unterlagen über Betriebseinnahmen und -ausgaben vor, wonach er in den streitbefangenen Bewilligungszeiträumen Gewinne von 2812,75 Euro, 1496,04 Euro und 869,01 Euro bzw einen Verlust von 16,81 Euro erzielt habe. Die Verspätung sei auf seine Beanspruchung durch das im September 2016 aufgenommene Beschäftigungsverhältnis mit langen Anfahrtszeiten, den Abschluss eines Privatinsolvenzverfahrens sowie auf Nachwirkungen zurückliegender Operationen zurückzuführen. Der Beklagte wies die Widersprüche zurück. Mangels fristgerechter Nachweise habe kein Leistungsanspruch bestanden; Wiedereinsetzung sei nicht zu gewähren, da die angeführten Gründe die Nichteinhaltung der Frist nicht rechtfertigten (Widerspruchsbescheide vom 26.4.2017).

Das SG hat nach Verbindung der Verfahren (§ 113 Abs 1 SGG) die angefochtenen Bescheide in Gestalt der Widerspruchsbescheide aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an den Beklagten zurückverwiesen (Urteil vom 25.9.2017). Hinsichtlich der Bewilligungszeiträume, die vor dem Inkrafttreten der hier herangezogenen Bestimmung des § 41a Abs 3 SGB II zum 1.8.2016 abgelaufen gewesen seien, sei die Regelung schon nicht anwendbar. Unbeschadet dessen sei der Kläger mit seinem Vorbringen im Widerspruchsverfahren nicht ausgeschlossen, weil § 41a Abs 3 SGB II keine Präklusionsvorschrift sei.

Mit der vom SG zugelassenen und mit Zustimmung des Klägers eingelegten Sprungrevision rügt der Beklagte sinngemäß die Verletzung von § 80 Abs 2 und § 41a Abs 3 Satz 3 und 4 SGB II. Die Regelung gelte auch für Bewilligungszeiträume, die vor dem 1.8.2016 beendet waren. Die Vorlage von Einkommensnachweisen erst im Widerspruchsverfahren sei verspätet gewesen; daher seien die Angaben zu Einnahmen und Ausgaben nicht mehr zu prüfen gewesen.

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 25. September 2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger verteidigt die angegriffene Entscheidung und beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Beklagten ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Zutreffend ist das SG davon ausgegangen, dass Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nicht deshalb abschließend abzulehnen sind, weil der Kläger die geforderten Nachweise über die Einnahmen und Ausgaben aus selbständiger Arbeit erst im Widerspruchsverfahren vorgelegt hat. Revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist unter diesen Umständen seine Entscheidung, die angefochtenen Bescheide aufzuheben und die Sache zur weiteren Sachaufklärung an den Beklagten zurückzuverweisen.

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind neben dem Urteil des SG die Bescheide vom 28.3.2017 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 26.4.2017, durch die der Beklagte die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für Dezember 2014 bis August 2016 gestützt auf § 41a Abs 3 Satz 3 und 4 SGB II idF des Neunten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch - Rechtsvereinfachung - sowie zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht (9. SGB II-ÄndG) vom 26.7.2016 (BGBl I 1824) mit der Festsetzung des Leistungsanspruchs auf null Euro ("Nullfeststellung") der Sache nach abschließend abgelehnt und den Kläger zur Erstattung vorläufig erbrachter Leistungen in Höhe von 22 370,73 Euro verpflichtet hat.

Mit der Klage hiergegen und dem Vorbringen, ihm stünden höhere endgültige Leistungen zu, beansprucht der Kläger eine Korrektur der Entscheidungen des Beklagten über die abschließend festzustellenden und die zu erstattenden vorläufigen Leistungen. Demgemäß richtet sich das Klageziel neben der Änderung der Bescheide darauf, den Beklagten zu verpflichten auszusprechen, dass ihm abschließend höhere Leistungen zustehen als mit den Bescheiden vom 28.3.2017 festgesetzt. Für eine isolierte Anfechtung der abschließenden Leistungsbescheide mit dem Ziel, die vorläufig bewilligten Leistungen weiter behalten zu dürfen, fehlt dagegen das Rechtsschutzbedürfnis, weil der Beklagte die eingeleitete abschließende Feststellung des Leistungsanspruchs für den streitbefangenen Zeitraum durch Verwaltungsakt abzuschließen hat (arg § 41 Abs 5 Satz 1 SGB II, vgl unten 6. c) und daher die Aufhebung der Nullfeststellungen allein den Rechtsstreit nicht dauerhaft beenden könnte (vgl zum fehlenden Rechtsschutzinteresse an der isolierten Anfechtung eines Leistungsbescheids etwa BSG vom 3.10.1973 - 1 RA 61/72 - BSGE 36, 181, 183 = SozR Nr 4 zu § 1613 RVO Aa 5; BSG vom 18.9.2012 - B 2 U 15/11 R - SozR 4-5671 § 3 Nr 6 RdNr 16; Bieresborn in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 54 RdNr 127 mwN; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 54 RdNr 4a mwN; vgl dagegen zur isolierten Anfechtbarkeit einer endgültigen Elterngeldfestsetzung BSG vom 8.3.2018 - B 10 EG 8/16 R - vorgesehen für SozR 4-7837 § 2c Nr 3 RdNr 18).

Zutreffende Klageart hierfür ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG), soweit das Klagebegehren auf weitere Zahlungen über die vorläufig erbrachten Leistungen hinaus zielt, und ansonsten die (kombinierte) Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 Alt 1 und 2, § 56 SGG; vgl dazu BSG vom 8.2.2017 - B 14 AS 22/16 R - NJW 2017, 2493 RdNr 10 f). Dabei beschränkt sich der Streitstoff hier aufgrund der Zurückverweisungsentscheidung des SG nach § 131 Abs 5 SGG auf die Frage, ob dem Kläger - ähnlich der Situation beim Grundurteil im Höhenstreit (§ 130 Abs 1 SGG; vgl nur BSG vom 16.4.2013 - B 14 AS 81/12 R - SozR 4-4225 § 1 Nr 2 RdNr 10) - im streitbefangenen Zeitraum voraussichtlich existenzsichernde Leistungen abschließend zuzuerkennen sein werden und ihre Bemessung weitere Sachverhaltsermittlungen erfordert.

2. Die Sprungrevision ist zulässig. Nach § 161 Abs 1 Satz 1 SGG steht den Beteiligten die Revision unter Übergehung der Berufungsinstanz zu, wenn der Gegner schriftlich zustimmt und sie vom SG im Urteil oder auf Antrag durch Beschluss zugelassen wird; nach § 161 Abs 1 Satz 3 SGG ist die Zustimmung des Gegners der Revisionsschrift beizufügen, wenn die Revision im Urteil zugelassen ist. Das SG hat die Sprungrevision im Urteil vom 25.9.2017 zugelassen. Wegen der Vorlage der schriftlichen Zustimmung des Klägers erst nach Ablauf der Revisionsfrist hat der Senat dem Beklagten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt (vgl dazu BSG vom 2.3.1994 - 1 RK 58/93 - SozR 3-1500 § 137 Nr 1 S 3).

3. Die Zurückverweisungsentscheidung nach § 131 Abs 5 SGG begründet keinen Verfahrensmangel.

a) Nach § 131 Abs 5 Satz 1 und 5 SGG kann das Gericht, hält es eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten seit Eingang der Behördenakten aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Das gilt nach § 131 Abs 5 Satz 2 Halbsatz 1 SGG auch bei Klagen auf Verurteilung zum Erlass eines Verwaltungsakts und bei Klagen nach § 54 Abs 4 SGG.

b) Die nach der Rechtsprechung des BSG zunächst auf die Fälle der reinen Anfechtungsklage beschränkt gewesene (BSG vom 17.4.2007 - B 5 RJ 30/05 R - BSGE 98, 198 = SozR 4-1500 § 131 Nr 2, RdNr 8 ff) und durch das Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des...

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