Urteil Nr. B 4 AS 10/20 R des Bundessozialgericht, 2020-06-24
Judgment Date | 24 Junio 2020 |
ECLI | DE:BSG:2020:240620UB4AS1020R0 |
Judgement Number | B 4 AS 10/20 R |
Court | Der Bundessozialgericht (Deutschland) |
Auf die Revisionen der Kläger wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 30. September 2019 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Die Kläger wenden sich gegen die teilweise Rücknahme der Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende, die ihnen der Beklagte für Februar bis Mai 2014 erbracht hatte, und gegen deren Rückforderung.
Die 1978 bzw 2002 geborenen Kläger sind Mutter und Sohn. Die im streitgegenständlichen Zeitraum erwerbsfähige Klägerin zu 1 ist seit Februar 2011 als Abrufarbeitnehmerin mit einer Arbeitszeit von mindestens drei Stunden pro Woche beschäftigt. Aus dieser Tätigkeit erzielte sie ein monatlich schwankendes Einkommen, wobei das Gehalt jeweils im Folgemonat ausgezahlt wurde.
Der Beklagte bewilligte unter anderem Leistungen für Februar bis Mai 2014 in Höhe von 272,62 Euro an die Klägerin zu 1 und in Höhe von 148,30 Euro an den Kläger zu 2 (Bescheid vom 27.11.2013). Dabei wurde Krankengeld in Höhe von monatlich 801 Euro als Einkommen der Klägerin zu 1 sowie Kindergeld in Höhe von monatlich 184 Euro als Einkommen des Klägers zu 2 berücksichtigt. Später bewilligte der Beklagte unter anderem Leistungen für Februar bis Mai 2014 in Höhe von monatlich 431,44 Euro an die Klägerin zu 1 und in Höhe von 235,28 Euro an den Kläger zu 2 (Änderungsbescheid vom 3.2.2014). Es wurde nun (neben dem Kindergeld) statt des Krankengeldes Einkommen aus Erwerbstätigkeit der Klägerin zu 1 in Höhe von 1100 Euro brutto (850 Euro netto) berücksichtigt.
Nachdem die Klägerin zu 1 Verdienstbescheinigungen für Januar und Februar 2014 vorgelegt hatte, bewilligte der Beklagte für Februar 2014 der Klägerin zu 1 Leistungen in Höhe von 333,12 Euro und dem Kläger zu 2 in Höhe von 181,66 Euro (Änderungsbescheid vom 17.3.2014).
In der Folgezeit gab der Beklagte mit Schreiben vom 17.3.2014, 23.4.2014 und 28.5.2014 der Klägerin zu 1 unter Hinweis auf § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 bzw Nr 3 SGB X Gelegenheit zur Stellungnahme zur beabsichtigten Geltendmachung von Erstattungsforderungen für Februar bis Mai 2014.
Sodann hob der Beklagte die Bewilligungsbescheide vom 27.11.2013, 3.2.2014 und 17.3.2014 für Februar bis Mai 2014 unter Hinweis auf § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB X teilweise auf und forderte - aufgeschlüsselt nach Monaten und individualisiert nach den beiden Klägern - eine Erstattung von Leistungen für den genannten Zeitraum in Höhe von insgesamt 864,02 Euro (Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 12.6.2014). Die Klägerin zu 1 habe während des genannten Zeitraums ein höheres Einkommen aus ihrer Beschäftigung erzielt. Mit dem nachgewiesenen Einkommen seien die Kläger nicht im bisherigen Umfang hilfebedürftig. Die Klägerin zu 1 sei ihrer Pflicht zur Mitteilung von Veränderungen zumindest grob fahrlässig nicht nachgekommen.
Der Beklagte gab den Widersprüchen der Kläger gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 12.6.2014 teilweise statt und änderte ihn dahingehend ab, dass von der Klägerin zu 1 nur noch ein Betrag von 492,96 Euro und vom Kläger zu 2 von 268,85 Euro erstattet verlangt wurde (Widerspruchsbescheid vom 30.12.2015). Der Widerspruch sei insofern begründet, als der monatlich gezahlte Arbeitgeberanteil für vermögenswirksame Leistungen nicht als Einkommen zu berücksichtigen sei. Im Übrigen sei der Widerspruch aber unbegründet. Die Aufhebung beruhe auf § 45 Abs 2 Satz 1 bis 3 SGB X. Die Bewilligungsentscheidungen seien bereits bei ihrem Erlass rechtswidrig gewesen, weil den Klägern Leistungen ohne Berücksichtigung des tatsächlich erzielten Einkommens bewilligt worden seien. Diese Rechtswidrigkeit habe die Klägerin zu 1 erkennen können bzw habe sie infolge grober Fahrlässigkeit nicht erkannt.
Das SG hat die Klage(n) abgewiesen (Urteil vom 8.9.2017).
Mit Schreiben vom 26.3.2019 hat der Beklagte den Klägern Gelegenheit zur Äußerung zum Vorwurf der Kenntnis von der Rechtswidrigkeit der ursprünglichen Bescheide gegeben. In der mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 30.9.2019 hat der Beklagte den Bescheid vom 12.6.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.12.2015 durch Erklärung zu Protokoll insoweit aufgehoben, als damit der Änderungsbescheid vom 17.3.2014 aufgehoben und von der Klägerin zu 1 mehr als 460,54 Euro sowie von dem Kläger zu 2 mehr als 251,16 Euro erstattet verlangt werden.
Das LSG hat die Berufung(en) zurückgewiesen (Urteil vom 30.9.2019). Die ursprünglichen Bewilligungsbescheide seien bereits bei ihrem Erlass rechtswidrig gewesen, weil hiermit Leistungen endgültig bewilligt worden seien, obwohl aufgrund des schwankenden Einkommens der Klägerin zu 1 nur eine vorläufige Bewilligung habe erfolgen dürfen. Die Klägerin zu 1 könne sich nicht auf schutzwürdiges Vertrauen berufen. Sie habe die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes gekannt bzw habe sie infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt. Der Kläger zu 2 müsse sich die Kenntnis bzw grob fahrlässige Unkenntnis der Klägerin zu 1 als seiner gesetzlichen Vertreterin zurechnen lassen. Bezugspunkt der Kenntnis bzw der grob fahrlässigen Unkenntnis sei nicht die Überzahlung als solche. Sie müsse sich vielmehr auf die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, also das Ergebnis der Tatsachenfeststellung und Rechtsanwendung durch die Behörde beziehen. Die Klägerin zu 1 habe nicht zuletzt aufgrund der Bewilligungsentscheidungen und deren Änderungen im vorangegangenen Bewilligungszeitraum gewusst, dass die Leistungen an die tatsächlichen Einkommensverhältnisse angepasst werden würden. Auch wenn sie die Unterscheidung zwischen vorläufiger und endgültiger Bewilligung nicht habe kennen müssen, so sei ihr infolgedessen doch klar bzw hätte ihr klar sein müssen, dass die dauerhaft angelegte Zugrundelegung eines festen, jeden Monat gleichen Einkommens in den ursprünglichen Bewilligungsbescheiden nicht richtig gewesen sei bzw nicht auf Dauer werde Bestand haben können.
Hiergegen wenden sich die Kläger mit den vom LSG zugelassenen Revisionen. Sie sind der Ansicht, dass sich die Rechtswidrigkeit der Bewilligungsentscheidungen nicht daraus ergebe, dass nicht das tatsächliche Einkommen zugrunde gelegt worden sei. Die Rechtswidrigkeit beruhe vielmehr darauf, dass es sich nicht um vorläufige Bewilligungsbescheide gehandelt habe. Sie beriefen sich nicht auf Vertrauensschutz, sondern rügten die fehlende Ermessensausübung. Die Klägerin zu 1 habe bereits aus früheren Bewilligungsabschnitten die Praxis gekannt, dass nach Vorlage von Verdienstabrechnungen Änderungsbescheide ergehen und dass es zu Nachzahlungen oder Rückforderungen komme. Sie hätte aber nicht wissen müssen, dass eine vorläufige Bewilligung hätte erfolgen müssen. Daher hätte der Beklagte Ermessen ausüben müssen.
Die Kläger beantragen (sachgerecht gefasst),
die Urteile des Landessozialgerichts Hamburg vom 30. September 2019 und des Sozialgerichts Hamburg vom 8. September 2017 sowie den Bescheid vom 12. Juni 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Dezember 2015 und in der Fassung des zu Protokoll gegebenen Verwaltungsaktes vom 30. September 2019 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Revisionen zurückzuweisen.
Der Beklagte verteidigt die Entscheidung des LSG.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
EntscheidungsgründeDie Revisionen der Kläger, über die der Senat gemäß § 124 Abs 2 SGG mit Einverständnis der Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte, haben im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht Erfolg (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Auf Grundlage der bisherigen Feststellungen des LSG kann der Senat nicht abschließend entscheiden, ob der Beklagte zu Recht die...
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