Urteil Nr. B 4 AS 12/20 R des Bundessozialgericht, 2020-06-24

Judgment Date24 June 2020
ECLIDE:BSG:2020:240620UB4AS1220R0
Judgement NumberB 4 AS 12/20 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 26. September 2019 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander auch für das Revisionsverfahren außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.

Tatbestand

Umstritten ist die Aufforderung zur vorzeitigen Inanspruchnahme einer Rente wegen Alters.

Die 1953 geborene Klägerin lebt mit ihrem eine Regelaltersrente beziehenden Ehemann zusammen und erhielt nach endgültiger Festsetzung laufend Alg II, zuletzt von Februar bis Juli 2016 in wechselnder Höhe von 448,69 Euro bis 622,11 Euro monatlich (Bescheid vom 25.7.2016). Seit März 2016 betreute sie erneut ein Pflegekind (geboren im Juni 2015) in befristeter Vollzeitpflege, wofür sie monatliches Pflegegeld in Höhe von 927,97 Euro erhielt. Eine Regelaltersrente in Höhe von 873,46 Euro monatlich bezieht die Klägerin seit September 2018. Aus dem erst im Berufungsverfahren angeforderten Bescheid der Deutschen Rentenversicherung (DRV) vom 2.10.2018 ergibt sich, dass seit 2012 bis zum Beginn der Regelaltersrente Beitragszeiten für die Pflege des Ehemanns berücksichtigt wurden.

Mit Vollendung ihres 63. Lebensjahres erfüllte die Klägerin ab 1.2.2016 die Voraussetzungen für eine vorzeitige Altersrente (Schreiben der DRV vom 5.4.2016). Der Beklagte forderte sie auf, diese Altersrente mit Abschlägen bis spätestens 2.5.2016 zu beantragen (Schreiben vom 14.4.2016). Nach dem Widerspruch der Klägerin gegen die Aufforderung zur Rentenantragstellung, den der Beklagte zurückwies, beantragte er selbst, gestützt auf § 5 Abs 3 SGB II, eine vorzeitige Altersrente und meldete einen Erstattungsanspruch an (Schreiben vom 20.5.2016).

Das SG hat den Bescheid vom 14.4.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.6.2016 aufgehoben (Urteil vom 20.6.2017). Der Beklagte habe bei seinen Ermessenserwägungen berücksichtigen müssen, ob die Betreuung und Erziehung von Pflegekindern bei vorzeitiger Verrentung in gleicher Weise und insbesondere unter entsprechenden finanziellen Voraussetzungen habe erbracht werden können.

Das LSG hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 26.9.2019). Die Ausnahmetatbestände der Unbilligkeitsverordnung stünden einer Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente nicht entgegen. Hilfebedürftigkeit im Alter sei nicht zu erwarten. Die Pflichtbeitragszeit wegen Pflege des Ehemannes begründe keine einer Erwerbstätigkeit gleichgestellte Tätigkeit. Das wegen Vollzeitpflege des Kindes gezahlte Pflegegeld sei weder Arbeitsentgelt aus einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung noch Einkommen aus einer sonstigen Erwerbstätigkeit. Die Ermessensentscheidung sei rechtlich nicht zu beanstanden. Zwar habe der Beklagte die Pflichtbeitragszeiten für die Pflege des Ehemannes von Februar 2016 bis August 2018 im rentenrechtlichen Versicherungsverlauf berücksichtigen müssen, weil diese rentensteigernden Zeiten bei Bezug einer vorzeitigen Altersrente nicht mehr erworben werden könnten. Die Klägerin habe die von ihr bereits seit 2012 ausgeübte, nicht erwerbsmäßige Pflege ihres Ehemannes aber weder mitgeteilt noch sei diese aus den Akten ersichtlich. Die Ermessensentscheidung des Beklagten sei daher rechtlich nicht zu beanstanden, obgleich sich durch gerichtliche Sachaufklärung Umstände ergeben hätten, die bei der Ermessensentscheidung zu berücksichtigen gewesen wären.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 12a SGB IIiVm § 5 Abs 3 SGB II. Der Beklagte habe sein Ermessen unzutreffend ausgeübt. Die Erhöhung der Regelaltersrente durch Pflichtbeiträge für die Pflegetätigkeiten sei nicht berücksichtigt worden. Die Pflege sei dem Beklagten bekannt gewesen, weil sie allein deshalb nicht vermittelt worden sei. Zudem sei er verpflichtet gewesen, die Klägerin hinsichtlich ihrer individuellen Lebenssituation zu befragen.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 26. September 2019 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 20. Juni 2017 zurückzuweisen.

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Das LSG sei zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, dass die Ermessensentscheidung zur Aufforderung der Beantragung einer vorzeitigen Rente rechtmäßig sei.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Das LSG hat zutreffend entschieden, dass die Aufforderung zur Rentenantragstellung rechtmäßig ist.

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens, in dem der Senat aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten gemäß § 124 Abs 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte, ist das Urteil des LSG, mit dem das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen worden ist, sowie der Bescheid vom 14.4.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.6.2016, durch den die Klägerin zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente aufgefordert worden ist.

2. Zutreffende Klageart ist die Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG), weil es sich bei der Aufforderung, eine vorzeitige Altersrente zu beantragen, um einen Verwaltungsakt iS des § 31 Satz 1 SGB X handelt (vglBSG vom 19.8.2015 - B 14 AS 1/15 R - BSGE 119, 271 = SozR 4-4200 § 12a Nr 1, RdNr 12). Für die Anfechtungsklage besteht auch nach Beginn des Bezugs einer abschlagsfreien Regelaltersrente ab dem 1.9.2018 ein Rechtsschutzbedürfnis, weil die angefochtene Aufforderung nicht iS des § 39 Abs 2 SGB X erledigt ist. Solange das auf dem Antrag des Beklagten beruhende Rentenverfahren zu einer vorzeitigen Altersrente noch nicht abgeschlossen ist, begründet und erhält die angefochtene Aufforderung seine Verfahrensführungsbefugnis für die Klägerin im Rentenverfahren, in dem eine rückwirkende Bewilligung einer vorzeitigen Altersrente weiterhin in Betracht kommt (vglBSG vom 19.8.2015 - B 14 AS 1/15 R - BSGE 119, 271 = SozR 4-4200 § 12a Nr 1, RdNr 13).

Von Amts wegen zu berücksichtigende Verfahrensmängel stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen. Einer echten notwendigen Beiladung der DRV nach § 75 Abs 2 Alt 1 SGG bedurfte es nicht (vglBSG vom 19.8.2015 - B 14 AS 1/15 R - BSGE 119, 271 = SozR 4-4200 § 12a Nr 1, RdNr 14).

3. Der Bescheid vom 14.4.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.6.2016 ist formell und materiell rechtmäßig, weil weder die Ausnahmetatbestände für ein Absehen von einer Aufforderung zur Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente noch Ermessensfehler vorliegen.

a) Rechtsgrundlage für die Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente ist § 12a iVm § 5 Abs 3 Satz 1 SGB II(jeweils idF der Bekanntmachung vom 13.5.2011, BGBl I 850). Nach § 12a Satz 1 SGB II sind Leistungsberechtigte verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich ist. Nach § 12a Satz 2 Nr 1 SGB II besteht keine Verpflichtung, bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch zu nehmen. Stellen Leistungsberechtigte trotz Aufforderung einen erforderlichen Antrag nicht, können die SGB II-Leistungsträger nach § 5 Abs 3 Satz 1 SGB II den Antrag stellen.

b) Bedenken gegen die formelle Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 14.4.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.6.2016 bestehen nicht; insbesondere ist die Klägerin zu der Aufforderung, bei der es sich um einen belastenden Verwaltungsakt handelt (vglBSG vom 19.8.2015 - B 14 AS 1/15 R - BSGE 119, 271 = SozR 4-4200 § 12a Nr 1, RdNr 12), angehört worden (vgl zum Erfordernis einer Anhörung BSG vom 23.6.2016 - B 14 AS 46/15 R - juris RdNr 16). § 24 Abs 1 SGB X bestimmt, dass einem Beteiligten vor Erlass eines Verwaltungsakts, der in dessen Rechte...

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