Urteil Nr. B 4 AS 3/20 R des Bundessozialgericht, 2020-09-17

Judgment Date17 Septiembre 2020
ECLIDE:BSG:2020:170920UB4AS320R0
Judgement NumberB 4 AS 3/20 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Grundsicherung für Arbeitsuchende - Einkommensberücksichtigung und -berechnung - Teilnahme eines behinderten Leistungsberechtigten an einem Projekt eines Trägers der freien Wohlfahrtspflege zur Verbesserung der sozialen Teilhabe unter regelmäßiger monatlicher Zahlung von Motivationszuwendungen - Absetzung Erwerbstätigenpauschale und Erwerbstätigenfreibetrag
Leitsätze

Erhält ein erwerbsfähiger Arbeitslosengeld II-Bezieher mit einer längerfristigen Tätigkeit in einem Zuverdienstprojekt eines Trägers der freien Wohlfahrtspflege regelmäßige "Motivationszuwendungen", sind diese unter Berücksichtigung der für Erwerbseinkommen geltenden Maßstäbe von der Berücksichtigung als Einkommen auszunehmen.

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 21. März 2019 abgeändert. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger für die Zeit von Februar bis September 2015 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts unter Berücksichtigung der Zuwendungen wie Erwerbseinkommen zu zahlen. Die weitergehende Klage wird abgewiesen.

Die weitergehende Revision wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in allen Rechtszügen zu erstatten.

Tatbestand

Streitig ist die Höhe von Alg II unter Berücksichtigung von Motivationszuwendungen, die der Kläger aus einem Zuverdienstprojekt des Caritasverbandes N eV (im Folgenden: Caritasverband) erhielt.

Der Kläger, der seit 2010 laufend Alg II bezieht und bei dem wegen einer Suchterkrankung ein Grad der Behinderung von 20 festgestellt ist, schuldete im streitigen Zeitraum eine monatliche Miete in Höhe von 337,05 Euro. Für einen sog Riestervertrag leistete er einen monatlichen Betrag in Höhe von 5 Euro sowie im März 2015 für die Haftpflichtversicherung seines Mofas einen Betrag in Höhe von 49,80 Euro. Für die Zeit ab 1.1.2015 vereinbarte er mit dem Caritasverband einen sog Zuverdienstvertrag zur "Bereitstellung von Betreuungsplätzen als Beschäftigungsmöglichkeiten", wonach ihm auf unbestimmte Dauer "für bis zu 14,99 Stunden wöchentlich" ein "Zuverdienstplatz" zur Verfügung gestellt wurde. Eine vergleichbare Tätigkeit hatte der Kläger zuvor bereits in Gestalt eines „Minijobs“ ausgeübt. Nach dem Inhalt des Vertrags vom 3.12.2014 sollte der Kläger ausgehend von den jeweils vorhandenen Arbeiten und auf der Basis der Kompetenzen, der persönlichen Neigungen, der Ziele und der Tagesverfassung geeignete Tätigkeiten ausüben. Je Anwesenheitsstunde wurde ihm eine "Motivationszuwendung" in Höhe von 5 Euro geleistet. Er erhielt 127,25 Euro im Februar 2015, 210 Euro im März 2015, 272,50 Euro im April 2015, 250 Euro im Mai 2015, 197,50 Euro im Juni 2015, 160 Euro im Juli 2015, 295 Euro im August 2015 und 255 Euro im September 2015.

Der Beklagte bewilligte zunächst vorläufig Alg II in Höhe von monatlich 568,05 Euro vom 1.10.2014 bis 30.9.2015 (Bescheid vom 2.9.2014) und später in Höhe von monatlich 576,05 Euro vom 1.1.2015 bis 30.9.2015 (vorläufiger Bescheid vom 1.12.2014). In beiden Bescheiden berücksichtigte er ein prognostisches Einkommen von monatlich 300 Euro und setzte hiervon die Erwerbstätigenfreibeträge nach dem SGB II ab, weil der Kläger bei dem Caritasverband in einem sog "Mini-Job" arbeite. Nach Vorlage des Zuverdienstvertrages mit dem Caritasverband änderte der Beklagte die Alg II-Bewilligung, indem er im streitigen Zeitraum vom 1.2.2015 bis 30.9.2015 von dem prognostisch weiterhin zugrunde zu legenden Einkommen in Höhe von 300 Euro jeweils nur noch eine Versicherungspauschale von 30 Euro, einen Abschlag für die Mofa-Versicherung in Höhe von 4,41 Euro sowie einen Beitrag zur Riester-Rente von 5 Euro absetzte (vorläufiger Bescheid vom 23.1.2015; Widerspruchsbescheid vom 7.5.2015). Dabei ging er davon aus, dass die dem Kläger erbrachte Motivationszuwendung nicht anrechnungsfrei sei, weil nur geringwertige Gegenstände und kleinere Geldzahlungen, etwa Kleider- oder Möbelspenden aus Gebrauchtwarenbeständen sowie Lebensmittel der Tafeln, privilegiert seien. Aufgrund ihrer Höhe, Häufigkeit und Regelmäßigkeit verbesserten die Motivationszuwendungen die Lage des Klägers unverhältnismäßig. Später passte der Beklagte die Leistungshöhe mehrfach an (vorläufige Bescheide vom 26.2.2015 und 4.8.2015).

Das SG hat den Bescheid vom 23.1.2015 in Gestalt der Bescheide vom 26.2.2015 und 4.8.2015 sowie den Widerspruchsbescheid vom 7.5.2015 abgeändert und den Beklagten verpflichtet, Alg II vom 1.2.2015 bis 31.7.2015 "endgültig festzustellen unter Berücksichtigung der Erwerbstätigenfreibeträge nach § 11b SGB II und für den Zeitraum 1.8.2015 bis 30.9.2015 dem Kläger die mit Bescheid vom 2.9.2014 ursprünglich bewilligten Leistungen weiter vorläufig zu gewähren" (Urteil vom 28.8.2015). Es habe keine wesentliche Änderung in den Verhältnissen vorgelegen, weil der zuvor von dem Kläger beim Caritasverband ausgeübte Mini-Job bei gleichbleibender Tätigkeit lediglich in eine Zuwendungsvereinbarung umbenannt worden sei.

Während des Berufungsverfahrens hat der Beklagte die Leistungen für den Zeitraum vom 1.2.2015 bis 30.9.2015 endgültig festgesetzt (Bescheid vom 8.3.2016) und von der Motivationszuwendung monatlich jeweils "sonstige Abzüge" in Höhe von 70 Euro sowie die Versicherungspauschale in Höhe von 30 Euro abgesetzt. Er bewilligte Alg II in Höhe von 708,80 Euro für Februar 2015, in Höhe von 626,05 Euro für März 2015, in Höhe von 563,55 Euro für April 2015, in Höhe von 586,05 Euro für Mai 2015, in Höhe von 638,55 Euro für Juni 2015, in Höhe von 676,05 Euro für Juli 2015, in Höhe von 541,05 Euro für August 2015 und in Höhe von 581,05 Euro für September 2015.

Das LSG hat den Beklagten "in Abänderung des Bescheides vom 8. März 2016" verurteilt, "dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu gewähren für die Monate Februar, März, Juni und Juli 2015 jeweils in Höhe von 736,05 €, für April 2015 in Höhe von 698,55 €, für Mai 2015 in Höhe von 721,05 €, für August 2015 in Höhe von 676,05 € und für September 2015 in Höhe von 716,05 €". Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen und den Beklagten verurteilt, die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Instanzen zu neun Zehnteln zu übernehmen (Urteil vom 21.3.2019). Nach der Gerechtfertigkeitsprüfung des § 11a Abs 4 SGB II seien die Zuwendungen des Caritasverbandes bis zu einem monatlichen Betrag in Höhe von 200 Euro nicht als Einkommen zu berücksichtigen. Regelungen im SGB II und SGB XII sei zu entnehmen, dass insofern nicht von einer Überkompensation der Grundsicherung und der sonstigen Einnahmen ausgegangen werden müsse. Soweit die Motivationszuwendungen in den einzelnen Monaten jeweils 200 Euro überstiegen, seien diese Beträge als Einkommen zu berücksichtigen. Hiervon seien 35 Euro monatlich (Versicherungspauschale in Höhe von 30 Euro, sog Riestervertrag in Höhe von 5 Euro) sowie im März 2015 die Kfz-Haftpflichtversicherung in Höhe von 49,80 Euro abzusetzen.

Mit seiner vom LSG zugelassenen Revision rügt der Beklagte eine Verletzung von § 11a Abs 4 SGB II. Nach der Entscheidung des BSG vom 28.2.2013 (B 8 SO 12/11 R - BSGE 113, 86 = SozR 4-3500 § 84 Nr 1) seien Motivationsprämien höchstens mit einem Betrag von 60 Euro je Monat anrechnungsfrei. Der vom LSG berücksichtigte Grundfreibetrag von 200 Euro überzeuge weder dem Grunde noch der Höhe nach. Auch könnten die sonstigen Abzugsbeträge nicht ergänzend berücksichtigt werden, weil diese bereits im Ehrenamtsfreibetrag enthalten seien. Die Auffassung des LSG führe zu dauerhaft anrechnungsfreien Motivationszuwendungen in Höhe von deutlich über 50 % des Regelbedarfs eines Alleinstehenden.

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 21. März 2019 und das Urteil des Sozialgerichts München vom 28. August 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Er bezieht sich auf das angefochtene Urteil.

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten ist teilweise begründet. Das Urteil des LSG ist abzuändern. Zwar hat der Kläger in dem streitigen Zeitraum von Februar bis September 2015 Anspruch auf höheres Alg II als ihm der Beklagte mit dem entsprechend abzuändernden Bescheid vom 8.3.2016 bewilligt hat. Jedoch ergibt sich ein Anspruch auf niedrigeres Alg als das LSG...

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