Urteil Nr. B 5 RS 2/18 R des Bundessozialgericht, 2019-06-27
Judgment Date | 27 Junio 2019 |
ECLI | DE:BSG:2019:270619UB5RS218R0 |
Judgement Number | B 5 RS 2/18 R |
Court | Der Bundessozialgericht (Deutschland) |
1. Bei der Feststellung von Arbeitsentgelt sind die abstrakt-generellen Besoldungs- und Verpflegungsordnungen der Zollverwaltung der DDR als generelle Tatsachen anzusehen, an deren Feststellung das Revisionsgericht nicht gebunden ist.
2. An die Mitarbeiter der Zollverwaltung der DDR gezahltes Verpflegungsgeld stellt kein lohnsteuerpflichtiges Arbeitsentgelt dar.
TenorAuf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 15. März 2018 aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 20. Juni 2014 insgesamt zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in allen Rechtszügen nicht zu erstatten.
Die Beteiligten streiten im Überprüfungsverfahren noch darüber, ob die Beklagte die bisherigen Höchstwertfestsetzungen von Arbeitsentgelten, die der Kläger während seiner Zugehörigkeit zum Sonderversorgungssystem der Angehörigen der Zollverwaltung der DDR (Sonderversorgungssystem Nr 3 der Anl 2 zum AAÜG) tatsächlich erzielt hat, im Bescheid vom 1.3.2001 teilweise zurücknehmen und zusätzlich Verpflegungsgeld als weiteres Arbeitsentgelt feststellen muss.
Der am 1941 geborene Kläger war zunächst Mitarbeiter der Zollverwaltung der DDR und nach dem Beitritt bei der Bundesfinanzverwaltung tätig. Die Beklagte stellte für die Zeit ab 1.6.1962 bis 30.11.1991 Zeiten der Zugehörigkeit zum Sonderversorgungssystem Nr 3 der Anl 2 zum AAÜG sowie die in diesem Zeitraum tatsächlich erzielten Arbeitsentgelte fest (Bescheid vom 1.3.2001). Im November 2007 beantragte der Kläger, der zu diesem Zeitpunkt bereits eine Altersrente bezog, ua die Feststellung von Verpflegungsgeld als weiteres Arbeitsentgelt. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, die Zahlung von Verpflegungsgeld habe lediglich Aufwandsersatzcharakter gehabt (Bescheid vom 15.9.2008 und Widerspruchsbescheid vom 23.9.2009).
Das SG Berlin hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 20.6.2014). Mit Urteil vom 15.3.2018 hat das LSG Berlin-Brandenburg unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide und Änderung des erstinstanzlichen Urteils die Beklagte verpflichtet, den Bescheid vom 1.3.2001 teilweise zurückzunehmen und ab dem 1.11.2007 Verpflegungsgeld für bestimmte Zeiträume zwischen dem 12.4.1968 und 30.6.1990 in einer im Einzelnen ausgewiesenen Höhe und für weitere Zeiträume zwischen dem 1.1.1969 und 31.12.1972 Verpflegungsgeld zu 5/6 als zusätzliches Arbeitsentgelt festzustellen. Für die Zeit vor dem 1.11.2007 hat das LSG die Beklagte verpflichtet, den Kläger hinsichtlich der Rücknahme des Bescheides vom 1.3.2001 unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Soweit die Berufung auf die Feststellung höherer Verpflegungsgelder als Arbeitsentgelt gerichtet gewesen ist, hat das LSG das Rechtsmittel zurückgewiesen.
Zur Begründung hat das Berufungsgericht im Wesentlichen ausgeführt: Das Verpflegungsgeld zähle zum Arbeitsentgelt iS von § 6 Abs 1 Satz 1 AAÜG iVm § 14 SGB IV. Es stelle eine laufende Einnahme aus der Beschäftigung des Klägers bei der Zollverwaltung der DDR dar und sei wie das Gehalt selbst Gegenleistung für die erbrachte Arbeit. Dies ergebe sich aus den Rechtsgrundlagen für die Zahlung des Verpflegungsgeldes, den im Zeitraum 1968 bis 1990 auch für den Kläger geltenden Besoldungsordnungen, und werde zudem gestützt von den Materialien (Beschlussvorlagen vom 12.9.1955 und 13.9.1956) zur Entstehung der Vergütungsordnung des Amtes für Zoll und Kontrolle des Warenverkehrs (AZKW), zum 1.5.1957 in Kraft getreten gemäß Befehl Nr 02/57 des Ministers für Außenhandel und innerdeutschen Handel vom 9.3.1957. Aufgrund der besoldungsrechtlichen Vorschriften der Zollverwaltung stehe auch fest, dass es sich bei dem Verpflegungsgeld nicht um die Entschädigung eines Mehraufwandes gehandelt habe. Ebenso könne ausgeschlossen werden, dass das gezahlte Verpflegungsgeld eine Sozialleistung dargestellt habe, die dem Kläger auch unabhängig vom Bestehen des Dienstverhältnisses gewährt worden wäre. Die Berücksichtigung von Verpflegungsgeld als Arbeitsentgelt sei schließlich nicht auf der Grundlage von § 17 Abs 1 Satz 1 Nr 1 und Satz 2 SGB IV idF des Gesetzes vom 22.12.1983 iVm § 1 Satz 1 ArEV idF der Verordnung vom 12.12.1989 ausgeschlossen. Das Verpflegungsgeld sei unter Zugrundelegung der im Zeitpunkt des Inkrafttretens des AAÜG am 1.8.1991 geltenden Rechtslage nicht lohnsteuerfrei gewesen. Seine Zahlung stelle sich nicht als notwendige Begleiterscheinung betriebsfunktionaler Zielsetzung dar. Dies zeigten insbesondere der Wortlaut und die Entstehungsgeschichte der einschlägigen Vorschriften, die Beschlussvorlage vom 4.2.1957 für das Politbüro über die Vergütungs- und Versorgungsordnung des AZKW, die Vergütungsordnung des AZKW aus dem Jahr 1957 sowie die Dienstanweisung Nr 10/58 vom 20.5.1958.
Die Zahlung des Verpflegungsgeldes für das Jahr 1968 sowie die Jahre 1973 bis 1990 im tenorierten Umfang ergebe sich aus den vorliegenden Besoldungsstammkarten (BSK) in Verbindung mit der von der Beklagten übermittelten Aufstellung über die Zahlung von Verpflegungsgeld. Für die Jahre 1969 bis 1972 sei die Zahlung von Verpflegungsgeld in der tenorierten Höhe lediglich glaubhaft gemacht, sodass es nur zu 5/6 berücksichtigungsfähig sei. Da der Bescheid vom 1.3.2001 von Anfang an teilweise rechtswidrig gewesen sei, habe die Beklagte diesen mit Wirkung für die Zukunft zurücknehmen müssen. Die Entscheidung, den Bescheid auch mit Wirkung für die Vergangenheit aufzuheben, stehe dagegen in ihrem Ermessen.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte in ihrem Schriftsatz vom 23.7.2018 eine Verletzung von § 6 Abs 1 Satz 1 AAÜG iVm § 14 SGB IV. Sie vertritt unter Bezugnahme auf Entscheidungen verschiedener anderer LSGe und des 2. Senats des LSG Berlin-Brandenburg die Auffassung, dass die Verpflegungsgeldzahlungen entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts nicht aus der Beschäftigung erzielt worden seien und keine Gegenleistung für die erbrachte Arbeitsleistung darstellten. Es handele sich vielmehr um arbeitgeberseitige Zahlungen, die sich als notwendige Begleiterscheinung betriebsfunktionaler Zielsetzungen erwiesen. Die Zahlung des Verpflegungsgeldes sei als Surrogat für die ansonsten in den Gemeinschaftsunterkünften oder Wohnheimen bereitgestellte Vollverpflegung der Angehörigen der Zollverwaltung erfolgt. Zweck des Verpflegungsgeldes sei es ausschließlich gewesen, die Funktionsfähigkeit der Zollverwaltung zu gewährleisten und die Erledigung der staatlichen Aufgaben durch die Beschäftigten der Zollverwaltung zu sichern. Eine Entlohnung für geleistete und tatsächlich erbrachte Arbeit sei dagegen nicht Zahlungszweck gewesen. Das Verpflegungsgeld, als Surrogat der Vollverpflegung der kasernierten Beschäftigten, habe den Angehörigen der Zollverwaltung - diesem betriebsfunktionalen Zweck korrespondierend - auch nicht zur freien Verfügung gestanden, sondern sei zwingend und uneingeschränkt für die Durchführung der Vollverpflegung einzusetzen gewesen. Bestätigt werde die mangelnde Arbeitsentgeltqualität des Verpflegungsgeldes dadurch, dass der Anspruch auf Vollverpflegung und Verpflegungsgeld auch an dienstfreien Tagen, an Sonntagen und an Feiertagen bestanden habe und die Zahlung von Verpflegungsgeld nach dem Haushaltsplan der Zollverwaltung nicht aus dem Lohnfonds (Sachkontenklasse 2, Sachkontengruppe 20 ff), sondern aus dem Versorgungs- und Ausgabenfonds (Sachkontenklasse 3, Sachkontengruppe 30 ff) erfolgt sei. Die angegriffene Entscheidung zeige nicht nachvollziehbar auf, wieso sich aus den hier maßgeblichen Verpflegungsordnungen eine andere Zielsetzung ergebe. Nach Ablauf der verlängerten Revisionsbegründungsfrist am 20.8.2018 hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 18.3.2019 die Revision weiter begründet.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 15. März 2018 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 20. Juni 2014 insgesamt zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er rügt sinngemäß, die Beklagte habe die Revision nicht formgerecht begründet. Die Revisionsbegründung setze sich nicht ausreichend mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung auseinander. Sie beschränke sich auf die Aufzählung anderweitiger LSG-Entscheidungen und die Behauptung, diese würden abweichende Regelungen treffen. Im Übrigen sei die angefochtene Entscheidung auch in der Sache zutreffend.
EntscheidungsgründeA. Die Revision der Beklagten ist zulässig.
1. Mit der Rüge, das LSG habe § 6 Abs 1 Satz 1 AAÜG iVm § 14 SGB IV verletzt, indem es den maßgeblichen Verpflegungsordnungen eine fehlerhafte Zweckbestimmung entnommen habe, stützt die Beklagte die Revision entsprechend der Vorgabe des § 162 SGG auf die Verletzung einer Vorschrift des Bundesrechts.
Eine Rechtsverletzung liegt gemäß § 202 SGG iVm § 546 ZPO vor, wenn eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist. Eine unrichtige Rechtsanwendung (vgl hierzu im Einzelnen Beschluss des Senats vom 23.2.2017 - B 5 SF 5/16 AR - juris RdNr 16 ff mwN) kann zunächst darin bestehen, dass die abstrakten Tatbestandsmerkmale einer Norm unzutreffend ausgelegt wurden oder eine anzuwendende Norm übersehen wurde (Interpretationsfehler = Fehler im Obersatz). Fehler können darüber hinaus auch beim Feststellen von Tatsachen unterlaufen (Feststellungsfehler = Fehler im Untersatz; für eine Unterteilung nur in Interpretations- und Subsumtionsfehler etwa BSG Urteil vom 24.2.2016 - B 13 R 31/14 R - SozR 4-1500 § 164 Nr 4 = juris RdNr 14; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 162 RdNr 8 mwN; Ratschow in Gräber, FGO, 9. Aufl 2019, § 118 FGO RdNr 6). Derartige Fehler sind, soweit sie...
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