Urteil Nr. B 5 RS 1/20 R des Bundessozialgericht, 2020-12-09

Judgment Date09 Diciembre 2020
ECLIDE:BSG:2020:091220UB5RS120R0
Judgement NumberB 5 RS 1/20 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 15. Mai 2019 geändert und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Meiningen vom 17. Oktober 2013 insgesamt zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungs- und Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens noch darüber, ob Verpflegungsgeld, das der Kläger während seiner Zugehörigkeit zum Sonderversorgungssystem der Angehörigen der Deutschen Volkspolizei der DDR (Nr 2 der Anl 2 zum AAÜG) erhalten hat, als Arbeitsentgelt festzustellen ist.

Der 1939 geborene Kläger stand ab 9.1.1958 bis 30.9.1990 in einem Dienstverhältnis zur Deutschen Volkspolizei der vormaligen DDR (VP). Der Beklagte stellte für diese Zeit die Zugehörigkeit zum Sonderversorgungssystem Nr 2 der Anl 2 zum AAÜG sowie die in diesem Zeitraum erzielten Jahresbruttoentgelte fest (Bescheid vom 15.10.1998). Dabei berücksichtigte er das erhaltene Verpflegungs- und Bekleidungsgeld nicht. In den Jahren 1982 bis 1990 überschritten die festgestellten Entgelte bereits die Jahreshöchstverdienstgrenzen nach Anl 3 zum AAÜG.

Mit Schreiben vom 18.1.2009 stellte der Kläger unter Verweis auf die Entscheidung des BSG zur Berücksichtigung von Jahresendprämien einen Überprüfungsantrag, mit dem er die Einbeziehung gezahlter "Zuschläge und Abgeltungen" als Arbeitsentgelt begehrte. Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit der Begründung ab, die Entscheidung des BSG sei speziell für die Jahresendprämie ergangen. Für den Bereich der Sonderversorgungssysteme sei nur der Verdienst zu berücksichtigen, der für eine Rentenberechnung von Bedeutung sei (Ablehnungsbescheid vom 5.10.2009). Dies sei bei Verpflegungs- und Bekleidungsgeld nicht der Fall. Nach Untätigkeitsklage erging der Widerspruchsbescheid vom 18.11.2010, in dem der Beklagte den Widerspruch zurückwies. Das Verpflegungsgeld sei kein Arbeitsentgelt iS von § 14 SGB IV gewesen. Es habe keinen Lohn-, sondern Aufwendungsersatzcharakter gehabt.

Mit seiner Klage hat der Kläger beantragt, die Verwaltungsentscheidung des Beklagten aufzuheben und diesen zu verpflichten, den Bescheid vom 15.10.1998 zu ändern und gezahltes Verpflegungs- und Bekleidungsgeld als weitere Arbeitsentgelte festzustellen. Das SG hat die Klage abgewiesen. Das an den Kläger gezahlte Verpflegungs- und Bekleidungsgeld sei kein Arbeitsentgelt iS von § 14 SGB IV. Es sei nicht Sinn und Zweck des AAÜG, vorhandene Privilegien weiter zu manifestieren und Ungleichbehandlungen zugunsten von Sonderversorgungsberechtigten fortzuschreiben. Auch bestimme § 3 Nr 4 Buchst c EStG, dass spezielle Einkünfte von Polizeibeamten steuerfrei sein sollten (Urteil vom 17.10.2013).

Auf die Berufung des Klägers hat das LSG das Urteil des SG teilweise aufgehoben und den Beklagten verpflichtet, das im Zeitraum von 1961 bis 1981 gezahlte Verpflegungsgeld als Arbeitsentgelt iS von § 6 Abs 1 Satz 1 AAÜG iVm § 14 Abs 1 Satz 1 SGB IV festzustellen. Wenn bei Erlass der Vorschriften zum Verpflegungsgeld angeführt worden sei, dass dessen Zahlung notwendig sei, um im Zuge lohnpolitischer Maßnahmen zumindest eine Angleichung der Einkommen der VP-Angehörigen zu denjenigen der Angehörigen anderer bewaffneter Organe herbeizuführen, gehe dies weit über einen betriebsfunktionalen Zusammenhang hinaus. Auch spreche die Höhe des Verpflegungsgelds - gerade im Verhältnis zum Gesamteinkommen - für dessen Einstufung als Arbeitsentgelt. Die Beschäftigten hätten das Verpflegungsgeld tatsächlich in nicht überprüfbarem Rahmen und Maße einsetzen können. Auch sei es auf der Grundlage des am 1.8.1991 geltenden Steuerrechts lohnsteuerpflichtig nach § 19 Abs 1 Satz 1 Nr 1 und Satz 2 EStG gewesen. Hinsichtlich des Bekleidungsgelds hat das LSG die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 15.5.2019).

Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Beklagte eine Verletzung von §§ 6, 8 AAÜG und von § 14 SGB IV. Würde das Verpflegungsgeld als Arbeitsentgelt berücksichtigt, würden Rentenvorteile erworben, die im Versorgungsrecht der DDR nicht begründet worden seien. Bei der Subsumtion unter den Begriff des Arbeitsentgelts müssten Sinn und Zweck einer Leistung nach dem Verständnis der DDR zugrunde gelegt werden. Das LSG habe den Verpflegungsordnungen eine fehlerhafte Zweckbestimmung entnommen. Die Gesamtwürdigung ergebe, dass der mit dem Verpflegungsgeld verfolgte betriebliche Zweck im Vordergrund gestanden habe. Eine Erhöhung der Nettoeinkünfte habe durch die vorrangig kostenfreie Verpflegung nicht erreicht werden sollen. Das Verpflegungsgeld sei das Surrogat für die im Übrigen kostenlose Gemeinschaftsverpflegung gewesen. Gegen eine Einkommenserhöhung spreche auch, dass zeitgleich mit der Einführung des Verpflegungsgelds die Nichtkaserniertenzulage an Wachtmeister sowie die Lohnzuschläge für Offiziere und Wachtmeister abgeschafft worden seien. Die Höhe des Verpflegungsgelds habe den Lebenshaltungskosten für eine gesunde und abwechslungsreiche Ernährung entsprochen, wie sie auch für die Vollverpflegung festgelegt worden sei.

Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 15. Mai 2019 zu ändern und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Meiningen vom 17. Oktober 2013 insgesamt zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,
die Revision des Beklagten zurückzuweisen.

Die angefochtene Entscheidung sei in der Sache zutreffend. Tatsächlich sei die Teilnahme an der Gemeinschaftsverpflegung die große Ausnahme gewesen. Bei Einführung des Verpflegungsgelds seien nur 2,8 % der Angehörigen der VP, in der Zeit von 1960 bis 1990 nur weniger als 5 % kaserniert untergebracht gewesen. In der Regel hätten die Mitarbeiter der VP Verpflegungsgeld erhalten. Das Verpflegungsgeld sei als Nettobetrag ohne Hinweise auf eine zweckgebundene Verwendung ausgezahlt worden und habe zu einer erheblichen Einkommensverbesserung geführt. Die Entscheidung des Senats vom 27.6.2019 (B 5 RS 2/18 R) zum Verpflegungsgeld in der Zollverwaltung könne nicht auf die andersartigen Strukturen der VP übertragen werden.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Beklagten ist auch in der Sache erfolgreich (§ 170 Abs 2 SGG). Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ist das Verpflegungsgeld nicht als Bestandteil des nach § 6 Abs 1 Satz 1 AAÜG festzustellenden Arbeitsentgelts zu berücksichtigen.

A. Die Revision ist zulässig.

Mit der Rüge, das LSG habe §§ 6, 8 AAÜG iVm § 14 SGB IV verletzt, indem es den maßgeblichen Vorschriften der vormaligen DDR zum Verpflegungsgeld eine fehlerhafte Zweckbestimmung entnommen habe, stützt der Beklagte seine Revision entsprechend der Vorgabe des § 162 SGG auf die Verletzung von Vorschriften des Bundesrechts. Dass die Regelwerke der DDR selbst kein Bundesrecht darstellen, ist insoweit unerheblich (vgl BSG Urteil vom 27.6.2019 - B 5 RS 2/18 R - BSGE 128, 219 = SozR 4-8570 § 6 Nr 8, RdNr 20 - in Abgrenzung zu BSG Urteil vom 30.6.1998 - B 4 RA 11/98 R - juris RdNr 12).

Die nach Bundesrecht vorzunehmende Einordnung des Verpflegungsgelds ist auf der Grundlage der Zweckbestimmungen vorzunehmen, die mit diesen Zahlungen nach den einschlägigen Regelungen der ehemaligen DDR verfolgt worden sind (vgl BSG Urteil vom 30.10.2014 - B 5 RS 1/13 R - SozR 4-8570 § 6 Nr 6 RdNr 16). Die Ermittlung dieser Zweckbestimmungen ist Gegenstand der Tatsachenfeststellung des Berufungsgerichts (vgl BSG Urteil vom 27.6.2019 - B 5 RS 2/18 R - BSGE 128, 219 = SozR 4-8570 § 6 Nr 8, RdNr 13); hiergegen gerichtete Angriffe sind im Rahmen der hier erhobenen Sachrüge grundsätzlich unzulässig (vgl § 163 SGG). Diese Beschränkung gilt aber ausnahmsweise dann nicht, wenn die Feststellungen des LSG sog generelle Tatsachen betreffen (vgl BSG Urteil vom 13.12.2005 - B 1 KR 21/04 R - SozR 4-2500 § 18 Nr 5 RdNr 18 mwN). Der Senat hat vor diesem Hintergrund und unter Aufgabe früherer Rechtsprechung entschieden, dass die Besoldungs- und Verpflegungsordnungen der DDR-Zollverwaltung solche generellen Tatsachen darstellen (BSG Urteil vom 27.6.2019 - B 5 RS 2/18 R - aaO RdNr 14 ff). Nichts anderes gilt für die hier maßgeblichen Regelungen zum Verpflegungsgeld im Bereich der VP. Das Revisionsgericht ist daher nicht gehindert, darauf bezogene allgemeine Feststellungen, die der Anwendung des bundesrechtlichen Tatbestandsmerkmals "Arbeitsentgelt" dienen, auf ihre Richtigkeit und Vollständigkeit zu überprüfen (vgl BSG Urteil vom 27.6.2019 - B 5 RS 2/18 R - aaO RdNr 18). Ob die Regelungen nach dem Vorbringen des Beklagten in seiner Revisionsbegründung "legitim zustande kamen", ist in diesem Kontext ohne Belang.

B. Die Revision ist begründet. Das LSG hat zu Unrecht den im Überprüfungsverfahren geltend gemachten Anspruch des Klägers auf Feststellung von Verpflegungsgeld als weiteres Arbeitsentgelt bejaht.

I. Der Kläger begehrt im Wege der Kombination (§ 56 SGG) einer Anfechtungsklage und zweier Verpflichtungsklagen (§ 54 Abs 1 Satz 1 Alt 1 und 3 SGG), die Ablehnungsentscheidung im Bescheid vom 5.10.2009 und den Widerspruchsbescheid vom 18.11.2010 (§ 95 SGG) aufzuheben sowie den Beklagten zu verpflichten, den bindend gewordenen (§ 77 SGG) Verwaltungsakt zur Feststellung der Höchstbeträge seiner Arbeitsentgelte im Bescheid vom 15.10.1998 teilweise zurückzunehmen und anstelle der alten Entgelthöchstbeträge neue Höchstbeträge unter Einbeziehung des Verpflegungsgelds festzusetzen.

1. Die erstrebte Rücknahme richtet sich nach § 44 SGB X, der auch im Rahmen des AAÜG anwendbar ist (§ 8 Abs 3 Satz 2 AAÜG; s auch BSG Urteil vom 27.6.2019 - B 5 RS 2/18 R - BSGE 128, 219 = SozR 4-8570 § 6 Nr 8, RdNr 26 und ausführlich BSG Urteil vom 30.1.1996 - 4 RA 16/95 - BSGE 77, 253, 257 = SozR 3-8570 § 13 Nr 1 S 5). Da sich § 44 Abs 1 SGB X nur auf solche bindenden Verwaltungsakte bezieht, die - anders als die feststellenden Verwaltungsakte im Bescheid vom 15.10.1998 - unmittelbar Ansprüche auf nachträglich erbringbare "Sozialleistungen" (§ 11 Satz 1 SGB I) betreffen (BSG Urteil vom 29.5.1991 - 9a/9 RVs 11/89 - BSGE...

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