Urteil Nr. B 6 KA 4/18 R des Bundessozialgericht, 2019-04-03
Judgment Date | 03 Abril 2019 |
ECLI | DE:BSG:2019:030419UB6KA418R0 |
Judgement Number | B 6 KA 4/18 R |
Court | Der Bundessozialgericht (Deutschland) |
Auch Verfehlungen außerhalb des Kernbereichs der vertrags(zahn)ärztlichen Tätigkeit, die im Zusammenhang mit dem Praxisbetrieb erfolgen (hier: Eingriff in die Privat- und Intimsphäre der Praxismitarbeiterinnen durch Herstellen von Videoaufnahmen im Umkleideraum der Praxis), können eine Zulassungsentziehung rechtfertigen.
TenorDie Revision des Klägers gegen das Urteil des Thüringer Landessozialgerichts vom 20. November 2017 wird zurückgewiesen.
Der Kläger hat auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu tragen mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1. bis 6.
Der Kläger wendet sich gegen die Entziehung seiner Zulassung als Vertragszahnarzt.
Vorwürfe gegen den 1961 geborenen und seit 1986 als Zahnarzt tätigen Kläger, er habe mittels einer im Umkleideraum der Praxis installierten Kamera die Praxismitarbeiterinnen über Jahre ohne deren Wissen während des Umkleidens beobachtet und hiervon Videoaufzeichnungen hergestellt, führten im Frühjahr 2012 zu polizeilichen Ermittlungen. Die auf Grundlage dieser Ermittlungen von der Staatsanwaltschaft G. am 7.3.2013 erstellte Anklageschrift (431 Js 6285/12) führte ua aus:
"Zu einem nicht mehr konkret bestimmbaren Zeitpunkt vor dem 19.12.2007 installierte der Angeschuldigte in seiner Zahnarztpraxis in der C.-Str. in G. eine Überwachungsanlage 4-Kanal-Empfänger VisorTech, um die bei ihm angestellten Zahnarzthelferinnen ohne deren Wissen während des Umkleidens in einem separaten Raum der Praxis zu beobachten bzw. hiervon Videoaufzeichnungen herzustellen. Zu diesem Zweck positionierte er die zur Anlage gehörende Miniatur-Kamera, getarnt in einem Batterieladegerät, so im Umkleideraum, dass der Raum im Ganzen erfasst und aufgezeichnet werden konnte. Mittels Bewegungssensoren wurde die Aufzeichnung bei Bewegung im Raum jeweils automatisch gestartet. Die von der Überwachungskamera aufgenommenen Videosequenzen … wurden von der WLAN-Antenne der Kamera an den im Büro des Angeschuldigten befindlichen WLAN-4-Kanal-Empfänger … gesendet. Die mit diesen Geräten verkabelten, ebenfalls im Büro befindlichen Aufzeichnungsgeräte … zeichneten diese Videosignale in AV-1-Videodateien mit einer Spit-Dauer von jeweils 10 Sekunden auf eine im Gerät befindliche SD-Speicherkarte auf, wonach sie durch den Angeschuldigten zu großen Teilen auf seinen PC umgespeichert wurden. Der Angeschuldigte hatte zudem die Möglichkeit, die Überwachungskamera so einzustellen, dass die Aufnahmen der Mini-Kamera direkt auf dem Bildschirm seines PCs in Echtzeit zu sehen sind. Um die Geschädigten möglichst von vorn und hinten aufnehmen zu können, war im Umkleideraum die Front eines größeren Schrankes verspiegelt worden … .
Während der Taten wurden mehrere Tausend Videodateien, welche jeweils die Zeuginnen … während des Umkleidens in Unterwäsche sowie mit entblößtem Ober- bzw. Unterkörper zeigen, auf das im Büro des Angeschuldigten installierte Aufzeichnungsgerät übertragen. Bei zahlreichen Aufnahmen hatte der Angeschuldigte die Kamera so positioniert, dass insbesondere entweder das Gesäß sowie der Intimbereich oder aber die Brust der Geschädigten großformatig aufgenommen wurden. Im Tatzeitraum kam es zudem mehrfach dazu, dass der Angeschuldigte jeweils eine der Zeuginnen, getarnt als "Spaß", absichtlich unter die Dusche trug und dort naß spritzte, damit er in der Folge wiederum Filmaufnahmen von den Geschädigten während des Umziehens herstellen konnte."
Das Amtsgericht (AG) G. verurteilte den Kläger wegen unbefugten Herstellens oder Übertragens von Bildaufnahmen in 211 tatmehrheitlichen Fällen jeweils in Tateinheit mit Gebrauchen der Aufnahmen (§ 201a StGB) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten ohne Aussetzung der Strafe zur Bewährung (Urteil vom 27.9.2013). Hiergegen legten sowohl der Kläger als auch die Staatsanwaltschaft Berufung ein. Eine weitere Anklage der Staatsanwaltschaft G. vom 5.12.2013 über weitere mehrere Hundert Straftaten nach § 201a StGB ließ das Landgericht (LG) G. zunächst zur Hauptverhandlung zu und eröffnete - neben dem bereits anhängigen Berufungsverfahren - das Hauptverfahren.
Die Verfahren vor dem Arbeitsgericht (ArbG) G., in denen die Mitarbeiterinnen ua die Verurteilung des Klägers zur Zahlung von Schmerzensgeld beantragt hatten, endeten überwiegend durch Vergleiche. Der Kläger gab in den arbeitsgerichtlichen Verfahren zur Begründung seiner Vergleichsbereitschaft ua an: "Die behauptete schwere und unerträgliche Rechtsverletzung erfolgte über einen Zeitraum von sechs Jahren - jedoch nicht ständig - und gemessen an der Beschäftigungsdauer der Einzelnen - nicht für jede in gleicher Weise". Er schlug folgende Präambel für die Vergleiche vor: "Die Parteien gehen davon aus, dass anlässlich des Lebenssachverhaltes, der den Gegenstand des Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft G., Az.: 431 Js 6285/12 bildet, der Beklagte seinen Mitarbeiterinnen Schmerzensgeldbeträge zahlt" und befürwortete außerdem folgende Formulierung: "Die Parteien sind sich einig, dass die Forderungen der (jeweiligen) Klägerin gegen den Beklagten aus einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung stammt, welche Gegenstand des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens der Staatsanwaltschaft G. … gegen den Beklagten ist."
Nach Zustandekommen der arbeitsgerichtlichen Vergleiche nahmen die Mitarbeiterinnen ihre Strafanträge zurück. Daraufhin stellte das LG G. beide (zwischenzeitlich verbundenen) Strafverfahren nach § 206a Abs 1 StPO wegen Eintritts eines Verfahrenshindernisses ein (Beschluss vom 2.5.2014). Aufgrund des Ergebnisses eines im Approbationsverfahren eingeholten amtsärztlichen Gutachtens des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Prof. Dr. D. vom 21.9.2016, welches das Vorliegen von psychischen oder anderen gesundheitlichen Störungen bei dem Kläger verneinte, verzichtete das zuständige Landesverwaltungsamt auf die Anordnung approbationsrechtlicher Maßnahmen (Schreiben vom 25.1.2017).
Auf Antrag der zu 7. beigeladenen Kassenzahnärztlichen Vereinigung (KZÄV) entzog der Zulassungsausschuss (ZA) dem Kläger die Zulassung (Beschluss vom 5.3.2014). Den Widerspruch des Klägers, mit dem er geltend machte, dass nach Einstellung des Verfahrens vor dem LG weder das amtsgerichtliche Urteil noch die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft als Grundlage für seine etwaige Ungeeignetheit zur Ausübung der vertragszahnärztlichen Tätigkeit herangezogen werden dürften und darüber hinaus die ihm zur Last gelegten Taten nicht im Zusammenhang mit der vertragszahnärztlichen Tätigkeit stünden, wies der beklagte Berufungsausschuss (BerA) als unbegründet zurück (Beschluss vom 28.1.2015/Bescheid vom 29.5.2015). Das dem Kläger zur Last gelegte Fehlverhalten stelle eine gröbliche Verletzung seiner vertragszahnärztlichen Pflichten dar, weshalb die Zulassung nach § 95 Abs 6 S 1 SGB V zu entziehen sei.
Das SG hat die gegen die Zulassungsentziehung erhobene Klage abgewiesen (Urteil vom 23.3.2016). Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 20.11.2017). Der Kläger habe gröblich gegen seine vertragszahnärztlichen Pflichten verstoßen, indem er über einen Zeitraum von sechs Jahren wiederholt und in zahlreichen Fällen Videobildaufnahmen von seinen Helferinnen gefertigt habe, als diese sich umgezogen oder in der Dusche gestanden hätten. Dies stelle einen Eingriff in den Schutz der Intim- und Privatsphäre der Mitarbeiterinnen innerhalb des dienstlichen Bereiches und in deren allgemeines Persönlichkeitsrecht dar. Wegen der hohen Bedeutung der geschützten Grundrechte und der durch den technischen Fortschritt gestiegenen Gefahr des Einsatzes vergleichsweise leicht zugänglicher Überwachungsmittel sei es geboten, die Herstellung heimlicher Filmaufnahmen ebenso zu behandeln wie beispielsweise die entwürdigende Behandlung von Untergebenen oder deren sexuelle Belästigung. Es könne dahinstehen, ob der Kläger aus sexuellen Motiven gehandelt habe. Maßgeblich sei vielmehr, dass dieser unter Ausnutzung der Gegebenheiten seiner Praxis und seiner Arbeitgeberstellung als Zahnarzt wiederholt und dauerhaft schwere Eingriffe in die Intimsphäre seiner Mitarbeiterinnen vorgenommen habe. Damit habe er zugleich seine Ungeeignetheit für die Ausübung der vertragszahnärztlichen Tätigkeit iS des § 21 Zulassungsverordnung für Vertragszahnärzte (Zahnärzte-ZV) dokumentiert. Ob und inwieweit die beschlagnahmten Unterlagen aus dem strafrechtlichen Verfahren verwertbar gewesen seien, könne dahinstehen. Denn der Kläger habe die den Vorwurf des Verstoßes gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht tragenden Tatsachen bereits in den arbeitsgerichtlichen Verfahren eingestanden. Auch habe er gegenüber dem Gutachter Prof. Dr. D. die wesentlichen Handlungen eingeräumt. Im Übrigen führe der Einstellungsbeschluss nicht zu einem Verwertungsverbot der einschlägigen Unterlagen. Da der Kläger in dem arbeitsgerichtlichen Verfahren auf die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsergebnisse Bezug genommen und sie in dieses Verfahren eingeführt habe, könnten diese Äußerungen im Rahmen der Beweiswürdigung berücksichtigt werden. Die Zulassungsentziehung sei im Hinblick auf die begangenen Pflichtverletzungen auch angemessen und verhältnismäßig.
Mit seiner Revision macht der Kläger geltend, das LSG habe den Untersuchungsgrundsatz verletzt. Das amtsgerichtliche Strafurteil sei aufgehoben und entfalte somit für das Zulassungsentziehungsverfahren keine Tatbestandswirkung. Dies gelte ebenso für die polizeilichen Vernehmungen und Maßnahmen der Staatsanwaltschaft. Dementsprechend hätten die Vorinstanzen eigene Feststellungen treffen müssen, was jedoch unterblieben sei. Die Formulierungen aus den arbeitsgerichtlichen Vergleichen ersetzten diese fehlenden Feststellungen nicht. Eine gröbliche Pflichtverletzung oder eine Ungeeignetheit zur Ausübung der vertragszahnärztlichen Tätigkeit seien zu verneinen. Soweit das LSG sein Verhalten mit dem...
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