Urteil Nr. B 6 KA 31/17 R des Bundessozialgericht, 2018-03-21
Judgment Date | 21 Marzo 2018 |
ECLI | DE:BSG:2018:210318UB6KA3117R0 |
Judgement Number | B 6 KA 31/17 R |
Court | Der Bundessozialgericht (Deutschland) |
1. Die Krankenkassen und ihre Verbände können durch Verträge mit den Kassenärztlichen Vereinigungen die Versorgung der Versicherten mit Impfleistungen in den Strukturen des vertragsärztlichen Versorgungssystems regeln, obwohl der Sicherstellungsauftrag für die Versorgung mit Impfleistungen seit dem 1.4.2007 bei den Krankenkassen und nicht bei den Kassenärztlichen Vereinigungen liegt.
2. Die Rechtmäßigkeit eines Regresses wegen der Verordnung von Impfstoff, der tatsächlich wegen fehlender Nachfrage der Versicherten nicht genutzt worden ist, hängt auch davon ab, ob der Vertragsarzt zum Zeitpunkt der Verordnung die ihm möglichen Sicherungen zur Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots getroffen hat.
TenorAuf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 7. März 2017 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Umstritten ist ein Regress wegen unwirtschaftlich verordneter Impfstoffe in der Impfsaison 2006/2007 in Höhe von insgesamt 1908 Euro.
Die Klägerin ist eine aus zwei Ärzten bestehende Berufsausübungsgemeinschaft (BAG) im Bezirk der zu 5. beigeladenen KÄV. In der Impfsaison 2005/2006 hatte die Klägerin zu Lasten der Krankenkassen insgesamt 286 Grippeschutzimpfungen abgerechnet. Im Quartal III/2006 bestellte sie zunächst - orientiert an den Zahlen der Vorsaison - 250 Ampullen des Grippeimpfstoffs auf der Grundlage einer Verordnung vom 28.9.2006. Wegen der besonders großen Nachfrage gesetzlich versicherter Patienten nach Impfleistungen im Herbst 2006 waren diese im Oktober 2006 verbraucht bzw für konkret benannte Patienten reserviert. Um der weiteren Nachfrage nach Grippeschutzimpfungen Rechnung zu tragen, bestellte die Klägerin im Oktober 2006 300 Ampullen des Grippeimpfstoffs nach, die erst kurz vor Weihnachten geliefert wurden. Die Verordnung datiert vom 27.12.2006. Die große zeitliche Verzögerung zwischen der Nachbestellung im Oktober 2006 und der Lieferung der zusätzlich bestellten Ampullen mit Impfstoff im Dezember 2006 führte die Klägerin auf Lieferschwierigkeiten des Herstellers sowie darauf zurück, dass eine zunächst gelieferte Charge unbrauchbar war. Da das Interesse der Patienten an der Durchführung einer Grippeschutzimpfung um den Jahreswechsel 2006/2007 deutlich abnahm, konnten viele der Ende 2006 gelieferten zusätzlichen Impfstoffe tatsächlich nicht verimpft werden. Die Praxis der Klägerin gab einen kleinen Teil an eine andere Praxis auf der Insel F. ab; 250 Ampullen mussten im Februar 2007 vernichtet werden.
Unter dem 19.9.2007 beantragten die zu 1. bis 4. und 6. beigeladenen Krankenkassenverbände bei der Gemeinsamen Prüfeinrichtung der Vertragsärzte und Krankenkassen in Schleswig-Holstein (Prüfungsstelle) die Festsetzung eines Schadens im Einzelfall nach § 10 Abs 2 der Prüfvereinbarung vom 5.1.2006. Ob der Prüfantrag nur für das Quartal IV/2006 oder auch für das Quartal I/2007 gestellt worden ist bzw wie insoweit der Antrag zu verstehen war, ist zwischen den Beteiligten umstritten.
Mit Bescheid vom 12.9.2008 setzte die Prüfungsstelle einen Schadensersatz in Höhe von 1908 Euro gegen die Klägerin fest. Sie begründete dies damit, dass die Klägerin tatsächlich in der Impfsaison 2006/2007 nur 217 Grippeschutzimpfungen durchgeführt habe. Unter Berücksichtigung eines Aufschlags von 10 % und der Weitergabe nicht verimpfter Ampullen an eine andere Praxis sei für 200 unnötig verordnete Impfdosen Schadensersatz zu leisten.
Sowohl die Klägerin wie die zu 5. beigeladene KÄV legten gegen diese Entscheidung Widerspruch ein. Die KÄV machte geltend, dass Impfstoffe nicht unter die Prüfvereinbarung fielen und auch über § 6 der Impfvereinbarung iVm § 48 Bundesmantelvertrag Ärzte (BMV-Ä) kein Schadensersatz festgesetzt werden könne. Im Übrigen sei zu Beginn der Grippesaison 2006/2007 eine Charge Impfstoff ausgefallen, sodass zunächst nicht genügend Impfstoff vorhanden gewesen sei. Der Umstand, dass Patienten, die zu Beginn der Impfsaison Interesse bekundet hatten, dann nicht erneut in der Praxis erschienen seien, als der Impfstoff zu Beginn des Jahres 2007 verfügbar gewesen sei, könne nicht den Vertragsärzten angelastet werden.
Mit Beschluss vom 15.6.2011 - Bescheid vom 2.11.2011 - wies der beklagte Beschwerdeausschuss nach Neuberechnung der Höhe des Schadensersatzes die Widersprüche zurück. Das SG hat auf die Klage der Klägerin den Bescheid des Beklagten aufgehoben und diesen zur Neubescheidung verpflichtet. Der Prüfantrag sei ausweislich der Betreffzeile ausdrücklich nur für das Quartal IV/2006 wirksam gestellt worden und erfasse nicht später ausgestellte Verordnungen.
Auf die Berufung des Beklagten hat das LSG das sozialgerichtliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 7.3.2017).
Das LSG hat seine Entscheidung damit begründet, dass der gegen die Klägerin festgesetzte Regress eine hinreichende Rechtsgrundlage in § 10 Abs 2 der seit dem 1.1.2006 geltenden Prüfvereinbarung finde, die wiederum auf der gesetzlichen Ermächtigung des § 106 Abs 2 S 4 SGB V in der seit 2004 geltenden Fassung beruhe. Da § 6 der Impfvereinbarung im Bezirk der zu 5. beigeladenen KÄV auf das Regressverfahren nach § 48 BMV-Ä verweise, wo wiederum die Zuständigkeit der Prüfgremien auch für Verordnungsregresse festgeschrieben sei, seien die Prüfgremien berechtigt, auch im Bereich der Versorgung mit Impfstoffen unwirtschaftliches Verhalten von Vertragsärzten zu sanktionieren. Ob Schutzimpfungen nach § 20d SGB V (heute § 20i SGB V) Gegenstand der vertragsärztlichen Versorgung seien, könne offenbleiben, weil die Vorschrift des § 20d SGB V erst zum 1.4.2007 in Kraft getreten sei und hier die Quartale III/2006 bis I/2007 betroffen seien.
Im Einzelnen griffen die von der Klägerin und vom SG erhobenen Bedenken gegen die angefochtene Entscheidung des Beklagten nicht durch. In Verbindung mit den dem Prüfantrag beigefügten Verordnungsblättern sei von Anfang an klar gewesen, dass die Krankenkassenverbände die Verordnung von Impfstoffen für die gesamte Impfsaison 2006/2007 in die Prüfung einbeziehen wollten und sich nicht nur auf das in der Betreffzeile angegebene Quartal "IV/06" beschränkt hätten. Hinsichtlich der Höhe des Regresses habe der Beklagte von seinem Ermessen keinen sachwidrigen Gebrauch gemacht. Der Vertragsarzt habe sich bei der Anforderung von Impfstoffen an dem Vorjahresverbrauch zu orientieren. Mit der eingeräumten Toleranz von 10 % sei den möglichen Schwankungen bei der Nachfrage der Patienten hinreichend Rechnung getragen worden. Dem Vorbringen der Klägerin im Hinblick auf die im Herbst 2006 aufkommende Diskussion über die Grippeschutzimpfung und deren Verbindung mit möglichen Impfungen gegen die aus Asien importierte Vogelgrippe habe nicht weiter nachgegangen werden müssen. Zwischen beiden Grippearten bestehe kein Zusammenhang; es sei Aufgabe der Vertragsärzte gewesen, den Patienten diesen Sachverhalt zu erklären und nicht auf panikartig geäußerte allgemeine Impfwünsche mit der Bestellung von Impfampullen zu Lasten der Krankenkassen zu reagieren.
Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 106 Abs 2 SGB V. Zunächst ist sie der Auffassung, § 106 SGB V iVm der Prüfvereinbarung könne schon keine Zuständigkeit der Prüfungsstelle bzw des beklagten Beschwerdeausschusses begründen, weil Schutzimpfungen nicht mehr Gegenstand der Sicherstellungspflicht der KÄV seien und deshalb nicht zur vertragsärztlichen Versorgung gehörten. Im Übrigen seien Impfstoffe nach der Rechtsprechung des BSG zu den empfängnisverhütenden Mitteln schon keine Arzneimittel iS des § 31 SGB V, sodass alle Vorschriften im Rahmen der vertragsärztlichen Wirtschaftlichkeitsprüfung, die sich auf Arzneimittel beziehen, bei Impfstoffen von vornherein nicht zur Anwendung kommen könnten. Nach dem zum Zeitpunkt der Verordnung der Impfstoffe maßgeblichen Recht (§ 23 Abs 9 SGB V aF) sei die Grippeschutzimpfung eine Satzungsleistung der Krankenkassen gewesen. Schon unter diesem Aspekt könne der Bezug von Impfstoffen durch den Vertragsarzt keine Verordnung eines Arzneimittels iS des § 73 Abs 2 Nr 7 SGB V darstellen. Eine Satzungsleistung der Krankenkasse könne entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts von vornherein nicht der gesetzlichen Wirtschaftlichkeitsprüfung nach § 106 SGB V unterfallen. Auch nach der Sprechstundenbedarfsvereinbarung zwischen den Beigeladenen zu 1. bis 4. und 6. auf der einen sowie der Beigeladenen zu 5. auf der anderen Seite ergebe sich keine Berechtigung des Vertragsarztes, Impfstoffe als Sprechstundenbedarf im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung zu verordnen.
Im Übrigen könne dem LSG nicht dahin gefolgt werden, dass sich der Prüfantrag über das Quartal IV/2006 hinaus erstrecken sollte. Die Quartale III/2006 und I/2007 seien deshalb von vornherein außerhalb der Prüfzuständigkeit des Beklagten gewesen. Die Klägerin habe im Hinblick auf den Prüfantrag nur für das Quartal IV/2006 nicht wissen oder damit rechnen können, dass dieser alle Impfverordnungen in der Impfsaison 2006/2007 umfassen würde.
Schließlich stelle es einen unzumutbaren Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit der Klägerin (Art 12 Abs 1 GG) dar, wenn dieser das gesamte Risiko dafür aufgebürdet werde, dass sie auf einen explizit artikulierten Bedarf ihrer Patienten nach Durchführung von Grippeschutzimpfungen Ende 2006 mit der Bestellung von Impfstoffen reagiert habe. Sie - die Klägerin - habe auf den mit der...
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