Urteil Nr. B 6 KA 9/19 R des Bundessozialgericht, 2019-12-11

Judgment Date11 Diciembre 2019
ECLIDE:BSG:2019:111219UB6KA919R0
Judgement NumberB 6 KA 9/19 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Kassenärztliche Vereinigung Hessen - Erweiterte Honorarverteilung - Einführung eines Systems von Beitragsklassen zur Ermittlung der Umlage - Einhaltung des Gestaltungsspielraums - Reduzierung des Beitrags zum Versorgungswerk der hessischen Ärztekammer bei Entrichtung der Beiträge zum Versorgungswerk einer anderen Ärztekammer
Leitsätze

1. Mit der Einführung eines Systems von Beitragsklassen zur Ermittlung der Umlage der Vertragsärzte für die Erweiterte Honorarverteilung (EHV) in den Jahren 2010 bis 2016 hat die Kassenärztliche Vereinigung Hessen ihren Gestaltungsspielraum als Normgeber eingehalten.

2. Soweit die normativen "Grundsätze für die Erweiterte Honorarverteilung" allein deshalb rechtswidrig sind, weil besondere Kostenbelastungen einzelner Arztgruppen nicht berücksichtigt werden können, führt das nicht zur Rechtswidrigkeit der Bescheide über die Höhe der Umlage gegenüber Ärzten, deren Kostenbelastung allenfalls durchschnittlich ist.

3. Ärzten, die in Hessen an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen und deshalb eine Umlage zur EHV leisten, muss auch dann ermöglicht werden, ihren Beitrag zum Versorgungswerk der Ärztekammer entsprechend der Regelung der Versorgungsordnung der hessischen Ärztekammer zu reduzieren, wenn sie Beiträge zum Versorgungswerk einer anderen Ärztekammer entrichten.

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 27. Februar 2019 sowie des Sozialgerichts Marburg vom 10. Dezember 2014 vollständig aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

Die Revision der Klägerin wird zurückgewiesen.

Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits für alle Rechtszüge zu tragen.

Tatbestand

Umstritten ist die Höhe des Abzugs vom vertragsärztlichen Honorar, den die Klägerin in der Zeit vom 1.7.2012 bis zum 30.6.2013 für die Zwecke der Erweiterten Honorarverteilung (EHV) hinzunehmen hat. Vornehmlich streiten die Beteiligten darüber, ob der Beitrag der Klägerin für die EHV der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) richtig berechnet und die Klägerin in die zutreffende Beitragsklasse eingestuft worden ist.

Die Klägerin ist seit dem 2.5.2001 als Ärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie zur vertragsärztlichen Versorgung mit Praxissitz in K. zugelassen. Die Beklagte stufte sie mit Bescheid vom 31.8.2012 für den Zeitraum vom 1.7.2012 bis zum 30.6.2013 in die Beitragsklasse 2 ein und setzte die Umlage der Klägerin für die EHV je Quartal auf 1254 Euro und für den streitbefangenen Zeitraum auf 5016 Euro fest.

Als einzige KÄV in der Bundesrepublik Deutschland gewährleistet die Beklagte im Wege der EHV in begrenztem Umfang auch die Versorgung ehemaliger Vertragsärzte und ihrer Hinterbliebenen. In Hessen wird die Altersversorgung der Vertragsärzte - anders als in allen anderen KÄV-Bezirken - sowohl über das Versorgungswerk der Landesärztekammer Hessen als auch über die KÄV sichergestellt. Nach § 8 des Gesetzes über die KÄV und KZÄV Hessen (KVHG - vom 22.12.1953, GVBl für das Land Hessen S 206; in der Neufassung durch das Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die KÄV und KZÄV Hessen vom 14.12.2009, GVBl für das Land Hessen I S 662) sorgt die KÄV Hessen "im Rahmen ihrer Satzung für eine wirtschaftliche Sicherung der invaliden und alten Vertragsärztinnen oder Vertragsärzte und Hinterbliebenen von Vertragsärztinnen oder Vertragsärzten. Diese Sicherung kann auch durch besondere Honorarverteilungsgrundsätze geregelt werden". Bundesgesetzliche Grundlage für die landesrechtliche Vorschrift des § 8 KVHG ist die nach wie vor geltende Regelung des Art 4 § 1 Abs 2 Satz 2 des Gesetzes über das Kassenarztrecht (GKAR) vom 17.8.1955 (BGBl I 513). Danach bleiben die landesrechtlichen Regelungen über die "Altersversorgung der Kassenärzte" unberührt. Diese Vorschrift schützt die bei Inkrafttreten dieses Gesetzes bereits bestehenden Versorgungseinrichtungen von Vertragsärzten.

Satzungsrechtliche Grundlage der auf § 8 Abs 1 Satz 2 KVHG beruhenden EHV sind die "Grundsätze der erweiterten Honorarverteilung (GEHV)", die die Vertreterversammlung (VV) der beklagten KÄV beschließt. Diese waren bereits wiederholt Gegenstand der Rechtsprechung des Senats (Urteil vom 24.10.1984 - 6 RKa 25/83 - USK 84267; Urteil vom 9.12.2004 - B 6 KA 44/03 R - BSGE 94, 50 = SozR 4-2500 § 72 Nr 2; Urteil vom 16.7.2008 - B 6 KA 38/07 R - BSGE 101, 106 = SozR 4-2500 § 85 Nr 43; Urteil vom 19.2.2014 - B 6 KA 10/13 R - SozR 4-2500 § 85 Nr 79; Urteil vom 12.12.2018 - B 6 KA 53/17 R - zur Veröffentlichung in SozR 4-2500 § 87b Nr 19 vorgesehen).

In der Vergangenheit und wieder ab dem 1.1.2017 wurde bzw wird der für die Leistungen aus der EHV an die früheren Vertragsärzte erforderliche Finanzbedarf durch eine Umlage der Vertragsärzte aufgebracht, die sich nach einem variablen Vomhundertsatz des über die Beklagte abgerechneten Umsatzes aus der vertragsärztlichen Tätigkeit ergibt. Der Vomhundertsatz hat sich jahrelang um 5 % bewegt und ist 2019 auf 6,92 % angestiegen. Für die Zeit vom 1.7.2012 bis zum 31.12.2016 hat die Beklagte das System eines prozentualen Abzugs vom Umsatz durch ein System von neun Beitragsklassen ersetzt. Die Einstufung in eine der Beitragsklassen erfolgt nach dem Verhältnis zwischen dem Umsatz des einzelnen Arztes zum Durchschnittsumsatz der hessischen Vertragsärzte, der sich im für den hier streitbefangenen Zeitraum maßgeblichen Referenzjahr 2010 auf ca 205 389 Euro und im Quartalsdurchschnitt auf ca 51 347 Euro belief. Der Honorarumsatz der Klägerin betrug im Jahr 2010 ca 56 591 Euro, was 27,55 % des Durchschnitts entsprach und zu einer Einstufung in die Beitragsklasse 2 führte; diese erfasst Ärzte, deren Umsatz sich oberhalb von 25 % und unterhalb von 50 % des Durchschnittsumsatzes bewegt. Der Beitrag in Klasse 2 betrugt 1254 Euro im Quartal und 5016 Euro im Jahr. Damit erlangte der Arzt im Jahr eine Gutschrift von 200 Punkten für die EHV. Mit dieser Punktzahl würde ein Arzt theoretisch nach 70 Jahren die Höchstpunktzahl von 14 000 erreichen. Diese führte 2015/2016 zu einer monatlichen Zahlung aus der EHV von ca 2753 Euro an einen Vertragsarzt im Ruhestand (vgl Urteil vom 12.12.2018 - B 6 KA 53/17 R - SozR 4-2500 § 87b Nr 19 RdNr 5).

Mit ihrem Widerspruch machte die Klägerin geltend, die Belastung mit Beiträgen für ihre Absicherung im Falle der Invalidität und des Alters durch die KÄV bedeuteten im Hinblick auf die Beiträge von ca 1850 Euro an das Versorgungswerk und von ca 1660 Euro an die Krankenkasse (jeweils im Quartal 3/2012) eine unzumutbare Härte. Die Beklagte wies den Widerspruch unter Hinweis auf die Systematik der GEHV und deren - von der Klägerin nicht in Frage gestellte - korrekte Anwendung zurück.

Das SG hat der Klage nur teilweise stattgeben. Den Hauptantrag der Klägerin auf Feststellung, dass sie nicht gehalten sei, Beiträge zu Gunsten der EHV zu leisten, hat es abgewiesen. Die Beklagte sei aber verpflichtet, über die Eingruppierung der Klägerin und die Festsetzung des Jahresbeitrags zur EHV unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden. Die grobe Einteilung der Beitragsklassen verstoße gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art 3 Abs 1 GG. Es bestünden zwar aufgrund der Einteilung in die neun Beitragsklassen keine Bedenken gegen die Einhaltung des Äquivalenzprinzips. Der Gleichheitssatz sei aber gleichwohl verletzt, weil die Ärzte, die in die unteren Beitragsklassen eingestuft seien, für den Aufbau einer Anwartschaft mehr Anteile ihres Honorars aufwenden müssten als Ärzte in höheren Beitragsklassen. Der Beitrag der Klägerin sei im Zuge des Systems der Beitragsklassen gegenüber dem noch für 2011 maßgeblichen Betrag massiv um 56,4 % und in Bezug auf den Umsatz von 5 % auf 8,9 % gestiegen. Das gehe weit über die Umsatzanteile hinaus, die bisher im Rahmen des Umlagesystems für die EHV aufzuwenden gewesen seien.

Das LSG hat durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Die Klägerin, die ihrerseits zunächst selbst Berufung eingelegt hatte, hat ihre Berufung vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung zurückgenommen. Das LSG hat seine Entscheidung allein mit der Erwägung begründet, § 3 Abs 1 GEHV biete derzeit keine Grundlage für die Festsetzung der Umlage für die Zwecke der EHV. Die Norm ermögliche keine angemessene Berücksichtigung von besonders hohen Kosten für einzelne Arztgruppen und bestimmte ärztliche Leistungen. Zwar sei die Klägerin grundsätzlich verpflichtet, Abzüge für die EHV hinzunehmen, und auch das Beitragsklassensystem sei - soweit es auf die Klägerin anzuwenden sei - mit höherrangigem Recht vereinbar. Die Klägerin könne jedoch nur auf der Basis einer insgesamt verfassungskonformen Rechtslage zur Duldung von Honorarabzügen für die EHV verpflichtet werden. Dies gewährleiste § 3 Abs 1 Satz 1 GEHV im Hinblick auf die fehlende Berücksichtigung besonderer Kosten nicht. Dass sich das auf die Klägerin als Ärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie nicht auswirke, sei ohne Bedeutung (Urteil vom 27.2.2019).

Beide Beteiligte greifen das Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision an.

Die Beklagte ist der Auffassung, sie sei nicht verpflichtet, bei Ermittlung des für die EHV relevanten vertragsärztlichen Umsatzes Sachkosten vom Bruttoumsatz abzuziehen und die Unterschiede bei den Kostenanteilen der Praxen und insbesondere der Arztgruppen zu berücksichtigen. Soweit die Klägerin mit ihrer Revision im Anschluss an die Auffassung des SG die Billigung der Beitragsklassensystematik durch das LSG in Frage stelle, könne dem nicht gefolgt werden.

Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Hessischen LSG vom 27.2.2019 und des SG Marburg vom 10.12.2014 aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen und die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Hessischen LSG vom 27.2.2019 und...

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