Urteil Nr. B 6 KA 5/22 R des Bundessozialgericht, 2023-07-19
Judgment Date | 19 Julio 2023 |
ECLI | DE:BSG:2023:190723UB6KA5222R0 |
Judgement Number | B 6 KA 5/22 R |
Court | Der Bundessozialgericht (Deutschland) |
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 18. November 2020 aufgehoben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Schwerin vom 10. Januar 2018 zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits in allen Rechtszügen mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer Zulassungsentziehung.
Die klagende Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) ist Trägerin eines seit April 2011 am Standort R zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Medizinischen Versorgungszentrums (MVZ) mit zwei angestellten Ärzten, einem Facharzt für Laboratoriumsmedizin/Facharzt für Pharmakologie und Toxikologie (J) und einem Facharzt für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie (S). Beide Ärzte waren fachbezogen als ärztliche Leiter des MVZ bestellt. Mit Wirkung vom 1.12.2012 reduzierten sie ihre Arbeitszeit von ursprünglich 40 auf zwölf Wochenstunden. Seit dem 1.1.2013 waren beide Ärzte außerdem im Umfang von jeweils 31 Stunden wöchentlich im MVZ N als angestellte Ärzte vertragsärztlich tätig.
Trotz der Reduzierung der Arbeitszeiten veränderten sich die vom MVZ abgerechneten Fallzahlen zunächst nicht. In den Quartalen 1/2012 bis 2/2013 rechnete das MVZ durchschnittlich 8121 Fälle pro Quartal ab. Im Quartal 3/2013 reduzierten sich die Fallzahlen dann auf 679 Fälle, im Quartal 4/2013 wurden keine Fälle und in den nachfolgenden Quartalen lediglich vereinzelt Fälle abgerechnet, alle ausschließlich von J.
Nachdem der Zulassungsausschuss für Ärzte in Mecklenburg-Vorpommern (im Folgenden: Zulassungsausschuss) im Februar 2014 erfuhr, dass die Laborräume des MVZ seit einem halben Jahr leergezogen seien, hörte er die Klägerin zu einer möglichen Zulassungsentziehung wegen Nichtausübung der vertragsärztlichen Tätigkeit an. Die Klägerin beantragte hierauf am 5.3.2014, ihr die Verlegung des Vertragsarztsitzes mit Wirkung vom 3.4.2014 nach G zu genehmigen. Eine Verlegung des Sitzes nach G sei bereits zum Oktober 2013 geplant gewesen. Die Gespräche mit den Verantwortlichen des Klinikums G bezüglich der Mitnutzung des Labors in G hätten sich jedoch länger als erwartet hingezogen. Eine Vertragsunterzeichnung sei letztendlich erst im Februar 2014 erfolgt. Sie könne nunmehr jederzeit den Sitz nach G verlegen.
Der Zulassungsausschuss entzog dem MVZ der Klägerin mit Wirkung vom 3.7.2014 die Zulassung (Beschluss vom 2.7.2014; Bescheid vom 18.7.2014). Das MVZ habe seine vertragsärztliche Tätigkeit seit neun Monaten nicht ausgeübt. Eine beabsichtigte Praxisverlegung oder Schwierigkeiten bei den Vertragsverhandlungen rechtfertigten nicht die Einstellung der vertragsärztlichen Tätigkeit. Ein Antrag auf Ruhen sei nicht gestellt worden. Auf Nachfrage der Klägerin teilte der Zulassungsausschuss im Übrigen mit, eine gesonderte Entscheidung über die Sitzverlegung sei nicht erforderlich gewesen, da sowohl zum Zeitpunkt der Antragstellung auf Sitzverlegung als auch zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Zulassungsentziehung in R keine funktionsfähige Laborpraxis mehr bestanden habe.
Der Widerspruch der Klägerin blieb ohne Erfolg. Der Berufungsausschuss lehnte den Sitzverlegungsantrag ab und entzog dem MVZ die Zulassung (Beschluss vom 19.11.2014; Bescheid vom 19.12.2014). Das MVZ habe seine vertragsärztliche Tätigkeit mindestens seit dem Quartal 4/2013 nicht mehr ausgeübt. Die Abrechnung von 5, 6 und 7 Fällen in den Quartalen 1/2014 bis 3/2014 stelle keine relevante Ausübung der vertragsärztlichen Tätigkeit dar und sei darüber hinaus nur von einem der beiden Ärzte des MVZ erfolgt. Es sei daher auch länger als sechs Monate keine fachübergreifende Tätigkeit mehr ausgeübt worden. Die Anordnung des Ruhens der Zulassung als minderer Eingriff komme nicht in Betracht, da das MVZ die vertragsärztliche Tätigkeit an seinem Vertragsarztsitz in R nicht wieder aufnehmen wolle; die Absicht, diese zu irgendeiner Zeit an einem anderen Ort wieder aufzunehmen, reiche nicht aus. Dem Antrag auf Sitzverlegung habe nicht entsprochen werden können, da hierfür Voraussetzung sei, dass die ärztliche Tätigkeit noch im erforderlichen Umfang ausgeübt werde und nicht die Voraussetzungen für eine Zulassungsentziehung gegeben seien.
Das SG hat den Bescheid vom 19.12.2014 (Beschluss vom 19.11.2014) aufgehoben und den Beklagten verurteilt, über den Verlegungsantrag der Klägerin erneut zu entscheiden (Urteil vom 10.1.2018). Die Zulassungsentziehung sei unverhältnismäßig, da die Voraussetzungen für die Anordnung des Ruhens des Verfahrens - zunächst für die Zeit der Entscheidung über den Verlegungsantrag - vorgelegen hätten. Die Ruhensanordnung setze lediglich voraus, dass die Aufnahme der Tätigkeit in angemessener Frist zu erwarten sei. Dass dies in jedem Fall am bisherigen Vertragsarztsitz zu erfolgen habe, verlange das Gesetz nicht. Mit der Zulassung sei vielmehr das Recht des Vertragsarztes verbunden, eine Verlegung des Vertragsarztsitzes zu erwirken. Auch sehe das Gesetz keinen Katalog zulässiger Gründe für ein Ruhen der Zulassung vor.
Auf die Berufung des Beklagten hat das LSG das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 18.11.2020). Der Beklagte habe der Klägerin die Zulassung entziehen dürfen, da diese ihre vertragsärztliche Tätigkeit nicht mehr ausgeübt habe und darüber hinaus die Gründungsvoraussetzungen des MVZ über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten weggefallen seien. Die Zulassungsentziehung sei auch nicht aus dem Grunde rechtswidrig, weil als milderes Mittel ein Ruhen der Zulassung ausreichend und daher vorrangig auszusprechen gewesen wäre. Für die insoweit erforderliche positive Prognoseentscheidung, die Klägerin werde ihre vertragsärztliche Tätigkeit in naher Zukunft wiederaufnehmen, habe es im hier maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung auch unter Berücksichtigung des Sitzverlegungsantrags an jeglicher Tatsachengrundlage gefehlt. Der Antrag sei offensichtlich als Reaktion auf die Ankündigung der Zulassungsentziehung gestellt worden, sodass sich gesteigerte Anforderungen an die Plausibilität, Schlüssigkeit und Überzeugungskraft der klägerischen Darlegungen ergäben. Die wenigen konkreten Angaben der Klägerin, die der Beklagte seinerzeit seiner Prognoseentscheidung hätte zugrunde legen können, erschienen wenig überzeugend. Insbesondere seien von der Klägerin bis zur Entscheidung des Beklagten keine bestätigenden Nachweise wie zB Mietverträge zu den Akten gereicht worden. Die Ablehnung des Antrags auf Sitzverlegung sei ebenfalls nicht zu beanstanden. Dieser habe sich mit der Entziehung der Zulassung erledigt.
Die Klägerin rügt mit ihrer Revision eine Verletzung von § 95 Abs 6 Satz 1 SGB V in Verbindung mit § 27 Satz 1 der Zulassungsverordnung für Vertragsärzte (Ärzte-ZV), § 95 Abs 5 Satz 1 SGB V, § 24 Abs 7 Satz 1 Ärzte-ZV sowie § 103 Satz 1 SGG und § 95 in Verbindung mit § 128 SGG.
Das LSG habe die Voraussetzungen für die Genehmigung eines Sitzverlegungsantrags nach § 24 Abs 7 Ärzte-ZV verkannt. Stünden dem Verlegungsantrag - wie hier - keine planerischen, die Sicherstellung der Versorgung betreffenden Gründe entgegen, bestehe ein Anspruch auf Erteilung der Genehmigung. Kein solcher Grund sei der Umstand, dass der Klägerin in nicht bestandskräftiger Weise die Zulassung entzogen worden sei oder (vermeintlich) ein Zulassungsentziehungsgrund existiere. Vielmehr sei nach der Rechtsprechung des BSG zwischen diesen beiden Verfahren zu differenzieren (Hinweis auf BSG Urteil vom 10.5.2000 - B 6 KA 67/98 R - BSGE 86, 121 = SozR 3-5520 § 24 Nr 4 = juris RdNr 27).
Ferner habe das LSG das Tatbestandsmerkmal der Nichtausübung der vertragsärztlichen Tätigkeit (§ 95 Abs 6 Satz 1 iVm § 27 Satz 1 Ärzte-ZV) fehlerhaft ausgelegt. Der von der Rechtsprechung für die Ausübung der vertragsärztlichen Tätigkeit verlangte Wille zur kontinuierlichen Teilnahme an der Versorgung (Hinweis auf BSG Urteil vom 19.12.1984 - 6 RKa 34/83 - USK 84272 = juris RdNr 10) könne auch durch die Wahrnehmung vertragsärztlicher Rechte (Verlegungsantrag) bzw durch faktisches Verhalten dokumentiert werden. Bei Zweifeln an der Plausibilität, Schlüssigkeit oder Glaubhaftigkeit des Antrags hätte der Beklagte den Sachverhalt von Amts wegen ermitteln müssen. Dem MVZ der Klägerin könne auch nicht der Charakter einer fachübergreifenden Einrichtung abgesprochen werden. Hierfür genüge es nach der Rechtsprechung des Senats, wenn für jedes Fachgebiet eine halbe Arztstelle zur Verfügung stehe, was gemäß § 51 Abs 1 der Bedarfsplanungs-Richtlinie bei einem Tätigkeitsumfang von zwölf Wochenstunden gegeben sei. Ein solcher Tätigkeitsumfang sei auch für die ärztliche Leitung des MVZ ausreichend. Zu Unrecht habe das LSG zudem im Rahmen der Prüfung, ob die Aufnahme der Tätigkeit in angemessener Frist zu erwarten sei, eine eigene Prognoseentscheidung getroffen, obgleich dem Beklagten diesbezüglich ein Beurteilungsspielraum zukomme. Indem das Berufungsgericht bei der Prognoseentscheidung nur den zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung bekannten Sachvortrag und Akteninhalt zugrunde gelegt habe, habe es zugleich den Amtsermittlungsgrundsatz verletzt (§ 103 Satz 1 SGG). Des Weiteren habe das LSG den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 62 iVm § 128 SGG) verletzt, soweit es Zweifel an der Plausibilität, Schlüssigkeit und Überzeugungskraft des gestellten Sitzverlegungsantrags geäußert hat. Damit habe die Klägerin nicht rechnen müssen, nachdem die Ernsthaftigkeit des Antrags zwischen den Beteiligten zu keinem Zeitpunkt streitig gewesen sei.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG Mecklenburg-Vorpommern vom 18.11.2020 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Schwerin vom 10.1.2018 zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die Entscheidung des LSG im Ergebnis für zutreffend. Zum Zeitpunkt der Stellung des Verlegungsantrags sei das MVZ...
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