Urteil Nr. B 7 AY 2/18 R des Bundessozialgericht, 2018-10-25

Judgment Date25 Octubre 2018
ECLIDE:BSG:2018:251018UB7AY218R0
Judgement NumberB 7 AY 2/18 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Asylbewerberleistung - Verzinsung einer Nachzahlung - keine Anwendbarkeit des § 44 SGB I - entsprechende Anwendung von § 291 BGB
Leitsätze

Leistungsberechtigten, die einen Anspruch nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (juris: AsylbLG) gerichtlich geltend machen, steht auch ein Anspruch auf Prozesszinsen zu.

Tenor

Auf die Revisionen der Kläger wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 26. April 2018 geändert. Der Beklagte wird verurteilt, an die Kläger fünf Prozent Zinsen über dem Basiszinssatz jeweils aus 261,25 Euro ab dem 15. August 2013 zu zahlen. Im Übrigen werden die Revisionen zurückgewiesen.

Der Beklagte hat drei Viertel der außergerichtlichen Kosten der Kläger für das Verfahren zu erstatten.

Tatbestand

Im Streit ist ein Anspruch auf Verzinsung für den Zeitraum von Juni 2009 bis Dezember 2010 nachgezahlter Kosten der Unterkunft in Höhe von noch 783,75 Euro.

Die Kläger sind algerische Staatsangehörige, der Kläger zu 3 ist der 1985 geborene Sohn der Kläger zu 1 und 2. Sie halten sich ohne wesentliche Unterbrechungen seit 1992 im Bundesgebiet auf; nach erfolglos durchgeführten Asylverfahren sind sie im Bundesgebiet geduldet (§ 60a des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet - Aufenthaltsgesetz <AufenthG>) und erhalten Grundleistungen nach § 3 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Die Kläger zu 1 und 2 bewohnten von Juni 2009 bis Dezember 2011 eine Wohnung in D im Landkreis Göttingen, der Kläger zu 3 lebte dort bis Juni 2011. Ausländerrechtlich waren sie zur Wohnsitznahme in der Samtgemeinde D verpflichtet.

Der Beklagte hat sich in einem von den Klägern zu 1 bis 3 und ihrer Tochter F , der früheren Klägerin zu 4, geführten Klageverfahren (Az: S 42 AY 86/13; Klageerhebung am 14.8.2013) bereit erklärt, höhere Unterkunftskosten für die Zeit von Juni 2009 bis Dezember 2010 "im Wege der Regelung § 12 WoGG plus 10 %" zu zahlen. Diese Erklärung nahmen die Kläger als Anerkenntnis an und erklärten den Rechtsstreit für erledigt. In Umsetzung dieser Erklärung bewilligte der Beklagte weitere Unterkunftskosten in Höhe von monatlich 55 Euro, insgesamt 1045 Euro (bestandskräftiger Bescheid vom 11.3.2015, adressiert an die Kläger zu 1 und 2).

Den Antrag, diesen Betrag zu verzinsen, lehnte der Beklagte ab (Bescheid vom 2.12.2015; Widerspruchsbescheid vom 10.12.2015, beide adressiert an den Rechtsanwalt der Kläger).

Das Sozialgericht (SG) Hildesheim hat den Beklagten unter Abänderung der angegriffenen Bescheide verurteilt, den der früheren Klägerin zu 4 gewährten Nachzahlungsbetrag gemäß § 44 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - (SGB I) zu verzinsen, bezogen auf die Kläger zu 1 bis 3 die Klage aber abgewiesen (Urteil vom 8.4.2016). Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen hat die Berufung der Kläger zurückgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, § 44 SGB I sei im AsylbLG weder unmittelbar noch analog anzuwenden, weil es jedenfalls an einer planwidrigen Regelungslücke fehle. Aus demselben Grund scheide auch die Gewährung von Prozesszinsen in analoger Anwendung des § 291 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) aus. Verfassungsrechtliche Bedenken stünden dem vollständigen Ausschluss von Zinsleistungen im AsylbLG nicht entgegen (Urteil vom 26.4.2018). Der Beklagte hat für die frühere Klägerin zu 4 ein Viertel des Nachzahlungsbetrags (261,25 Euro) entsprechend der Entscheidung des SG verzinst.

Mit ihren Revisionen machen die Kläger einen Verstoß gegen § 44 SGB I bzw § 291 BGB geltend. Die strukturelle Gleichwertigkeit der Existenzsicherungssysteme nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II), dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) und dem AsylbLG gebiete es, nachgezahlte Leistungen nach dem AsylbLG genauso zu verzinsen wie solche nach dem SGB II oder dem SGB XII. Das Bundessozialgericht (BSG) habe gerade mit der Gleichwertigkeit der Systeme ua die analoge Anwendung des § 116a SGB XII im AsylbLG begründet.

Die Kläger beantragen,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 26. April 2018 und des Sozialgerichts Hildesheim vom 8. April 2016 sowie den Bescheid vom 2. Dezember 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Dezember 2015 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, die ihnen nachgezahlten Leistungen in Höhe von jeweils 261,25 Euro mit wenigstens vier vom Hundert zu verzinsen.

Der Beklagte beantragt,
die Revisionen zurückzuweisen.

Er hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die Revisionen sind zulässig und überwiegend begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz <SGG>). Ein Zinsanspruch in unmittelbarer oder entsprechender Anwendung des § 44 SGB I besteht zwar nicht. Den Klägern steht aber ein Anspruch auf Verzinsung der auf sie anteilig entfallenen Nachzahlung in Höhe von je 261,25 Euro ab Rechtshängigkeit der ursprünglichen Zahlungsklage (Prozesszinsen) dem Grunde nach zu.

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 2.12.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.12.2015 (§ 95 SGG), mit dem der Beklagte die Verzinsung des auf die Kläger entfallenden Nachzahlungsbetrags von 783,75 Euro abgelehnt hat. Dagegen wenden sich die Kläger zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 und 4, § 56 SGG), gerichtet auf den Erlass eines Grundurteils (§ 130 Abs 1 Satz 1 SGG).

Der geltend gemachte Anspruch auf Verzinsung des Nachzahlungsbetrags kann, auch soweit er auf die Zahlung von Prozesszinsen (§ 291 BGB) dem Grunde nach gerichtet ist, zulässigerweise selbständig und unabhängig von der Hauptforderung (Nachzahlung von Kosten der Unterkunft) zum Gegenstand eines Rechtsstreits gemacht werden (vgl nur Bundesarbeitsgericht Urteil vom 25.4.2007 - 10 AZR 195/06; Bundesgerichtshof <BGH> Urteil vom 14.1.1987 - IVb ZR 3/86 = FamRZ 1987, 352; BVerwGE 38, 49, juris RdNr 11; Bundesverwaltungsgericht <BVerwG> Urteil vom 24.9.1987 - 2 C 27/84 = NJW 1988, 1682). Die Kläger mussten sich nicht bereits im Verfahren um die Hauptforderung weitergehende Ansprüche vorbehalten (BGHZ 34, 337, 340). Dafür, dass die Kläger mit der allein auf nachzuzahlende Unterkunftskosten gerichteten Klage zugleich auf die Geltendmachung von Prozesszinsen verzichtet hätten, gibt es keine Anhaltspunkte.

Der Zulässigkeit der Klage des Klägers zu 3 steht nicht dessen fehlende Klagebefugnis (§ 54 Abs 1 SGG) entgegen. Wie bereits das LSG zutreffend ausgeführt hat, ist der Kläger zu 3 durch die angefochtenen Bescheide beschwert. Mit dem Bescheid vom 11.3.2015 (Bewilligung weiterer Kosten der Unterkunft in Höhe von 1045 Euro) hat der Beklagte sein Anerkenntnis im Verfahren S 42 AY 86/13, den Klägern höhere Kosten der Unterkunft zu zahlen, umgesetzt. Auch wenn dieser Bescheid nur an die Kläger zu 1 und 2 adressiert war, konnte der Kläger zu 3 diesen Bescheid nach Maßgabe des objektiven Empfängerhorizonts (vgl zu dieser Voraussetzung bei der Auslegung von Verwaltungsakten nur: BSG SozR 4-1500 § 77 Nr 1 RdNr 15; Senatsurteil vom 17.6.2008 - B 8 AY 8/07 R - RdNr 12; Engelmann in von Wulffen/Schütze, Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - <SGB X>, 8. Aufl 2014, § 31 RdNr 25 mwN) als Ergebnis des auch von ihm geführten Klageverfahrens nur so verstehen, dass auch ihm gegenüber eine Entscheidung getroffen werden sollte. Den Antrag auf Verzinsung hat der Prozessbevollmächtigte der Kläger deshalb (folgerichtig) für die gesamte "Familie H /S " gestellt, also auch für den Kläger zu 3. Dieser konnte mithin auch den Bescheid vom 2.12.2015 und den Widerspruchsbescheid vom 10.12.2015 nur als Ablehnung auch ihm gegenüber verstehen. Diese Bescheide sind gegenüber allen Klägern durch Zustellung an ihren Bevollmächtigten wirksam bekannt gegeben geworden (§ 1 Abs 1 Niedersächsisches Verwaltungsverfahrensgesetz vwvfg> vom 3.12.1976 - Nds GVBl 1976, 311, zuletzt in der Fassung des Gesetzes vom 24.9.2009 - Nds GVBl 2009, 361 - iVm § 43 Abs 1 Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes <VwVfG>, § 41 Abs 1 Satz 2 VwVfG bzw § 41 Abs 5 VwVfG, § 1 Abs 1 Niedersächsisches Verwaltungszustellungsgesetz vom 23.2.2006 - Nds GVBl 2006, 72 - iVm §§ 5, 7 Abs 1 Verwaltungszustellungsgesetz des Bundes <VwZG>)vwvfg>.

Den Klägern steht kein Anspruch auf Verzinsung nach § 44 SGB I bereits nach Ablauf eines Kalendermonats nach dem Eintritt der Fälligkeit der Hauptforderung zu. § 44 SGB I ist im AsylbLG weder unmittelbar noch entsprechend anwendbar. Nach § 44 Abs 1 SGB I sind Ansprüche auf Geldleistungen nach Ablauf eines Kalendermonats nach dem Eintritt ihrer Fälligkeit bis zum Ablauf des Kalendermonats vor der Zahlung mit vier vom Hundert zu verzinsen. Von § 44 SGB I werden allerdings nur diejenigen Leistungen erfasst, die dem Einzelnen als Sozialleistungen iS des § 11 SGB I zustehen (BSGE 71, 72, 75 = SozR 3-7610 § 291 Nr 1 S 4; BSG SozR 4100 § 56 Nr 21 S 62), also Leistungen, die in einem der Bücher des SGB aufgeführt sind oder als dessen besondere Teile (§ 68 SGB I) gelten. Hierzu zählen jedoch nicht die an Asylleistungsberechtigte erbrachten Leistungen nach dem AsylbLG, denn sie sind weder als Sozialleistungen in den §§ 18 ff SGB I aufgeführt, noch enthält § 68 SGB I eine Regelung, wonach das AsylbLG als besonderer Teil des SGB gilt. Auch das AsylbLG sieht eine (ausdrückliche) Anwendung des § 44 SGB I nicht vor. § 9 Abs 3 AsylbLG ordnet lediglich eine (entsprechende) Anwendung der Bestimmungen des SGB I über die...

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