Urteil Nr. B 7 AY 1/17 R des Bundessozialgericht, 2019-02-27
Judgment Date | 27 Febrero 2019 |
ECLI | DE:BSG:2019:270219UB7AY117R0 |
Judgement Number | B 7 AY 1/17 R |
Court | Der Bundessozialgericht (Deutschland) |
1. Das fortgesetzt rechtsmissbräuchliche Verhalten eines Leistungsempfängers nach dem Asylbewerberleistungsgesetz stellt keine wesentliche Änderung der rechtlichen Verhältnisse dar, die zu einer Neubestimmung des im Einzelfall "unabweisbar Gebotenen" berechtigt.
2. Entscheidungen über das Vorliegen oder Nichtvorliegen eines Abschiebungshindernisses, die im Verhältnis zu den für den Vollzug der Ausreise zuständigen Behörden bindend sind, sind auch bei der Prüfung der notwendigen Kausalität eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens für die Absenkung der Leistung beachtlich.
3. An der notwendigen Kausalität fehlt es, wenn die für den Vollzug der Ausreise zuständige Behörde im Einzelfall zu erkennen gibt, dass sie trotz vollziehbarer Ausreisepflicht auf Maßnahmen der Abschiebung verzichtet.
4. Die Zustellung gegen Empfangsbekenntnis an Behörden ist bewirkt, wenn der hierfür zuständige Bedienstete von dem Zugang des Schriftstücks Kenntnis erhält und den Empfang bestätigt; die Auswahl dieses Bediensteten steht allein der Behörde zu.
TenorDie Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 8. Dezember 2016 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Kläger für das Revisionsverfahren zu erstatten.
Im Streit ist im Revisionsverfahren noch die Höhe von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) im Zeitraum vom 1.9.2006 bis zum 31.12.2007.
Die Kläger sind miteinander verheiratet und leben mit ihren 1997 und 2000 geborenen Söhnen, den früheren Klägern zu 3 und 4, seit 2003 im Bundesgebiet. Sie sind aserbaidschanische Staatsangehörige und wurden im Oktober 2004 der Samtgemeinde D. im Zuständigkeitsbereich des Beklagten zugewiesen; im streitigen Zeitraum waren sie Inhaber von Duldungen (vgl § 60a Abs 2 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet - Aufenthaltsgesetz <AufenthG>). Ihre Identität haben sie erst 2012 durch Vorlage von Ausweispapieren nachgewiesen; zuvor hatten sie falsche Angaben zu ihrer Person (Geburtsdaten und Namen) gemacht. Der Kläger verbüßte vom 19.3. bis 3.12.2007 eine Freiheitsstrafe.
Ihre Anträge auf Asyl lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (als Rechtsvorgänger des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge <BAMF>) als offensichtlich unbegründet ab und stellte fest, dass keine Abschiebungshindernisse nach (dem bis 31.12.2004 geltenden, durch das AufenthG ersetzten) § 53 des Gesetzes über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern im Bundesgebiet (Ausländergesetz - AuslG) vorliegen (Bescheid vom 15.5.2003; Urteil des Verwaltungsgerichts
Seit Oktober 2004 erhielten die Kläger und ihre Söhne Leistungen nach dem AsylbLG. Unter anderem für die Zeit ab dem 1.1.2006 bewilligte die Samtgemeinde D. nur eingeschränkte Leistungen nach § 1a Nr 2 AsylbLG in der bis zum 28.2.2015 geltenden Fassung (im Folgenden: alte Fassung <aF>), und zwar ohne den Anteil, der auf den sog Barbetrag (Geldbetrag zur Deckung persönlicher Bedürfnisse des täglichen Lebens in Höhe von jeweils 40,90 Euro) für den Kläger und die Klägerin entfiel (Bescheid vom 15.12.2005). Nach Anhörung gewährte der Beklagte sämtlichen Familienmitgliedern ab dem 1.9.2006 weitergehend eingeschränkte Leistungen (Zahlbetrag 932,87 Euro) ohne die Anteile für den Barbetrag und dem Kläger und der Klägerin zudem ohne die Anteile an Wertgutscheinen für Bekleidung (in Höhe von je 15,34 Euro), weil der Kläger keine Bemühungen zur Passbeschaffung nachgewiesen und keine Identitätsnachweise vorgelegt habe (Bescheide vom 10.8.2006, vom 16.10.2006, vom 29.1.2007, vom 27.2.2007 und vom 19.3.2007; Widerspruchsbescheid vom 27.3.2007). Über Einkommen und Vermögen verfügten die Kläger in der Zeit vom 1.9.2006 bis zum 31.12.2007 nicht.
Das Sozialgericht (SG) Hildesheim hat den Beklagten auf die auf höhere Leistungen für die Zeit von September 2006 bis Oktober 2008 gerichteten Klagen verurteilt, an den Kläger 1357,26 Euro (Bekleidungspauschale sowie ab 13.11.2006 - Zeitpunkt des Antrags nach § 60 Abs 7 AufenthG - Barbetrag) und an die Klägerin 398,84 Euro (Bekleidungspauschale) zu zahlen und die Klagen der Klägerin und der Kinder wegen der Absenkung der Leistungen um den Barbetrag abgewiesen (Urteil vom 23.10.2012). Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen hat auf die Berufung des Beklagten das Urteil des SG geändert, die Verurteilung zu weiteren Leistungen an den Kläger teilweise - soweit sie auf die Zeit der Inhaftierung entfiel - aufgehoben und die Berufung im Übrigen zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ua ausgeführt, die Nichtvollziehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen beruhe nicht auf (allein) vom Kläger zu vertretenden Gründen. Es fehle an der für § 1a Nr 2 AsylbLG aF erforderlichen konkreten Kausalität, weil der Kläger zur Überzeugung des Gerichts ohnehin wegen seines Gesundheitszustands nicht habe ausreisen können. Dieser Schutz bestehe wegen Art 6 Abs 1 Grundgesetz (GG) auch zugunsten der Klägerin. Dabei sei nicht der Zeitpunkt entscheidend, zu dem das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs 7 AufenthG behördlich oder durch das VG anerkannt worden sei, weil eine Tatbestandswirkung aufenthaltsrechtlicher Entscheidung nur wegen der aufenthaltsrechtlichen Tatbestände bestehe, an die die Leistungsberechtigung nach § 1 AsylbLG geknüpft sei.
Der Beklagte rügt mit seiner Revision eine Verletzung von § 1a AsylbLG aF. Zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse iS des § 60 Abs 7 AufenthG seien von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit nicht zu überprüfen. Diese Kompetenz stehe vielmehr ausschließlich den Ausländerbehörden und den Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu. Deren bestandskräftigen Entscheidungen komme Bindungswirkung zu. Der Barbetrag und die Bekleidungspauschale gehörten auch nicht zu dem unabweisbar Gebotenen.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 8. Dezember 2016 und das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 23. Oktober 2012 zu ändern und die Klagen insgesamt abzuweisen.
Die Kläger beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Sie sind der Auffassung, dass die Revisionseinlegung nicht rechtzeitig erfolgt sei, und halten die Entscheidung des LSG in der Sache für zutreffend.
EntscheidungsgründeDie Revision des Beklagten ist zulässig. Sie ist mit dem (im Übrigen formgerechten) Schriftsatz am 6.11.2017 (einem Montag) insbesondere fristgerecht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Revision durch den Senat (vom 21.9.2017) eingelegt worden (vgl § 164 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz <SGG>). Das von der zum Empfang berechtigten Person unterzeichnete Empfangsbekenntnis, das bei der hier vom Gericht gewählten Zustellung gegen Empfangsbekenntnis (vgl § 63 Abs 2 Satz 1 SGG iVm § 174 Abs 1 Satz 1 Zivilprozessordnung <ZPO>) als Nachweis der Zustellung genügt (vgl § 174 Abs 4 Satz 1 ZPO), weist als Zustelldatum zwar den 29.9.2017 aus. Zur Überzeugung des Gerichts ist der Beschluss aber tatsächlich erst am 4.10.2017 in Empfang genommen und die Frist zur Einlegung der Revision für den Beklagten erst an diesem Tag in Lauf gesetzt worden.
Bei Zustellung gegen Empfangsbekenntnis an Behörden nach § 63 Abs 2 Satz 1 SGG iVm § 174 ZPO ist die Zustellung nicht bereits mit dem Zugang des Schriftstücks in der Behörde bewirkt (vgl nur BSG vom 10.11.1993 - 11 RAr 47/93 - juris 21 mwN; insoweit in BSGE 73, 195 = SozR 3-4100 § 249e Nr 3 nicht abgedruckt). Erforderlich ist vielmehr, dass der hierfür zuständige Bedienstete der Behörde von dem Zugang des Schriftstücks Kenntnis erhält und den Empfang bestätigt (Bundesverwaltungsgericht <BVerwG> vom 21.12.1979 - 4 ER 500/79 - NJW 1980, 2427). Die Personen innerhalb der Behörde, die zur Entgegennahme von Zustellungen berechtigt sind und also ein entsprechendes Empfangsbekenntnis ausstellen, gibt das Gesetz nicht vor; ihre Auswahl steht vielmehr der Behörde selbst zu. Die Organisationsstruktur einer Behörde bietet bereits die ausreichende Gewähr dafür, dort überhaupt gegen Empfangsbekenntnis zustellen zu können; maßgeblich für die Möglichkeit der Zustellung in Behörden ist - anders als bei Rechtsanwälten, Notaren, Steuerberatern etc - nicht die Zuverlässigkeit einer bestimmten natürlichen Person, die ihrerseits den Empfang von zustellungsbedürftigen Schriftstücken gegen Empfangsbekenntnis nicht übertragen darf (vgl dazu BSG vom 23.4.2009 - B 9 VG 22/08 B - SozR 4-1750 § 174 Nr 1 RdNr 10 ff). Die Entgegennahme nur durch den Leiter der Behörde oder nur durch Personen mit Befähigung zum Richteramt ist damit nicht Voraussetzung für die ordnungsgemäße Zustellung eines Beschlusses nach § 160a SGG (vgl Bundesarbeitsgericht
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