Urteil Nr. B 7/14 AS 1/21 R des Bundessozialgericht, 2022-05-18

Judgment Date18 Mayo 2022
ECLIDE:BSG:2022:180522UB714AS121R0
Judgement NumberB 7/14 AS 1/21 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Arbeitslosengeld II - Erledigung der vorläufigen Leistungsbewilligung durch Zeitablauf - Fiktion einer abschließenden Festsetzung des Leistungsanspruchs - Eintritt der Fiktionswirkung trotz Klage gegen vorläufige Entscheidung - Klagegegenstand - Unterkunft und Heizung - angemessene Heizkosten - dezentrale Warmwassererzeugung - Stromkosten für den Betrieb der Gastherme - Mehrbedarf
Leitsätze

1. Der Fiktion einer abschließenden Festsetzung des Leistungsanspruchs durch Zeitablauf steht nicht entgegen, dass Klage gegen die Höhe des vorläufig bewilligten Arbeitslosengeldes II erhoben worden ist.

2. Die infolge Zeitablaufs als abschließende Festsetzung geltende Bewilligung von Arbeitslosengeld II bleibt Gegenstand des Klageverfahrens, in dem der vorläufige Bewilligungsbescheid angefochten war.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. Oktober 2020 aufgehoben. Der Beklagte wird unter Änderung des Urteils des Sozialgerichts Düsseldorf vom 29. Oktober 2018 sowie der als abschließende Festsetzung geltenden Bewilligung des Alg II aus dem Bescheid vom 28. Juni 2016 in der Gestalt des Teilabhilfe- und Widerspruchsbescheids vom 10. Oktober 2016 verurteilt, der Klägerin insgesamt weitere 5,06 Euro für Juli 2016 zu zahlen. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 29. Oktober 2018 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten für alle drei Rechtszüge zu erstatten.

Tatbestand

Im Streit ist um 5,06 Euro höheres Alg II für Juli 2016 wegen der Aufwendungen für den Betriebsstrom einer Gastherme.

Die Klägerin lebte zusammen mit zwei Familienangehörigen in einer im Juni 2016 bezogenen Mietwohnung. Ihr war schon vor dem Umzug Alg II für Mai bis Juli 2016 vorläufig bewilligt worden (Bescheid vom 7.3.2016). Die beiden Familienmitglieder erhielten anderweitig existenzsichernde Leistungen oder verfügten über bedarfsdeckendes Einkommen.

Die Wohnung wird mittels einer Gastherme (Gasetagenheizung) beheizt. Über die Therme wird auch Warmwasser erzeugt. Die Vorauszahlungen für Gas beliefen sich auf monatlich 90 Euro. Für Strom zahlte die Klägerin einen monatlichen Abschlag iHv 110 Euro. Nach dem Umzug änderte das beklagte Jobcenter den bisherigen Bescheid über die vorläufige Bewilligung und berücksichtigte geänderte Bedarfe für Unterkunft und Heizung, ua für Juli 2016 (vorläufiger Änderungsbescheid vom 28.6.2016). Dem gegen die Höhe der Leistungen gerichteten Widerspruch der Klägerin gab der Beklagte zum Teil statt. Er erkannte die Vorauszahlungen für Gas als Bedarf für Heizung an, wie auch den Betriebsstrom für die Therme, den er mit 1,50 Euro im Monat berücksichtigte (Teilabhilfe- und Widerspruchsbescheid vom 10.10.2016).

Mit der Klage hat die Klägerin die Zahlung weiterer 5,06 Euro für Juli 2016 im Zusammenhang mit dem Betriebsstrom der Therme geltend gemacht. Hiervon hat ihr das SG 3,80 Euro "als Heizkosten" zugesprochen (Urteil vom 29.10.2018). Das LSG hat auf die zugelassene Berufung das Urteil des SG aufgehoben, die Klage abgewiesen sowie die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 28.10.2020). Die mit den angefochtenen Bescheiden vorläufig bewilligten Leistungen gälten seit dem 31.7.2017 als endgültig festgesetzt. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf höhere endgültige Leistungen. Es gehe um höhere Bedarfe für Unterkunft und Heizung; ua Mehrbedarfe seien damit nicht Streitgegenstand. Der Betriebsstrom für die Therme sei im Wege der Schätzung in Abhängigkeit von den Brennstoffkosten festzusetzen. Aus § 21 Abs 7 SGB II ergebe sich kein weitergehender Leistungsanspruch, weil die Kosten für die Beheizung und die Erzeugung von Warmwasser über die Aufwendung für Heizung abgegolten seien. Mit ihrer vom LSG wegen Rechtsfragen zu § 41a SGB II zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung von § 22 Abs 1 SGB II und § 21 Abs 7 SGB II.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. Oktober 2020 aufzuheben, die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 29. Oktober 2018 zurückzuweisen und die als abschließende Festsetzung geltende Bewilligung des Alg II aus dem Bescheid vom 28. Juni 2016 in der Gestalt des Teilabhilfe- und Widerspruchsbescheids vom 10. Oktober 2016 zu ändern sowie den Beklagten zu verurteilen, ihr insgesamt weitere 5,06 Euro für Juli 2016 zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Die Klägerin hat mit ihrem bis zuletzt verfolgten Klagebegehren vollen Erfolg. Daher ist das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Beklagten zurückzuweisen. Das nur einen Teil der begehrten Leistungen zusprechende Urteil des SG und die als abschließende Festsetzung geltende Bewilligung des Alg II aus dem Bescheid vom 28.6.2016 in der Gestalt des Teilabhilfe- und Widerspruchsbescheids vom 10.10.2016 sind zu ändern.

1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den Urteilen des LSG vom 28.10.2020 und des SG vom 29.10.2018 die als abschließende Festsetzung geltende Bewilligung von Alg II aus dem Bescheid des Beklagten vom 28.6.2016 in der Gestalt des Teilabhilfe- und Widerspruchsbescheids vom 10.10.2016.

Die Vorläufigkeit dieser Bewilligung hat sich durch Zeitablauf erledigt; die Leistungen gelten zwischenzeitlich als abschließend festgesetzt (dazu 2). Diese abschließende Festsetzung ist Gegenstand des Klageverfahrens, in dem die Klägerin ursprünglich den vorläufigen Bewilligungsbescheid des Beklagten angefochten hat (dazu 3). Weil die Klägerin ihr Klagebegehren nicht beschränkt hat, ist über den abschließend bestimmten Leistungsanspruch insgesamt zu entscheiden (dazu 4).

2. Die Vorläufigkeit des Bescheids des Beklagten vom 28.6.2016 in der Gestalt des Teilabhilfe- und Widerspruchsbescheids vom 10.10.2016 hat sich durch Zeitablauf erledigt. Die Leistungen gelten zwischenzeitlich gemäß § 41a Abs 5 Satz 1 SGB II als abschließend festgesetzt.

a) Für den verfahrensgegenständlichen Monat Juli 2016, über den der Beklagte ursprünglich mit dem die Monate Mai bis Juli 2016 erfassenden vorläufigen Bewilligungsbescheid vom 7.3.2016 entschieden hat, ist der Anwendungsbereich des § 41a Abs 5 Satz 1 SGB II in zeitlicher Hinsicht eröffnet.

Verfahrensrechtlich richtet sich die durch Erlass eines Verwaltungsakts zu treffende abschließende Bestimmung eines Anspruchs auf Alg II, sofern der Zeitraum einer zunächst vorläufig vorgenommenen Bewilligung - wie hier - vor dem 1.8.2016 beendet war, grundsätzlich nach § 40 Abs 2 Nr 1 SGB II (idF der Bekanntmachung der Neufassung des SGB II vom 13.5.2011, BGBl I 850 Abs 2 Nr 1 aF>) iVm § 328 Abs 2 und 3 SGB III (vgl BSG vom 12.9.2018 - B 4 AS 39/17 R - BSGE 126, 294 = SozR 4-4200 § 41a Nr 1, RdNr 31; BSG vom 24.6.2020 - B 4 AS 8/20 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 108 RdNr 21). Sie ist also unabhängig davon, ob die abschließende Bestimmung des Leistungsanspruchs durch Verwaltungsakt vor oder nach dem 1.8.2016 erfolgt, als endgültige Festsetzung gemäß § 328 Abs 2 SGB III vorzunehmen. Einen solchen Verwaltungsakt hat der Beklagte nicht erlassen.

Für diesen Sonderfall greift § 41a Abs 5 Satz 1 SGB II, dessen Geltung § 80 Abs 2 Nr 1 SGB II (jeweils idF des Neunten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch - Rechtsvereinfachung - sowie zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht SGB II-ÄndG> vom 26.7.2016, BGBl I 1824) für Bewilligungszeiträume anordnet, die vor dem 1.8.2016 beendet waren (zur Anwendbarkeit des § 41a Abs 5 Satz 1 SGB II schon BSG vom 30.10.2019 - B 14 AS 2/19 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 104; BSG vom 3.9.2020 - B 14 AS 40/19 R - RdNr 8; BSG vom 21.7.2021 - B 14 AS 31/20 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 118 RdNr 14).

Gemäß § 80 Abs 2 Nr 1 SGB II gilt für die abschließende Entscheidung über zunächst vorläufig beschiedene Leistungsansprüche für Bewilligungszeiträume, die vor dem 1.8.2016 beendet waren, § 41a Abs 5 Satz 1 SGB II mit der Maßgabe, dass die Jahresfrist mit dem 1.8.2016 beginnt. § 41a Abs 5 Satz 1 SGB II ordnet an, dass, ergeht innerhalb eines Jahres nach Ablauf des Bewilligungszeitraums keine abschließende Entscheidung nach § 41a Abs 3 SGB II, die vorläufig bewilligten Leistungen als abschließend festgesetzt gelten. Die Vorschrift ist zur Erhaltung eines Anwendungsbereichs der Übergangsregelung des § 80 Abs 2 Nr 1 SGB II dahingehend auszulegen, dass nicht nur fehlende abschließende Entscheidungen nach § 41a Abs 3 SGB II erfasst werden, sondern auch unterbliebene endgültige Festsetzungen gemäß § 40 Abs 2 Nr 1 SGB II aF iVm § 328 SGB III.

b) Dass die Klage bereits gegen die vorläufige Bewilligung vom 28.6.2016 in der Gestalt des Teilabhilfe- und Widerspruchsbescheids vom 10.10.2016 erhoben worden ist, hindert den Eintritt der Fiktionswirkung nicht (vgl schon BSG vom 30.10.2019 - B 14 AS 2/19 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 104 RdNr 9; BSG vom 3.9.2020 - B 14 AS 40/19 R - RdNr 8).

Eine solche Beschränkung des Anwendungsbereichs von § 41a Abs 5 Satz 1...

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