Urteil Nr. B 7 AS 14/22 R des Bundessozialgericht, 2023-06-21

Judgment Date21 Junio 2023
ECLIDE:BSG:2023:210623UB7AS1422R0
Judgement NumberB 7 AS 14/22 R
CourtDer Bundessozialgericht (Deutschland)
Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 19. Mai 2021 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

Umstritten ist die Übernahme der Aufwendungen für eine Dachreparatur.

Der 1956 geborene alleinstehende Kläger bewohnte im Jahr 2017 ein Eigenheim mit 129 qm Wohnfläche. Im Februar 2017 waren durch das beklagte Jobcenter Aufwendungen für die Reparatur der Heizung iHv 265,37 Euro als Bedarf anerkannt worden. Im Juli 2017 fielen für die Hausnebenkosten mit dem Heizungsbetrieb verbundene Energiekosten iHv 5,62 Euro an. Weitere laufende Aufwendungen für Unterkunft und Heizung hatte der Kläger in diesem Monat nicht. Er war ab März 2017 als Kraftfahrer bzw Ladehelfer geringfügig beschäftigt und erzielte hieraus einen Festlohn iHv 100 Euro. Für mit dem eigenen Pkw zurückgelegte Kilometer erhielt er eine zusätzliche Fahrkostenerstattung von 0,30 Euro/km.

Der Beklagte bewilligte dem Kläger Alg II von Mai 2017 bis April 2018, dabei für Juli 2017 iHv 406,22 Euro (Bescheid vom 5.4.2017). Am 6.4.2017 zeigte der Kläger die Reparaturbedürftigkeit des Hausdaches an. Er legte drei Voranschläge zu den Reparaturkosten vor, den günstigsten über 583,77 Euro. Der Beklagte errechnete (intern), ausgehend von einer 50 qm großen Mietwohnung seien jährlich eine Nettokaltmiete von 2658 Euro zzgl 660 Euro Betriebskosten und Heizkosten mit Warmwasser iHv 1089 Euro angemessen. Die Übernahme von Aufwendungen für die Reparatur des Daches lehnte er ab (Bescheid vom 5.5.2017). Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein. Er ließ das Dach reparieren. Die Rechnung über 583,77 Euro reichte er am 7.7.2017 beim Beklagten ein. Der Beklagte hob den Bescheid vom 5.4.2017 auf und bewilligte für Juli 2017 414,62 Euro, weil er kein Einkommen aus Erwerbstätigkeit mehr anrechnete (Bescheid vom 7.7.2017). Den Widerspruch wies er zurück (Widerspruchsbescheid vom 29.9.2017).

Das SG hat die Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen (Urteil vom 6.9.2019). Der Gesetzgeber wolle mit § 22 Abs 2 Satz 1 SGB II verhindern, dass durch den SGB II-Leistungsbezug unangemessenes Wohneigentum gefördert werde. Dies sei nur zu erreichen, wenn Reparaturaufwendungen für unangemessen großes und nur nicht verwertbares Wohneigentum nicht übernommen würden. Denn mit der Größe des Grundstücks erhöhe sich naturgemäß auch die Anzahl und der Umfang von Reparatur- und Instandsetzungsbedarfen. Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 19.5.2021). Es könne offenbleiben, ob das Hausgrundstück womöglich als Vermögen zu berücksichtigen und der Kläger damit nicht hilfebedürftig sei. Bei den Aufwendungen für die Dachreparatur handele es sich zwar grundsätzlich um übernahmefähige Aufwendungen; an ihrer Unabweisbarkeit bestehe kein Zweifel. Die Aufwendungen lägen selbst einschließlich derjenigen für die Reparatur der Heizung im Februar 2017 deutlich unter der vom Beklagten zugrunde gelegten Mietobergrenze. Eine Übernahme scheide aber aus, weil das Hausgrundstück unangemessen groß sei. Einer anderslautenden Auslegung von § 22 Abs 2 Satz 1 SGB II stehe der Wortlaut der Vorschrift entgegen, nach dem das Hausgrundstück über § 12 Abs 3 Satz 1 Nr 4 SGB II geschützt sein müsse. Es komme weder eine Analogie noch eine teleologische Reduktion der Norm für den Fall in Betracht, dass das Hausgrundstück aus anderen Gründen als Vermögen durch das SGB II geschützt werde, insbesondere nicht verwertbar sei.

Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung von § 22 Abs 2 Satz 1 SGB II.

Der Kläger beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 19. Mai 2021 und des Sozialgerichts Cottbus vom 6. September 2019 aufzuheben, den Bescheid des Beklagten vom 7. Juli 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. September 2017 zu ändern sowie den Beklagten zu verurteilen, ihm für Juli 2017 weitere Leistungen für Unterkunft und Heizung unter Berücksichtigung der Reparaturaufwendungen in Höhe von 583,77 Euro zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Die Aufwendungen für die Reparatur des Daches sind der Sache nach als Bedarf für Unterkunft anzuerkennen. Indes lässt sich nach den Feststellungen des LSG nicht beurteilen, ob der Kläger Anspruch auf Alg II hat. Es fehlt an hinreichenden Feststellungen zu seiner Hilfebedürftigkeit, insbesondere wegen einer möglichen Verwertbarkeit des Hausgrundstücks.

1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den vorinstanzlichen Urteilen der Bescheid vom 7.7.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.9.2017. Mit dem Bescheid vom 7.7.2017 hat der Beklagte zuletzt insgesamt über die Höhe des Alg II für den Kläger entschieden. Er hat eine Neuregelung nicht allein wegen der aus seiner Sicht wesentlichen Änderung zugunsten des Klägers (§ 48 Abs 1 Satz 1, Satz 2 Nr 1 SGB X) vorgenommen. Vielmehr hat der Beklagte die eingereichte Rechnung nicht als Bedarf berücksichtigt, den sich wegen geänderten Einkommens ergebenden Bewilligungsbetrag neu ermittelt und im Tenor des Bescheids sowie im Berechnungsbogen einen erhöhten Anspruch auf Alg II insgesamt ausgewiesen. Der Bescheid vom 7.7.2017 ist Gegenstand des Widerspruchsverfahrens geworden (§ 86 SGG, vgl BSG vom 5.7.2017 - B 14 AS 36/16 R - SozR 4-1500 § 86 Nr 3 RdNr 19 f). Der Sache nach ist der Streit beschränkt auf die Leistungen für Unterkunft und Heizung (hierzu nur BSG vom 4.6.2014 - B 14 AS 42/13 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 78 RdNr 10 mwN). Eine Begrenzung allein auf die Reparaturaufwendungen ist hingegen rechtlich nicht möglich (BSG vom 18.9.2014 - B 14 AS 48/13 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 79 RdNr 12).

2. Gegen die Ablehnung der Bewilligung von höherem Alg II wendet sich der Kläger zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG), gerichtet auf die Änderung des Bescheids vom 7.7.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.9.2017 und die Verurteilung des Beklagten zur Zahlung weiterer Leistungen für Unterkunft und Heizung unter Berücksichtigung der Reparaturaufwendungen iHv 583,77 Euro.

Den Leistungsantrag hat der Kläger zulässigerweise auf den Erlass eines Grundurteils (§ 130 Abs 1 Satz 1 SGG) gerichtet. Voraussetzung für die Zulässigkeit eines Grundurteils im Höhenstreit ist eine so umfassende Aufklärung zu Grund und Höhe des Anspruchs, dass mit Wahrscheinlichkeit von einer höheren Leistung ausgegangen werden kann, wenn der Begründung der Klage gefolgt wird (vgl nur BSG vom 21.7.2021 - B 14 AS 31/20 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 118 RdNr 17 mwN). Diese Voraussetzungen liegen vor. Ausgehend vom Vortrag des Klägers ist das Eigenheim nicht verwertbar und es kommen im Juli 2017 wegen der Kosten für die Dachreparatur höhere Leistungen als mit Bescheid vom 7.7.2017 bewilligt in Betracht, auch wenn angesichts der Fahrkostenerstattung des Arbeitgebers ggf ein höheres Einkommen anzurechnen sein kann (vgl BSG vom 11.11.2021 - B 14 AS 41/20 R - SozR 4-4200 § 11b Nr 14 RdNr 30 ff).

3. Rechtsgrundlagen für das klägerische Begehren sind zunächst § 40 Abs 1 Satz 1, Abs 2 Nr 3 SGB II (idF der Neubekanntmachung vom 13.5.2011, BGBl I 850) iVm § 330 Abs 3 Satz 1 SGB III (idF durch das Gesetz zur Reform der Arbeitsförderung vom 24.3.1997, BGBl I 594) und § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB X (idF der Neubekanntmachung vom 18.1.2001, BGBl I 130). Nach diesen Vorschriften ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben, soweit eine Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt. Dabei gilt es zu klären, ob bzw inwieweit eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse dazu führt, dass die Aufhebung der ursprünglichen Bewilligung mit einer höheren Neufeststellung des Leistungsanspruchs als durch den Bescheid vom 7.7.2017 erfolgt, zu verbinden gewesen ist. Insoweit sind grundsätzlich alle Anspruchsvoraussetzungen dem Grunde und der Höhe nach zu prüfen. Der Sache nach bestimmt sich der Anspruch des Klägers auf Alg II gemäß §§ 19 ff iVm §§ 7 ff SGB II idF, die das SGB II für Juli 2017 zuletzt durch die Gesetze zum Abbau verzichtbarer Anordnungen der Schriftform im Verwaltungsrecht des Bundes vom 29.3.2017 (BGBl I 626) und zur Änderung des Bundesversorgungsgesetzes und anderer Vorschriften vom 17.7.2017 (BGBl I 2541) erhalten hat (Geltungszeitraumprinzip; ua BSG vom 26.11.2020 - B 14 AS 23/20 R - SozR 4-4200 § 21 Nr 34 RdNr 14).

4. Der Senat kann derzeit nicht entscheiden, ob der Kläger im Juli 2017 höheres Alg II erhalten muss. Es fehlen Feststellungen zur Anspruchsvoraussetzung der Hilfebedürftigkeit, die das LSG unter Hinweis auf das selbst genutzte Hausgrundstück ausdrücklich offengelassen hat (dazu 5). Wenn der Kläger seine Hilfebedürftigkeit durch den Einsatz von Vermögen nicht beseitigen konnte, sind die Aufwendungen für die Reparatur des Daches zu übernehmen, soweit...

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