Urteil Nr. B 8 SO 23/16 R des Bundessozialgericht, 2018-04-25
Judgment Date | 25 Abril 2018 |
ECLI | DE:BSG:2018:250418UB8SO2316R0 |
Judgement Number | B 8 SO 23/16 R |
Court | Der Bundessozialgericht (Deutschland) |
1. Mit der fristwahrenden Abgabe einer Klageschrift ua bei einer anderen inländischen Behörde ist keine naheliegende Möglichkeit der Übermittlung an das zuständige Gericht aufgezeigt, die ein Rechtsanwalt bei einer von ihm nicht zu vertretenen Störung des üblichen Übertragungswegs zur Wahrung eigener Sorgfaltspflichten nutzen müsste.
2. Bei einer unzulässigen Klage kann ein abändernder oder ersetzender Verwaltungsakt zum Gegenstand des laufenden Verfahrens werden, über den durch Sachurteil zu entscheiden ist.
TenorAuf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. August 2016 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Im Streit ist die Höhe von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem Vierten Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII). Im Revisionsverfahren ist die Zulässigkeit der Klage umstritten.
Die Klägerin bezieht eine Rente wegen vollständiger Erwerbsminderung auf Dauer und daneben von dem beklagten Träger der Sozialhilfe laufend Grundsicherungsleistungen. Unter anderem erließ der Beklagte für die Zeit vom 1.1.2013 bis zum 31.10.2014 einen "Änderungs- und Weitergewährungsbescheid", mit dem er die Grundsicherungsleistungen wegen Änderung des Einkommens und unter Berücksichtigung der tatsächlichen Aufwendungen ua für Unterkunft und Heizung neu berechnete und bewilligte (Bescheid vom 28.10.2013; Widerspruchbescheid vom 30.4.2014). Hiergegen erhob die Klägerin Klage beim Sozialgericht (SG) Speyer (Az S 3 SO 120/14). Den Bescheid vom 28.10.2013 änderte der Beklagte mit weiteren Bescheiden (zuletzt vom 26.1.2015) ua unter Berücksichtigung einer Rückzahlung von Heizkosten ab. Die Klage nahm die Klägerin am 27.3.2015 zurück.
Zuvor erhöhte die Vermieterin für die von ihr und ihrem Ehemann bewohnte Wohnung die Kaltmiete zum 1.7.2014 von monatlich 410 Euro auf 440 Euro. Den Antrag auf Berücksichtigung entsprechend höherer Bedarfe für Unterkunft und Heizung lehnte der Beklagte mit einem "Bescheid über die Ablehnung von Leistungen" ab; denn eine Kaltmiete von 440 Euro sei nicht angemessen. Es werde daher "weiterhin" die Kaltmiete in Höhe von 410 Euro im Rahmen der Leistungen berücksichtigt werden (Bescheid vom 30.6.2014). Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein.
Für den Bewilligungsabschnitt vom 1.11.2014 bis zum 31.10.2015 bewilligte der Beklagte der Klägerin Grundsicherungsleistungen in Höhe von 294,66 Euro monatlich ua unter Berücksichtigung einer angemessenen (anteiligen) Kaltmiete in Höhe von 205 Euro (Bescheid vom 11.11.2014), änderte diesen für die Zeit vom 1.2. bis 31.10.2015 wegen veränderter Abschläge bei den Heizkosten ab und bewilligte nunmehr 302,35 Euro monatlich (Bescheid vom 27.2.2015).
Der Kreisrechtsausschuss des Beklagten hob den Bescheid vom 30.6.2014 auf und verpflichtete den Beklagten ab dem 1.7.2014 zur Neubescheidung unter der Beachtung der Rechtsauffassung des Widerspruchsausschusses. Es sei eine Kaltmiete von 418 Euro als angemessen zu berücksichtigen. Im Übrigen wies er den Widerspruch zurück. Den Widerspruchsbescheid vom 13.5.2015 stellte der Beklagte gegen Empfangsbekenntnis an den Prozessbevollmächtigten der Klägerin (einen Rechtsanwalt) zu. Der Widerspruchsbescheid war mit der Belehrung versehen, es könne innerhalb von einem Monat ab Zustellung Klage erhoben werden. Der Prozessbevollmächtigte stellte mit Schreiben vom 18.5.2015 unter Bezugnahme auf den Widerspruchsbescheid einen Kostenantrag beim Beklagten.
Am 18.6.2015 um 10.53 Uhr übersandte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin eine E-Mail an das SG und teilte mit, dass die Übersendung einer Klageschrift per Telefax nicht möglich gewesen sei. Er übersandte im Anhang eine eingescannte, unterschriebene Klageschrift gegen den Bescheid vom 30.6.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13.5.2015 im Portable Document Format (PDF). Die Geschäftsstelle des SG druckte den Anhang zur E-Mail aus und versah ihn mit einem Eingangsstempel vom selben Tag. Das Original der Klageschrift ging am 19.6.2015 per Post ein.
Noch vor Erhebung der Klage änderte der Beklagte gestützt auf § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) die Bescheide vom 28.10.2013, 11.11.2014, 26.1.2015 und 27.2.2015 und bewilligte der Klägerin "aufgrund des Widerspruchsbescheides" für die Zeit vom 1.7.2014 bis zum 31.10.2015 Grundsicherungsleistungen in Höhe von 306,35 Euro unter Berücksichtigung ua einer Kaltmiete in Höhe von 209 Euro (Bescheid vom 3.6.2015). Für die Zeit ab dem 1.7.2015 änderte er die Bewilligung wegen einer Veränderung des Einkommens erneut und bewilligte Leistungen in Höhe von 297,86 Euro monatlich (Bescheid vom 27.7.2015).
Das SG und das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz haben die Klage als unzulässig angesehen (Gerichtsbescheid des SG vom 23.11.2015; Urteil des LSG vom 4.8.2016). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG unter Bezugnahme auf die Entscheidungsgründe des SG ausgeführt, die Übersendung einer einfachen E-Mail mit einem angehängten PDF-Dokument genüge nicht dem Schriftformerfordernis des § 90 Sozialgerichtsgesetz (SGG), auch wenn der Anhang im Gericht noch am Tag des Fristablaufs ausgedruckt vorlegen habe. § 65a SGG, der die formwirksame Klageerhebung auf elektronischem Weg von einer qualifizierten Signatur abhängig mache, sei abschließend und schließe eine andere...
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